Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (14)

Conrad Ferdinand Meyers „Der Kamerad“ ist ein eigenartiger Text!

 

Mit dem Tode schloss ich Kameradschaft.
Über einem vollen Humpen saßen
Oft wir nächtens und philosophierten.
Auch zusammen gingen wir spazieren,
Lauschten mit elegischen Gefühlen
Nach dem Pilgerruf der Abendglocke.
Aber männlich auch an meiner Seite
Stand der Kamerad und sekundierte,
Oder wann ich im Gebirg verirrt war,
Hangend über schwindelnd tiefem Abgrund,
Sprach er: „Blick mir in das Auge ruhig!“
Und ich tat es und ich war gerettet.
Lange standen wir auf gutem Fuße,
Bis mich volles Leben überströmte
Glühend warm mit unbekannter Fülle,
Und mir schauderte vor meinem Freunde …
Als das Liebchen heute mir am Hals hing,
Über seine Schulter weg erblickt ich
Meines Kameraden leichten Umriss
Auf dem Abendhimmel, und er grollte:
„Bin ich dir verleidet? Deine feigen
Lippen meiden meinen schlichten Namen?
Ist das hübsch von einem Kameraden?“
In demselben Augenblick umarmte
Liebchen mich und rief: „So möcht ich sterben!
Komme, Tod, und raub mich, Tod, im Kusse!“
Und der Tod, von schwellend jungen Lippen
Heiß und leidenschaftlich angerufen,
Hörte seinen Namen mit Vergnügen.
Über sein geheimnisvolles Antlitz
Glitt ein Leuchten, und er schied in Minne.

 

– Eigentlich sind, gerade am Anfang, zu viele Umstellungen von Satzgliedern drin, und sie wirken, als wären sie nötig, um das Metrum zu erfüllen, was einem Text ziemlich schaden kann?! Gegen Ende hin wird es weniger, und der Vers gewinnt eine große Überzeugungskraft, er gelangt, wie bei Meyer oft: zu einem Gefühl von Klarheit und Unausweichlichkeit.

Wortvergnügt (5)

Ich habe vor Jahren ein Distichon geschrieben, in dem das Wort „weltenzerwinternd“ vorkommt; das recht wohlwollend aufgenommen wurde! Der Weg dahin ist der übliche, die Verbindung von Bekanntem und Unbekanntem.

Wo es ein zusammengesetztes Wort gibt, wie etwa „überwintern“; da ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch das entsprechende Grundwort benutzt wird oder wurde, selbst wenn man selbst es nicht im Wortschatz hat. Hier wäre das „wintern“, und siehe da, der Online-Grimm kennt es! Und in mehr als einer Bedeutung, als Beispiel sei winterliches Wetter bringen, rauh und winterlich sich gebärden angeführt, samt Vers-Beleg bei Johann Heinrich Voß: Stolberg, trotz dem Orkan, wie er wintere.

An Zusammensetzungen wird angeführt: auswintern, durchwintern, einwintern, entwintern, nachwintern, überwintern, verwintern, zuwintern. Wieder Voß: Denn er duftet linden März /
Und entwintert euch das Herz.
Auch die anderen Einträge lohnen das Nachlesen!

Von da aus ist es nicht mehr weit bis zu einer Zusammensetzung mit eher unüblicher Vorsilbe. „Umwintern“ – warum nicht? Oder eben „zerwintern“. Dann noch der Schritt zum Partizip – fertig! Das „Welten“ davor kann man getrennt schreiben oder ins Wort ziehen – „Welten zerwinternd“ oder „weltenzerwinternd“, das macht keinen großen Unterschied, denke ich.

Und wem das noch nicht genügt, und angesichts der Jahreszeit auch nicht mehr recht zu passen scheint – wo es ein „wintern“ gibt, ist ein „sommern“ nicht fern! Der Grimm kennt es jedenfalls, Voß zum Dritten: der nun sommernden Heitre Beginn. Wobei „Heitre“ gleichfalls ein feines Wort ist: Klarheit, Glanz, Helligkeit, sagt der Grimm … Und wieder die Vorsilbe gewählt, hm, diesmal vielleicht „um-„?

Früher Vögel Gesang, der den klammen Stift mir umsommert.

Was Unsinn in Hexameterform ist, aber gerade aus der Tastatur fiel, als ich auf ein Beispiel neugierig war; und so schlecht gar nicht klingt. Wobei, sagt die Suchmaschine, „umsommern“ durchaus vorkommt; bei Celan zum Beispiel! Aber am besten selbst schöpfen nach genau diesem Muster: Ein gerade noch bekanntes Wort suchen; und dann einen Schritt darüber hinausgehen. Wenn das Ergebnis, das neugeschaffene Wort, den begeistert, der es geschaffen hat: ist die Wahrscheinlichkeit groß, es gelingt auch bei anderen!

Das Königreich von Sede (87)

In der Nacht ein erstes Dämmern,
Das der alte Narr des Königs,
Schlafverlassen, still durchschreitet,
Hin zum Graben, der sein Ziel ist.

Frühling ist’s noch längst nicht; Schemel
Tut, als wäre ihm entgangen,
Dass ein Frosch sich kühnen Sprunges
In der Tasche seiner Jacke
Eingefunden hat, ein wenig
Wärme für sich abzuzweigen …

Hell und heller wird es, Schemel
Steht am Graben in der Kälte,
Ohne Regung, bis der Frosch sich,
Kühnen Sprungs! ins Wasser aufmacht:
Alle hören’s, alle Frösche
Grüßen frohgemut die Sonne.

