Erzählverse: Der Blankvers (98)

Blankverse werden eher selten für kurze oder gar epigrammatische Gedichte genutzt; aber leisten können sie auch das. Ein Beispiel liefert Paul Wertheimer mit „Seelen“:

 

Du weißt, wir bleiben einsam: du und ich,
Wie Stämme, tief in Gold und Blau getaucht,
Mit freien Kronen, die der Seewind küsst …
So nah, doch ganz gesondert, ewig zwei.
Und zwischen beiden webt ein feines Licht
Und Silberduft, der in den Zweigen spielt,
Und dunkel rauscht die Sehnsucht her und hin …

 

Vielleicht ein „großes Wort“ zu viel, und vielleicht auch nicht und das Bild fängt sie alle auf; in jedem Fall aber durch die ausschließlich männlichen Versschlüsse und die ruhige Versbewegung ein Gedicht, dass trotz des gereihten Blankverses den Eindruck von Geschlossenheit vermittelt; das sich rundet?!

Das Königreich von Sede (101)

Als Schemel nachts zum Graben geht,
Zum Graben kommt, am Graben steht:
Erwarten ihn drei Frösche.

Als Schemel seine Laute stimmt,
Mit Sorgfalt stimmt und Zeit sich nimmt:
Gedulden sich drei Frösche.

Als Schemel singt, das alte Lied
Vom Tag, da König Boden schied:
Erkennen ihn die Frösche.

Als Schemel heim zum Schlosse geht,
Das still und nachtgeborgen steht:
Begleiten ihn drei Frösche.

Hagedorns Wunsch

Epigramme sagen selten etwas völlig neues; meistens sind es nur neue Fassungen längst bekannter Einsichten, und hat man eines gelesen, kommen einem sofort ähnliche Texte in den Sinn. Das ist nichts schlechtes!

Zum Gegenstand des Übungsdistichons aus dem vorgestrigen Eintrag etwa fiel mir ein Verspaar Friedrich von Hagedorns ein – kein Distichon, sondern ein den damaligen Sitten entsprechendes Alexandriner-Couplet (Siehe dazu auch: Das Alexandriner-Couplet)!

 

Wunsch

Langweiliger Besuch macht Zeit und Zimmer enger;
O Himmel, schütze mich vor jedem Müßiggänger!

 

Das ist, einmal, farbiger und bildreicher als die sehr blasse Aussage des Distichons Heinrich Viehoffs; es ist aber auch, andererseits, ein wenig aufgeblasen, denn eigentlich ist doch im ersten Vers schon alles gesagt?! Der zweite muss sein, weil die Form ihn verlangt, aber er fügt dem Inhalt kaum noch etwas hinzu. Abgesehen davon natürlich, dass er das „Rätsel des Reims“ auflöst – wie löst der Verfasser das Gleichklang-Versprechen ein, das er mit „enger“ gegeben hat? Aha! „Müßiggänger“, und das ist dann eben doch ein schöner, milde überraschender und sehr gut passender Begriff …

Prosa. Poesie. Rhythmus.

Ich lese dieser Tage wieder viel in Schulbüchern, heute: in Karl Wilhelm Ludwig Heyses „Kurzgefasste Verslehre der deutschen Sprache, zum Schul- und Hausgebrauch“ (erschienen 1825).

Heyse fängt in deutscher Gründlichkeit bei den Anfängen an und arbeitet sich dann vor; unter dem schon für sich & und in seiner Nachdrücklichkeit anziehenden Titel dieses Eintrags – „Prosa. Poesie. Rhythmus.“ – liest man:

Die Sprache des Bedürfnisses und der Wissenschaften nennen wir Prosa. In ihr tritt die materielle Seite der Sprache mehr in den Hintergrund, und der Gedanke überwiegt. Sie hat die Mitteilung von Zwecken und Interessen des gemeinen Lebens oder die Darlegung bestimmter Erkenntnisse zu ihrem Gegenstand und muss, um ihren Zweck der Mitteilung oder Belehrung desto sicherer und vollkommener zu erreichen, vor allem nach möglichster Richtigkeit und Deutlichkeit in Ausdruck, Anordnung und Verbindung der Worte nach den Gesetzen des Denkens streben.

