K. L. v. Knebel: Philomela in Tiefurt

Karl Ludwig von Knebel: Philomela in Tiefurt

Hast du die Klagen gehört, die jüngst vom einsamen Aste
An den Ufern der Ilm Philomela tönte? Mir kamen
Einige Laute davon; vernimm von ihnen den Nachhall! —

Wie so blätterlos ist der Hain! Wie leer das Gesträuche!
Keine Stimm‘ ertönt, als nur der Raben und Elstern
Heisres Geschrei. Es klettert und pfeift die diebische Meise
An den Orten, die sonst nur meine Lieder erfüllen.
Ach, wohin ist der Geist der Liebe geflohen? Wo ist er! —
Und wo soll ich ihn finden? Wer wird ihn wieder erwecken?
10 Wenn wir umher im Kreise der schattigen Ilmen und Pappeln
Saßen und uns erweckten zu zärtlichen Liedern: ein Ton sucht
Lockend den andern; es schlägt von der Brust antwortenden Sängers
Läuter die Liebe zurück ans Herz des Rufenden; wechselnd
Streitet im brünstigen Zwist der Gesang: es schallet vom Felsen,
Schallt aus dem Haine zurück: es hebt der hellere Bach sich
Liebeschwellend empor; von atmenden Blüten und Zweigen
Haucht balsamischer Duft umher durch die Lüfte, und leise
Regt sich die schweigende Nacht mit taubefeuchteten Schwingen.
Aber der Menschen holdes Geschlecht; wie seh‘ ich sie traurig
20 Jene Gefilde durchwandeln! — Wie fremd am Blick und von Ansehn!
Wohin kehrt sich ihr trüberes Äug‘? Ach, hin zu den Szenen
Voll des Mordes und Bluts! — O ruft die Sinne zurücke!
Warum sie tauchen in Gräul und Elend der Menschen? Wer wird euch
Künftig erwecken die Brust zu sanftern, holdern Gefühlen?
Wird dann das beste Glück des Lebens, die Freiheit, so teuer,
So mit Strömen des Bluts erkauft? Wer wird sie erkennen.
Wer die schmalere Grenze, wo Recht sich scheidet vom Unrecht?
Blicke des Argwohns begegnen dem Freund aus dem Auge des Freundes;
Jedes festere Band des Lebens knüpfet und löst sich
30 Nur durch Unwill‘ und Wut. Ich sehe den stilleren Weisen
Einsam wandeln; sein Haupt deckt trüber Tiefsinn; es hänget
Zitternd über demselben das Schwert der Entscheidung; ihm tönen
Nicht mehr die Lieder ins Ohr der zarten Liebe, der Freundschaft,
Der erweckten Natur, des süßen traulichen Umgangs.
Und das blühende Mädchen! Ihr Hauch belebte die Wüste,
Wenn die Wüste beleben sich könnte. Von ihrem Gesange
Übersteigen die Strahlen die meinigen. Wäre zur Blume
Sie des Haines geschaffen, kein Blümchen glich ihr an Reize,
Keines an himmlischem Glanz noch Duft. Sie senket ihr Auge
40 Nieder vom nackten Gipfel der hoch erhabenen Ulme
Auf das verödete Land, und in sich ersterben die Strahlen. —
Also sang vom schwankenden Ast weissagend der Vogel,
Und der Nordwind verstummte; es nahten sich lindernde Weste.
Aber es schwebt‘ in der Höh‘ mit ausgespreiteten Rudern,
Und mit gierigem Aug‘ ein Geier, dürstend nach Blute.
Dieser ersah den lieblichen Sänger, und stürzt von der Höhe,
Fasst und drückt ihn gewaltig mit krummgespitzeter Klaue,
Reißt ihm die blutende Brust auf, und hackte begierig sein Leben.
Nicht ein leiser wimmernder Laut ward weiter gehöret;
50 Es entfloh die Seele mit stiller Wehmut von dannen.