Rezension zu „Die Gesundbrunnen“ (A. W. Schlegel)

Rezension von A. W. Schlegel

Aus: A. W. Schlegel und F. Schlegel, Charakteristiken und Kritiken, 2. Band, Nikolovius 1801.

 

Die Gesundbrunnen. Ein Gedicht in vier Gesängen von Valerius Wilhelm Neubeck. 1795.

Durch dieses Gedicht wird die deutsche Poesie in einer Gattung bereichert, in welchen unter den Neueren vorzüglich die Engländer eine beträchtliche Anzahl geschätzter Gedichte besitzen, die dagegen unter uns noch fast gar nicht angebaut ist.

Wir unterscheiden hier nämlich von dem Lehrgedicht, das allgemeine Wahrheiten zu versinnlichen sucht, dasjenige, worin irgendeine besondere Wissenschaft oder Kunst, oder ein Teil derselben, vorgetragen wird.

In jenem, dem philosophischen Lehrgedicht, haben wir nach Haller noch manches aufzuweisen; hingegen hat sich unsere lehrende Muse fast noch nie zu einem Bunde mit anderen Geschicklichkeiten und Kenntnissen verstanden, die, nützlich oder ergötzend, das Leben schmücken, ohne auf die höchste Bestimmung der menschlichen Natur Bezug zu haben.

Man kann leicht zugeben (was man auch unstreitig anerkennen muss), dass der Mensch das höchste Objekt der Kunst, und die lyrische und gragmatische Poesie also etwas höheres sei, ohne jene untergeordnete Gattung zu verwerfen.

Auch hat der artistische oder scientifische Lehrdichter das Beispiel des klassischen Altertums für sich, aus dem sich unter einer noch weit größeren Menge sehr bedeutende Werke der Art gerettet haben, und welches dabei den trockensten, undankbarsten Stoff nicht verschmähte.

Doch ließe sich gegen das Ansehn dieser Vorbilder folgendes einwenden: Die griechischen Lehrgedichte zerfallen in zwei Hauptklassen. Die älteren (Hesiod, die alten Gnostiker und Physiker usw.) schreiben sich aus Zeiten her, wo die Prosa noch nicht zum Werkzeuge der schriftlichen Mitteilung gebildet worden war. Ehe man schrieb, musste alles, was man aufbewahren wollte, in Verse gebracht werden. Die poetische Form war also mehr eine Sache der Notwendigkeit als der Wahl; und nachher, als sich die Schreibkunst schon verbreitet hatte, behielt man sie aus Gewohnheit bei.

Die späteren Lehrgedichte der Griechen, an welche die römischen sich anschließen, haben alexandrinische Literatoren zu Urhebern, die sich nicht selten in toten Stoffen am meisten gefielen, weil diese dem Dichter alles verdanken und sie folglich ihre gelehrte Kunst auf die glänzendste Art dabei an den Tag legen konnten.

In jenen alten Werken war es mit der Verehrung sehr ernstlich gemeint, und die Poesie war Nebensache; hier hingegen war es bloß um diese, und zwar nur um das Künstliche in ihr zu tun, und die Belehrung blieb nur der scheinbare Zweck.

Man weiß, dass manche einen Gegenstand besangen, den sie gar nicht anschaulich durch eigenes Studium, sondern bloß durch eine mittelbare Überlieferung notdürftig kannten, für den sie also kein wahres Interesse haben konnten.

Allein wo dieses auch vorhanden ist, reicht es zur eigentlichen Künstlerbegeisterung, die sich auf ein unbedingtes Bedürfnis unserer Natur bezieht, noch nicht hin, weil alle bedingten Zwecke nur bedingt interessieren. Daher der Mangel an Leben im Ganzen eines Lehrgedichts bei der schönsten Lebendigkeit der einzelnen Bestandteile.

Wie dürftig werden zum Beispiel in Ovids Fastis die reizenden Mythen und Schilderungen von Festen durch den völlig unpoetischen, für Herz und Einbildungskraft gleich leeren Begriff eines Kalenders zusammengehalten.

