Erzählverse: Der Hexameter (173)

Ich habe gerade auf lyrikline.org Marie Luise Kaschnitz ihr Ahasver lesen hören, also auch diese drei Verse:

 

Im Bauch seiner Teekanne sah er sich selbst, verzerrt
Mit gewaltig lachendem Munde. Er nahm den Hörer auf
Die schwarze Muschel rauschte wie das Meer.

 

Und da steckt ein schöner Hexameter drin:

Sah er sich / selbst, ver- / zerrt, || mit ge- / waltig / lachendem / Munde.

Den macht Kaschnitz nicht unbedingt im Vortrag hörbar, aber ich finde, die zweite Vershälfte verrät ihn durch die Wortwahl – „mit gewaltig lachendem Munde“ klingt einfach unglaublich stark nach Hexameter: Anschaulich, große Worte, Partizipien …

 

Harte Gewältiger, gleißender Haut, mit lachenden Zähnen
Zwischen dem schwelgenden Munde, Verzehrende, Flammengeschwister,

 

Schreibt Rudolf Borchardt in seiner „Klage der Daphne“; und solcher Beispiele fänden sich viele …

Erzählformen: Das Distichon (108)

Der zweite Vers des Distichons, der Pentameter, hat bekanntlich diese Form:

— ◡ (◡) / — ◡ (◡) / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

Die beiden dreisilbigen Versfüße in der ersten Vershälfte können also gegen zweisilbige ausgetauscht werden, die beiden in der zweiten Vershälfte aber nicht! Da die Bewegung der zweiten Vershälfte kennzeichnend für Pentameter wie Distichon ist, sind Abweichungen von dieser Form selten. Aber: Es gibt sie! Betroffen ist fast ausschließlich der vierte Versfuß, der, wenn er zweisilbig daherkommt, die Grundbewegung sehr viel weniger angreift, als ein zweisilbiger fünfter Fuß das täte. Es geht also um folgenden Vers:

— ◡ (◡) / — ◡ (◡) / — || — ◡  / — ◡ ◡ / —

In der Anfangszeit des deutschen Distichons war er gar nicht so selten – Klopstocks „Die künftige Geliebte“, eine der allerersten deutschen Elegien (geschrieben 1747), hat unter 49 Pentametern zwölf dieser Form, also 24,5% – das ist jeder vierte Pentameter!

Je stärker das deutsche Distichon an seinem antiken Vorbild ausgerichtet regelsicher wurde, desto seltener wurden diese Pentameter; Klopstock hat sie sich aber nie ganz ausreden lassen, seine fünfzig(!) Jahre nach der „künftigen Geliebten“ geschriebenen „Winterfreuden“, die in 16 Distichen beklagen, dass der 75 Jahre alte Dichter das Schlittschuhlaufen aufgeben muss(!!), haben noch zwei solche Pentameter (12.5%)!

Während diese Pentameter danach bei den meisten Dichtern gar nicht oder allerhöchstens als seltene Lizenz vorkamen, haben einige sie auch ganz unbefangen gebraucht: Achim von Arnims 1808 erschienene „Elegie aus einem Reisetagebuche in Schottland“ hat unter 63 Pentametern 22 dieser Form, das sind stolze 35%! Er wird also gewusst haben, warum er über den Text die Anmerkung setzte „Der Verfasser bittet, diese Verse nicht für Hexameter und Pentameter zu halten.“ (Es sind natürlich trotzdem welche.)

Im 20. Jahrhundert änderte sich in dieser Hinsicht nicht viel, die Verfasser schrieben aber wieder etwas weniger streng. Schaut man sich zum Beispiel Anton Wildgans‘ „Panische Elegie“ (1925) an, finden sich unter 61 Pentametern sieben dieser Form, was 11,5% entspricht.

Wieder hundert Jahre später, also heute, schreibt Jan Wagner Elegien, deren Hexameter und Pentameter zwar als solche erkennbar sind, sich aber sehr eigenständig geben; in ihnen ist  durchaus auch einmal der fünfter Fuß eines Pentameters zweisilbig! Das aber, wie gesagt, ist ein starker Eingriff. Der zweisilbige vierte Fuß dagegen findet sich seit jeher auch im Epigramm, wo er durch die Knappheit der Form stärker auffällt! Ein Beispiel findet sich beim Verserzähler unter Das Distichon 45; ein anderes bietet das einzige mir bekannte Distichon Theodor Fontanes:

 

Unter ein Bildnis Adolph Menzels

Gaben, wer hätte die nicht? Talente – Spielzeug für Kinder,
Erst der Ernst macht den Mann, erst der Fleiß das Genie.

 

Trotz des „regelwidrig“ verkürzten Fußes ein überzeugendes Epigramm! Also, wer selbst Distichen schreibt, kann sich dieser Möglichkeit sicher bedienen – aber vorsichtig und nur in seltenen Fällen, und möglichst solchen, in denen damit eine Darstellungsabsicht verbunden und erkennbar ist!

Erzählformen: Das Distichon (107)

An …

Musenverachtender Mann! Du tatest der Taten, wie alle
Musen sie singen, allein deine besingen sie nicht!
Deine, so löblich sie sind, so rühmlich, deine verschwinden,
Musenverachtender Mann, in der Vergessenheit Meer!

 

Ludwig Gleim war nicht dafür bekannt, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen; und auch nicht als Distichenschreiber. Hier tut er beides, und das durchaus anziehend und mit Schwung; spannend zu hören zum Beispiel, wie das dreimalige „deine“, das als Pronomen nicht so recht hebungstauglich ist, über den Inhalt „betonungsberechtigt“ wird und so am Ende genau da steht, wo es hinpasst und hingehört; dreimal.