Die Poesie hingegen hat, wie jede Kunst, die Schönheit zum Hauptgesetz. Schönheit aber wird nur erreicht durch Harmonie des Inhalts mit der Form. Die Form muss daher auch schön, das heißt kunstmäßig geregelt sein, um der Idee, deren Ausdruck sie dient, angemessen zu sein. Diese kunstmäßige Gestaltung der Sprache, als der Form für die poetische Idee, wird am vollständigsten bewirkt durch das, was die Griechen Rhythmus, die Römer Numerus nennen (ein ganz entsprechendes deutsches Wort fehlt uns). Das Wesen des Rhythmus aber besteht in einem ebenmäßigen (symmetrischen) Verhältnis der Sprachelemente nach ihrem extensiven und intensiven Wert, das ist nach ihrer quantitativen Ausdehnung in der Zeit und dem qualitativen Grad ihres Tones, wodurch die Sprache nach ihrer körperlichen Seite geregelt und ihr Wohllaut erhöht wird.

Uff. Da wird kein Schulbuch geschrieben – da werden die innersten Gesetze der Welt verkündet … So klingt es jedenfalls; in Wirklichkeit ist das ein an manchen Stellen wackliges Gebäude. Und trotzdem eines, das in Augenschein zu nehmen lohnt, denn irgendeine Bestimmung dieser Begriffe muss sein, sonst könnte man auch gleich auf sie verzichten! Und bedenkenswert sind Heyses Ansichten allemal.

Erzählformen: Das Distichon (80)

Heinrich Viehoff veröffentlichte 1860 seine „Vorschule der Dichtkunst. Theoretisch-praktische Anleitung zum deutschen Vers- und Stophenbau, mit vielen Aufgaben und beigegebenen Lösungen“. Wobei der „praktische Anteil“, also die Aufgaben und Lösungen, einen sehr ernstgemeinten und umfangreichen Teil des Buches bildet – alleine für das epigrammtisch verwendete Distichon sind 67 Übungen aufgeführt! Ein Beispiel, erst die Aufgabe, dann die Lösung:

 

23. Die schlimmsten Diebe

Ihr verschließt euer Haus vor jeder Art von Dieben, nur nicht vor den schlimmsten, die euch um die Zeit bestehlen.

23. Die schlimmsten Diebe

Sorglich verschließt ihr das Haus jedweder Gattung von Dieben,
Nur nicht der schlimmsten Art, die um die Zeit euch bestiehlt.

 

Wobei diese „Lösung“ keineswegs als eine bestmögliche zu verstehen ist! Viehoff, ganz Pädagoge, schreibt dazu im Vorwort in Bezug auf die Frage, warum denn nicht Beispiele „unserer ersten Dichter“ gewählt wurden:

Wenn es auf praktische Übungen ankommt, so ist es nicht pädagogisch, nicht methodisch, den Anfänger in einer Kunst auf Schritt und Tritt durch die Höhe des vorgehaltenen Ideals zu demütigen und zu entmutigen. Nur das Ziel, das uns erreichbar dünkt, lockt uns vorwärts, und um so stärker, je näher es winkt, wär’s auch mitunter nur optische Täuschung. Die angehängten Lösungen sollen dem Lehrling zeigen, was vorläufig, auf der Stufe, wo er eben steht, von ihm erwartet und verlangt wird. Größtenteils aus meinen Übungen, unter Bei- und Nachhilfe des Lehrers hervorgegangen, tragen sie mehr als Gedichte, die man unseren Klassikern entnommen hätte, die Bürgschaft in sich, dass die Aufgaben nicht zu hoch gegriffen sind, nichts auf dem jedesmaligen Standpunkt des Lehrlings Unlösliches verlangen.

Und das ist, auch jenseits der Schule und des 19. Jahrhunderts, eine sehr vernünftige Ansicht, der man sich, schreibt man sich heute in die Distichen ein, nicht verschließen sollte: der Weg ist lang, man gehe einen Schritt nach dem anderen.