Es fragt sich also: Wie lässt sich ein bloß logisch gegebenes Ganzes nicht allein durch Ausschmückung der Teile, sondern auch als Ganzes poetisch beleben?

Da das unbedingte Streben ein Hauptkennzeichen der künstlerischen Begeisterung ist, und da es außer dem Gegenstande derselben, dem Schönen, nur zwei Objekte eines unbedingten Strebens dür den Menschen gibt, nämlich das Wahre und das Gute; so lässt sich denken, dass das Streben nach einem von beiden, die philosophische oder sittliche Begeisterung, in diesem Falle als Surrogat der künstlerischen dienen könnte.

Die philosophische Begeisterung kann nur bei Erkenntnissen stattfinden, welche den Menschen als Menschen angehn, als auch auch kein anderes als ein philosophisches Leergedicht beseelen. Die sittliche aber erstreckt sich auf alle Gegenstände, bei denen eine Beziehung auf Ideen möglich ist.

Der didaktische Stoff könnte also, wenn er von solcher Beschaffenheit wäre, im Einzelnen durch sinnliche Darstellung, im Ganzen durch eine sittliche Stimmung des Gemüts (die man ja nicht mit einem moralischen Zwecke verwechseln muss, welcher, wie die Erfahrung lehrt, pädagogisch, ökonomisch usw. häufig ohne jene betrieben wird), aus dem unpoetischen Gebiet des Verstands entrückt werden.

Es ist hier nicht der Ort, diese Gedanken, die nur durch flüchtige Winke angedeutet werden konnten, weiter auszuführen und zu begründen. Wir eilen zu ihrer Anwendung auf das vorliegende Gedicht.

Die Lehre vom Gebrauch der Mineralwasser konnte als ein kleiner Teil der beinahe unermesslichen Arzneiwissenschaft nur ein sehr bedingtes scientifisches Interesse haben; der Dichter hat ihr ein freieres, allgemein menschliches verliehen. Das, wodurch er seinen Gegenstand adelt und gleichsam heiligt, ist wohlwollender Eifer, als Arzt zum Besten seiner Mitbrüder zu wirken; und dankbare Bewunderung der wohltätigen Veranstaltungen der Natur.

Diese beiden hebenden Gefühle begleiten ihn fortdauernd und gleichmäßig auf seiner ganzen Laufbahn: sie sind die Seele seiner Darstellung, und verraten sich emtweder stillschweigend im Ton derselben, oder werden auch ausgesprochen, aber dies nur hier und da mit weiser Mäßigung.

Der Dichter hat seinen Stoff mit lieblicher Fülle zu bekleiden und sich überalll, wo er vermöge seines Vorsatzes den Schritt hinwenden muss, mit der reichsten sinnlichen Gegenwart zu umgeben gewusst. Die Schilderung der Brunnen nach ihrer Lage und das ländliche Leben, welches Brunnen- oder Badegäste führen sollen, gibt Gelegenheit zu vielen Landschaftsgemälden.

Alles widerwärtige und ekelhafte, was bei manchen medizinischen Gegenständen schwer zu umgehen sein möchte, ist bei diesem durchaus vermieden. Es ist immer auf eine solche Art von den Heilkräften der Gesundbrunnen die Rede, dass die Krankheiten, denen sie entgegenwirken, bloß im Allgemeinen charakterisiert werden.

 

Die ganze Ausführung zeugt von einem durch vielfache Übung und Studium der Meisterwerke gebildeten reifen Dichtergeiste und nähert sich an nicht wenigen Stellen wirklich dem Klassischen.

Die Anlage ist, wie es sich gehört, einfach und lichtvoll. Der erste Gesang beschäftigt sich mit der Entstehung der Mineralquellen, der zweite mit der Beschreibung der vornehmsten, welche Deutschland besitzt, der dritte und vierte mit Vorschriften für die Brunnenkur.