Erzählformen: Das Distichon (24)

Manche Gedichte versteht man, manche nicht; beides hat seinen Reiz. In Friedrich Rückerts erster „Alters-Erinnerung an Amaryllis“ (seine umworbene Jugendliebe) …

 

Schneeige Frisch‘ und Kühle des Zahns, in rosiger Lippen
Purpurmuschel gefasst, wie Diamant in Rubin!
Lieblich bricht wie des Odems an dir sich die Woge des Wohllauts,
Und ich beneide den Biss, den in den Apfel du tust.

 

… ist das erste Distichon in seiner Formelhaftigkeit sehr gut verständlich; das zweite dagegen? Hm. Aber da gibt es dann sprachlich manche Entdeckung zu machen, im Hexameter zum Beispiel der scheinbar bunt durcheinandergewürfelte Vergleich; und im Pentamter die drei „den“, von denen zwei eine Senkung besetzen, eines aber auf einer Hebungsstelle steht. Was man, ansatzweise, begründen kann: Die zwei sind bestimmte Artikel, das eine aber Relativpronomen und damit vom Sinngehalt deutlich höherwertig, mithin eine schwerere Silbe und hebungsfähiger.

Dass sich die Dichter über derlei durchaus Gedanken gemacht haben, zeigt zum Beispiel der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt, in dem letzter bezüglich eines schillerschen Hexameters aus „Natur und Schule“ anmerkt: „miss- / trauen, der –  Das Relativum sollte doch wohl lang sein, obgleich es Voß sehr oft kurz hat.“ Schiller hat an anderen von Humboldt angesprochenen Stellen geändert; hier griff er aber nur geringfügig ein:

Muss ich dem Trieb misstraun, der leise mich warnt, dem Gesetze,

Also „traun, der“ was man im humboldtschen Sinn immerhin als — — lesen kann statt „-trauen der“, was nur als — ◡ ◡ hörbar gemacht werden kann.

Das ist, glaube ich, wieder so eine Stelle, wo man den Dichtern, die über die von ihnen benutzen Formen auch nachdenken, statt sie nur zu füllen, durchaus auf die Feder schauen kann. Schiller ist in vielerlei Hinsicht von einer gesunden Hemdsärmligkeit, die auch vor dem Artikel in der Hebung nicht zurückschreckt – der Hexameter-Eingang „Der Notwendigkeit“ findet sich als — ◡ ◡ in „Natur und Schule“ nur einige Verse unter dem eben angeführten.

Und nicht, dass ich die vielen tausend Hexa- und Pentameter Rückerts auch nur annährend überblickte; aber in den zweihundert, die ich eben als Stichprobe durchgesehen habe, findet sich kein Artikel in Hebungsstellung, und zumindest gefühlt: auch sonst nirgends. Aber ich achte darauf, demnächst.

Erzählverse: Der Hexameter (135)

Eduard Mörikes Hexameter sind von beeindruckender Körperlichkeit; kaum ein anderer Verfasser hat Verse geschrieben, die so gut sinnlich erfahrbar sind in ihrer Bewegung. Ein schönes Beispiel ist ein Hexameter aus dem „Märchen vom sichern Mann“, der einen Wortfuß der Form ◡ — — — ◡ enthält:

 

Tief aufschnaufend erhebet er sich, sein Buch zuschmetternd.

 

„Sein Buch zuschmetternd“ ist das besagte  ◡ — — — ◡. Wenn man die Längen / Betonungen im Vortrag deutlich hervortreten lässt, hat diese Bewegung, auch in ihrer Gebrochenheit, etwas unheimlich hineinziehendes; das hier noch verstärkt wird durch den Umstand, dass Mörike den fünften Versfuß, als Ausnahme von der eigentlich eisernen Regel (im ganzen „Märchen“ machen das nur vier Verse so), zweisilbig gestaltet und nicht dreisilbig. Das ohnehin seltene ◡ — — — ◡ kommt also auch noch an einer sehr unüblichen Stelle vor!

Damit aber nicht genug: Mörike bereitet dieses sehr eindrückliche Versende durch einen verwandten, aber nicht ganz gleichen Verseingang vor: „Tief aufschnaufend“, — — — ◡! So gewinnt dieser Vers eine runde Geschlossenheit, eine Körperlichkeit, die, wie gesagt: nicht vielen Hexametern zu eigen ist.

Ohne Titel

Am Rand des Wegs: Ein Schneckenhaus,
Bewohnt. Von wem? Das weiß ich nicht;
Doch kräuselt aus dem Schornstein Rauch,
Und in des Abends Stille scherzt
Von Herd und Topf ein Klappern auf.

Erzählformen: Das Madrigal (25)

Ludwig Gleim hat einmal die uralte Geschichte von „Fuchs und Rabe“ nacherzählt:

 

Vogel! sprach ein Fuchs zu einem Raben,
Der auf einem hohen Baume saß
Und in seinem Schnabel einen schönen Fraß,
Einen Käs‘ hielt; welche Stimme musst du haben!
Ei! du bist ja schön!
Solchen Vogel hab‘ ich nie gesehn!
Fremdling, ohne Zweifel, hoch in Ehren,
Deine Stimme möcht‘ ich hören!

Rap, und Rap, und Rap, erschallt
Augenblicklich durch den Wald.
Aus des Sängers aufgemachtem Schnabel
Fällt der Käse nieder vor dem Fuchs;
Und der Schmeichler nimmt ihn flugs!

Fürsten, merkt euch diese Fabel!

 

Wie in (24) und schon häufiger, so auch hier: bunt gemischte Drei-, Vier-, Fünf- und Sechsheber, aber diesmal nicht iambische, sondern trochäische; was für die Klangwirkung doch einen überraschend deutlichen Unterschied macht!

Du da

Verse, geschrieben zu werden verlangende, viele: bewegst du,
Feder, dich? Nimmer! Du liegst, Staub auf dich häufende, da.