Erzählverse: Der Hexameter (159)

Ich habe mir heute, zum ersten Mal seit Jahren, ein Buch gekauft; für einen Euro gab es aus den Magazinbeständen einer Stadtbibliothek „Sämtliche poetische Werke“ von Johann Peter Uz zu erwerben, einen Nachdruck der entsprechenden Ausgabe von 1890. Schon erstaunlich, was die früheren Leser dieser Stadtbibliothek so alles angeboten bekommen haben …

Im Band selbst findet sich neben den Gedichten von Uz (der, auch wenn er heute vergessen ist, ein guter Dichter war!) viel anderes Wissenswertes, so der Hinweis auf ein Ode von Johann Jacob Bodmer, der gegen die anakreontischen Anwandlungen Uz‘ anschreibt, hier: gegen das Weintrinken das Wassertrinken als überlegen beschreibt.

 

Sieh mich an, ich trinke die Flut des sprudelnden Baches,
Was ich für fröhliche Stunden da trinke!
Süße, nicht brausende Lust, und der ich mir selber bewusst bin,
Die mir nicht unterm Genusse verschwindet.

 

Inhaltlich sage ich da nichts zu … Die Verse sind nicht schlecht gemacht, sowohl die Hexameter als auch die ihnen beigesellten daktylischen Vierheber (eine andere Art von „Zweivers“ als das elegische Distichon aus Hexa- und Pentameter). Was auch meint: Wenn man sie laut liest, haben sie Schwung und eine klar geformte Bewegungslinie!

Eigentlich verträgt sich der Hexameter mit so gut wie allen „Zweitversen“ … Einfach selbst versuchen und ein eigenes so gestaltetes Verspaar ins Leben rufen – es lohnt sich!

Erzählverse: Das Distichon (79)

Friedrich Gundolf hat in Bezug auf Goethes „Römische Elegien“ und „Venetianische Epigramme“ einmal das hier zur „verschiedenen Behandlung des Distichons in den Elegien und in den Epigrammen“ geschrieben:

Hexameter und Pentameter bilden bei den Elegien eine ineinandergreifende Einheit, mit mehreren EInheiten ihresgleichen zu einem Ganzen verknüpft. Der Pentameter führt weiter, unterstreich, betont oder verdeutlich, was im Hexameter angelegt ist, er läuft in derselben gedanklichen Richtung weiter, in derselben Welle, und wie Pentameter auf Hexameter, so folgt Distichon auf Distichon. In den Epigrammen ist dagegen entweder der Hexameter dem Pentameter antithetisch gegenübergestellt, wie den zweizeiligen, oder eine Gruppe von Distichen einer anderen, wie bei den mehrzeiligen, oder der pointierte Schlussvers dem ganzen Gedicht.

Soweit verständlich und eigentlich nicht nur bei Goethe anzutreffen, sondern allgemein. Gundolf weiter:

Diese Gegenüberstellung beruht entweder auf einer einfachen Antithese zweier Anschauungen oder Begriffe oder auf der Antithese einer Lehre und einer Anschauung, einer Nutzanwendung und einer Erfahrung; oder eine Pointe wird herausgearbeitet in Gestalt einer Überraschung, welche durch Frage oder Erwartung vorbereitet wird. Allen drei Typen der Gegenüberstellung gemeinsam ist die Spannung zwischen der Vorstellung und dem Begriff, denn selbst wo zwei Vorstellungen oder Namen konfrontiert werden, kommt es auf die Spannung zwischen Geschehenem und Gedachtem, Erfahrung und Lehre an: Dies ist Goethes Tribut an die Gattung Epigramm.

Und dann, Goethes Vorgehen noch einmal knapp und klar zusammenfassend:

Aber Goethe gewinnt im Gegensatz zu anderen Epigrammatikern diese Spannung nicht durch Zusammenzwängen zweier heterogener Dinge, sondern durch Spaltung und Entfaltung eines Zusammengehörigen in verschiedene seiner Elemente.

Darüber lässt sich nachdenken, am besten über die Venetianischen Epigramme gebeugt!  Über deren Inhalt Gundolf in Bezug auf Goethe noch einen überraschenden Satz zu sagen weiß:

Nicht sein Ich, sondern sein Selbst wird ausgesprochen.