Der naturhistorische Inhalt des ersten Gesanges ist durch eine kühne, aber erlaubte Dichtung ganz ins Wunderbare und Epische hinübergespielt. Nach der kurzen, in eine lobpreisende Begrüßung der Hygiea als seiner Muse verwebten Ankündigung wendet sich der Dichter an die Nymphe der Gera, welche nahe bei seinem Geburtsort, Arnstadt in Thüringen, vorbeifließt, um von ihr in das Reich der Quellen eingeführt zu werden. Romantische Motive des von ihr durchströmten Tals und hierauf der Grotte, wo sie entspringt. Hier erscheint ihm die Göttin, und drückt in der Antwort auf seine Bitte …

Kühn, o Sterblicher, ist der Wunsch, ein Land zu betreten,
Wo mit verwegnem Tritt noch kein Erschaffener jemals
Wandelte; doch dir sei er gewährt. Kein frevles Verlangen,
Keine, vermessne Begier, das Unbekannte zu schauen,
Aber den schönen Wunsch, hülfreich und tröstlich den Menschen,
Gleich den ewigen Göttern zu sein, erblick ich im Innern
Deiner unsterblichen Seele.

… die sittliche Stimmung des Dichter aus, wovon wir oben sprachen. Nachdem sie ihn belehrt, woher überhaupt „die Quellen den Reichtum ihrer Gewässer empfahn“, führt sie ihn in das unterirdische Reich der Ströme. Die erste Idee zu dieser Wanderung gab vielleicht die Geschichte vom Aristäus beim Virgil, auf die auch angespielt wird; aber sie ist mit wahrhaft genialischer Kraft und Neuheit durchgeführt.

Sie gelangen in das Reich der eisenhaltigen Quellen. Wie das Wasser von Eisenteilchen durchdrungen wird, und dadurch eine stärkende Kraft gewinnt, erläutert ein liebliches Gleichnis. Drauf wird die Lehre, dass die ? Luft das Brausen und Perlen der Mneralwasser verursacht, in der edelsten und bildlichsten Sprache vorgetragen.

Der Dichter geht zu einem prachtvollen Loblied auf das Eisen über, und gedenkt, nach dem mannigfaltigen Nutzen desselben im Kriege, für den Ackerbau und die meisten Künste, auch des Kompasses. Mit einem leichten Übergange kehrt er von dieser Episode zu den Heilkräften des Eisens zurück.

Die Göttin führt ihn hierauf in das Reich der Salze, die sich, wie sie ihn lehrt, nach ihrer Verwandschaft anziehen. Nun wird dieses Naturgesetz der Anziehung in feinem erhabnen Umfange erklärt, und rührend auf die Sympathie sittlicher Wesen angewandt.

Den kräftigsten Schwung der Phantasie, alle Gewalt der Sprache, den ganzen Zauber  männlicher und bedeutender Rhythmen hat der Dichter aufgeboten, um die unterirdische „Flammenwelt der Vulkane“ darzustellen, an deren Grenze die Göttin ihn zuletzt führt, weil die schwefelhaltigen und warmen Quellen daselbst entstehen.

Nach vollbrachter Wanderung schließt der Gesang mit einem dankenden Hymnus an die Nymphe.

 

Wenn der Dichter durch den anfang des zweiten Gesangs leise an Klopstocks Rückkehr in die Oberwelt im dritten Gesang des Messias erinnert, so darf er die Vergleichung nicht scheuen. Durch den überraschenden Übergang von der Freude am Leben zu den menschenfreundlichen Gesinnungen des Arztes und der Freude über das Gelingen seiner Bemühungen ist der Eingang mit dem Ton des Ganzen in die schönste Harmonie gesetzt.

Die berühmten Quellen der Vorzeit werden von dem Gesange ausgeschlossen, aber, indem dies geschieht, in tönenden Zeilen verherrlicht. Auch die neueren ausländischen Quellen berührt der Dichter nur flüchtig und beschränkt sich auf die wichtigeren Deutschlands.

Hier hat er sich das Geschäft schwerer gemacht, als nötig war: man verlangt von solch einem Verzeichnisse keine Vollständigkeit und würde manchen Gesundbrunnen nicht vermissen, wenn er übergangen wäre.

Aber eben in diesem Teil des Gedichts hat er seine große Sicherheit in der Kunst bewährt. Er ist unerschöpflich an charakteristischen Zügen, Gemälden, Wendungen, Anspielungen, episodischen Verzierungen; und wo durchaus etwas ähnliches wiederkommen musste, an anders schattierten Tinten des Ausdrucks, so dass er unter der großen Anzahl von Quellen jede auf eine eigentümliche und anziehende Art preist.

