Der zweite Vers des Distichons, der Pentameter, hat bekanntlich diese Form:
— ◡ (◡) / — ◡ (◡) / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —
Die beiden dreisilbigen Versfüße in der ersten Vershälfte können also gegen zweisilbige ausgetauscht werden, die beiden in der zweiten Vershälfte aber nicht! Da die Bewegung der zweiten Vershälfte kennzeichnend für Pentameter wie Distichon ist, sind Abweichungen von dieser Form selten. Aber: Es gibt sie! Betroffen ist fast ausschließlich der vierte Versfuß, der, wenn er zweisilbig daherkommt, die Grundbewegung sehr viel weniger angreift, als ein zweisilbiger fünfter Fuß das täte. Es geht also um folgenden Vers:
— ◡ (◡) / — ◡ (◡) / — || — ◡ / — ◡ ◡ / —
In der Anfangszeit des deutschen Distichons war er gar nicht so selten – Klopstocks „Die künftige Geliebte“, eine der allerersten deutschen Elegien (geschrieben 1747), hat unter 49 Pentametern zwölf dieser Form, also 24,5% – das ist jeder vierte Pentameter!
Je stärker das deutsche Distichon an seinem antiken Vorbild ausgerichtet regelsicher wurde, desto seltener wurden diese Pentameter; Klopstock hat sie sich aber nie ganz ausreden lassen, seine fünfzig(!) Jahre nach der „künftigen Geliebten“ geschriebenen „Winterfreuden“, die in 16 Distichen beklagen, dass der 75 Jahre alte Dichter das Schlittschuhlaufen aufgeben muss(!!), haben noch zwei solche Pentameter (12.5%)!
Während diese Pentameter danach bei den meisten Dichtern gar nicht oder allerhöchstens als seltene Lizenz vorkamen, haben einige sie auch ganz unbefangen gebraucht: Achim von Arnims 1808 erschienene „Elegie aus einem Reisetagebuche in Schottland“ hat unter 63 Pentametern 22 dieser Form, das sind stolze 35%! Er wird also gewusst haben, warum er über den Text die Anmerkung setzte „Der Verfasser bittet, diese Verse nicht für Hexameter und Pentameter zu halten.“ (Es sind natürlich trotzdem welche.)
Im 20. Jahrhundert änderte sich in dieser Hinsicht nicht viel, die Verfasser schrieben aber wieder etwas weniger streng. Schaut man sich zum Beispiel Anton Wildgans‘ „Panische Elegie“ (1925) an, finden sich unter 61 Pentametern sieben dieser Form, was 11,5% entspricht.
Wieder hundert Jahre später, also heute, schreibt Jan Wagner Elegien, deren Hexameter und Pentameter zwar als solche erkennbar sind, sich aber sehr eigenständig geben; in ihnen ist durchaus auch einmal der fünfter Fuß eines Pentameters zweisilbig! Das aber, wie gesagt, ist ein starker Eingriff. Der zweisilbige vierte Fuß dagegen findet sich seit jeher auch im Epigramm, wo er durch die Knappheit der Form stärker auffällt! Ein Beispiel findet sich beim Verserzähler unter Das Distichon 45; ein anderes bietet das einzige mir bekannte Distichon Theodor Fontanes:
Unter ein Bildnis Adolph Menzels
Gaben, wer hätte die nicht? Talente – Spielzeug für Kinder,
Erst der Ernst macht den Mann, erst der Fleiß das Genie.
Trotz des „regelwidrig“ verkürzten Fußes ein überzeugendes Epigramm! Also, wer selbst Distichen schreibt, kann sich dieser Möglichkeit sicher bedienen – aber vorsichtig und nur in seltenen Fällen, und möglichst solchen, in denen damit eine Darstellungsabsicht verbunden und erkennbar ist!