Erzählverse: Der Blankvers (124)

Hugo von Hofmannsthals „Glückliches Haus“ ist ein kurzer Text, nur sechzehn Verse:

 

Auf einem offenen Altane sang
Ein Greise orgelspielend gegen Himmel,
Indes auf einer Tenne, ihm zu Füßen,
Der schlanke mit dem bärtigen Enkel focht,
Dass durch den reinen Schaft des Oleanders
Ein Zittern aufwärtslief; allein ein Vogel
Still in der Krone blütevollem Schein
Floh nicht und äugte klugen Blicks herab.
Auf dem behauenen Rand des Brunnens aber
Die junge Frau gab ihrem Kind die Brust.

Allein der Wanderer, dem die Straße sich
Entlang der Tenne ums Gemäuer bog,
Warf hinter sich den einen Blick des Fremden
Und trug in sich – gleich jener Abendwolke
Entschwebend, über stillem Fluß und Wald –
Das wundervolle Bild des Friedens fort.

 

Das hilft sicherlich, einen Eindruck von Abgeschlossenheit und Vollkommenheit zu erzeugen, und auch der Inhalt, der nichts weiter verlangt als Beschreibung, ist kein Hindernis in dieser Hinsicht. Aber trotzdem: Wie Hofmannsthal hier die Blankverse gestaltet, mit gelegentlicher doppelt besetzter Senkung und allem. ist schon sehr beeindruckend!

Erzählverse: Der Hexameter (172)

Das Hinterzimmer (meint: der Menüpunkt „Gesammeltes“) ist wieder einmal gewachsen, an verschiedenen Stellen; eine davon ist Der heroische Vers von Franz Ficker, eine knappe (und damit als Einführung weniger geeignete) Erläuterung des Hexameters, die auch durch ihre Bestimmtheit beeindruckt – wie die Verfasser im 19. Jahrhundert halt gerne klangen … Ein Beispiel:

Der Schlussfall des Hexameters muss vernehmbar sein.

Ein Satz wie in Stein gemeißelt. Ausgeführt wird er immerhin ein wenig:

Man darf daher nicht willkürlich, wie es sich gibt, und wo, den Vers beschließen, oder mit unvollendeten Gliedern von Zeile zu Zeile herüberspringen, und noch weniger den Vers mit der Hälfte eines Worts schließen; sondern muss darauf bedacht sein, dass an der Stelle ein Satzteil mit einem gewichtigeren Worte sich ende, obgleich keine Interpunktion nötig ist.

Das ist in seiner Klarheit insofern willkommen, als dass es keine Schwierigkeiten geben dürfte, sich dazu zustimmend oder ablehnend zu verhalten. Wobei die Frage der „Vers-Integrität“ ja durchaus ihre Berechtigung hat!

 

„Welch eine Stimme war dies?!“, aufschrie die gefolterte Seele,
Aber der Schrei blieb stumm und gehetzt, geknebelt, von Sinnen
Stürzte der Pfarrer zum Fenster und keuchte nach Atem. Da riß am
Finsteren Rande des Himmels vom wütenden Zerren des Sturmwinds
Plötzlich die Schwärze entzwei, und inmitten des klaffenden Spaltes
Stieg aus den wogenden Sümpfen der faulig beleuchteten Nebel
Rund ein Entsetzliches auf, eine Brunst von der schmutzigen Röte
Fieberkranken Urins, eine Scheibe, ein Ball, eine Blase!

 

So zu finden in Anton Wildgans‘ „Kirbisch“. Ist der „Schlussfall“ des dritten Verses da inhaltlicher Kommentar – nicht nur die Schwärze reißt entzwei, auch der Satz – oder einfach schlechtes Verswerk?!

Erzählverse: Der Hexameter (171)

Doch, dass man nicht dich erblicke, verhüllst du dich eben in Nebel,
Nächtlich tagender, Leben vernichtender, Leichenverscharrer,
Geh, unleidlicher, geh nur geschwind! Da sagt er: Ich geh schon,

 

Drei Hexameter, in denen Friedrich Rückert in seinem Liedertagebuch von 1853 den November anredet; welcher auch antwortet, länger, hier aber nur kurz zu Wort kommt. Denn es geht eigentlich um den mittleren der drei Verse, der zu knapp wie möglich daran vorbeischrammt, kein Hexameter

Nächtlich / tagender, | Leben || ver- / nichtender, | Leichen- / verscharrer,

Der eigentliche Einschnitt ist vorhanden, aber unhörbar, die hörbaren Einschnitte liegen hinter den metrischen Einheiten und teilen den Vers in drei nur so eben nicht gleiche Teile:

—  ◡ / — ◡ ◡ | — ◡ ◡ / — ◡ ◡ | — ◡ ◡ / — ◡

Jeder der drei Teile hat zwei Hebungen und zwei Senkungen, die Senkungen sind aber leicht unterschiedlich gefüllt. Ich glaube, das ist die äußerste Grenze dessen, was noch als Hexameter zu zählen Anspruch hat?! Was Rückert selbstverständlich besser wusste als alle anderen; manchmal haut er solche Verse raus, und oft scheint es: aus reinem Übermut …

Zum Vergleich ein Vers von Jens Baggesen, der vielleicht schon auf der anderen Seite der Grenze steht:

Zwar ein bescheidener, | frommer, und sittsamer, | aber ein Mann doch.

Ein Fall, wo dieses Muster in bewusster Gestaltungsabsicht benutzt wird, ist ein in Der Hexameter (37) erwähnter Vers Mörikes!