Bei Pyrmont werden die Altertümer der Gegend hervorgerufen; beim Karlsbad und Töplitz wird die merkwürdige Entdeckung dieser Bäder erzählt; von Wiesbaden gerüht, dass das Mineralwasser den daselbst gebauten Wein veredelt; bei Lauchstädt werden die sächsischen Schönen, die das Bad gebrauchen, sehr schmeichelhaft aufgefordert, der Nymphe einen Kranz zu winden usw. Einen klassischen Sinn verrät das Spiel mit einem klassischen, den Egerbrunnen zugeteilten Namen, Egeria. Äußerst dichterisch wird von einem anderen Gesundbrunnen gesagt, dass die benachbarten Bauern ihn auch in gesunden Tagen zu trinken pflegen:

Huldigt, Saiten, der Nymphe, die dort in dem ländlichen Flinsberg
Oft sich zum fröhlichen Mahl mitsetzt in der Hütte des Landmanns.

Der Dichter liebt diesen Quell vorzüglich, weil er ihm die Genesung seiner Freundin verdankt. Bei einem anderen ehedem besuchten, jetzt in Verfall geratenen lässt er uns die Klage der Nymphe in zarten Tönen vernehmen.

 

In den beiden folgenden Gesängen werden die bei einer Brunnenkur zu beobachtenden Vorschriften gegeben, und auch hier sind die vielfachen Schwierigkeiten glücklich besiegt. Die Wahl der Jahreszeit und einer gesunden Wohnung, frühes Aufstehn, Verfahren beim Brunnentrinken, Diät in den Speisen, die verschiedenen Ergötzungen, welche der Gesundheit am zuträglichsten sind: zwanglose Gesellschaft, leichte Lektüre, fröhliches Schauspiel, Billiard oder Ballspiel, Reiten, Fahren, Spaziergänge oder andre Leibesübungen, Fischfang, Botanisieren, Jagd (wenn die Brunnenkur in den Herbst fällt), und endlich Tanz: nichts ist vergessen, alles wird „mit des Pindus duftenden Blumen“ auf das gefälligste geschmückt.

Wenn im Vorhergehenden die wesentlichen Vorzüge eines Dichters, mens divinor atque os magna sonaturum sich schon oft glänzend entfaltet haben, so beweist der Sänger hier, wie günstig ihm dieland liebenden Musen jenes molle atque facetum des gewähren.

Nirgends sinkt er zum Matten oder prosaischen herab; denn dass er manches, was sich nicht ohne Zwang in Bilder kleiden ließ, freiwillig mit schmuckloser Grazie ausdrückt, wie in folgendem Verse:

Trinke gemach, und wandle dabei! So lautet die Regel.

ist davon noch sehr verschieden. Durch solche einfachen Stellen werden einige Episoden (man weiß, das Lehrgedicht ist mit Recht der eigentlich Wohnsitz der Episoden), in denen die einbildungskraft ihre blühende Fülle ergießt, noch mehr gehoben.

Den Vorschriften über den Gebrauch der Bäder wird die Geschichte desselben angeknüpft, und eine Welt von Erinnerungen in den stolzesten Bildern und Rhythmen geweckt. In dem ältesten Zeiten badeten sich nur Gesunde. Nachher empfahlen die griechischen Ärzte, zuerst Hippokrates, auch Kranken das Bad. Bei den Römern wird die bekannte Geschichte, dass Augustus auf den Rat seines griechischen Aztes Antonius Musa das Bad zu Bajä mit gutem Erfolg gebrauchte, dass eben diese Kur bei seinem Neffen Marcellus, der bald darauf starb, nicht anschlug, auf eine Weise eingeführt, die nicht nur den Verehrer des Antiken, die jeden Freund des schönen entzücken wird. Aber das Los der Vergänglichkeit trifft nicht den Menschen allein, sondern alle irdischen Dinge. Bajä selbst erfuhr es.

Siehe, der Wanderer findet, wo Bajäs Marmorpaläste
Prangten, gesunkene Trümmer.Sein Laubnetz hanget der Efeu
Um das Gebälk; den Fuß korinthischer Säulen umwuchern
Nesseln und Sandriedgras.

In den darauf folgenden, weiter umherirrenden Blicken auf die Szenen des Altertums ist Jetzt und Vormals, Leben und Erstorbenheit bezaubernd vermählt: es sind Abbildungen fröhlicher Götterfeste  auf einem Sarkophag. Auch Hadrians Villa ist dahin; ja selbst der Lorbeerbaum auf Virgils Grab ist verdorrt! Mit dieser Erinnerung an sein Vorbild nimmt der Dichter den Faden wieder auf.

Der vierte Gesang ist nicht weniger reich ausgestattet als seine Vorgänger. Wie reizend ist, um unter vielen nur eins zu nennen, bei Gelegenheit des Botanisierens die Begattung der Pflanzen geschildert!

Das Ganze schließt mit einer herrlichen Episode von ganz anderer Art als die obige. Der Dichter warnt vor Übermaß im Tanz, und vor plötzlicher Erkältung. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, die bei ihrem Aufenthalt an einem Gesundbrunnen, vom Tanze erhitzt, sich in den Garten schlich, aus einer Quelle trank und augenblicklich tot blieb. Zeit und Szene des Vorfalls sind meisterhaft zu pathetischen Eindrücken benutzt. Das Schrecken und die Trauer ihres Geliebten, die teilnehmende Klage ihres Freundes (denn der Dichter war ihr Freund) und endlich ihre Grabschrift lassen den Stachel der Wehmut tief im Herzen zurück.

 

Von höheren poetischen Vorzügen angezogen haben wir auf den äußeren technischen Teil des Gedichts kaum noch einen flüchtogen Blick werfen können.

Die Sprache ist rein und voll, auserlesen, kräftig und würdig. Die Wortstellungen haben Nachdruck, Schwung, und dennoch ungezwungene Leichtigkeit. Neue Zusammensetzungen sind bescheiden, nach den Regeln der Analogie und des Wohlklanges versucht. Die Beiwörter sind fast immer treffend, bedeutungsvoll, malerisch, tönend, zuweilen neu, sinnreich und überraschend glücklich. Vielleicht sind sie hier und da mit zu freigiebiger Hand ausgestreut; aber da sie die forteilenden oder gehaltenen Tänze des Rhythmus überall heben und tragen helfen, so lässt man sch dies gern gefallen.

Was den Bau des Hexameters betrifft, so fanden wir ihn noch in keinem deutschen Gedicht, Voß‘ Luise ausgenommen, in so großer Vollkommenheit.

Es versteht sich, dass hier bloß von demjenigen Hexameter die Rede ist, wobei die Manigfaltigkeit und der metrische Ausdruck immer dem Gesetz der rhythmischen Schönheit untergeordnet bleibt; Grenzen, die Klopstock im Messias aus Grundsatz überschritten hat. Auch den Wert des vertraulichen Hexameters wollen wir keineswegs herabsetzen.

Wer Voß‘ hexametrischen Versbau studiert hat, wird leicht erkennen, dass Neubeck soch hierin ganz nach ihm gebildet hat, aber auch, dass er ihm seine Kunst beinahe bis zur Gleichheit abgelernt hat. Der wichtigste Unterschied möchte sein, dass er die Pausen des Sinnes häufiger an den Schluss der Zeile setzt, so dass manchen Stellen die vom Dionysius so sehr empfohlene λογοεíδεια fehlt. Auch hat er sich hier und da noch einen weiblichen Abschnitt im vierten Fuß erlaubt. Er hat nicht unterlassen, seinen Meister dankbar zu preisen,

.                                                                                            den Sänger
Lieblicher Landidyllen, die selbst Apollon-Homeros
Beifallslächeln gewännen, wofern sie der Alte vernähme.

Hier hätten wir also wieder eine Rechtfertigung des alten Mythus, welcher den Gott der Dichtkunst zugleich zum Vorsteher der Arzneikunde machte, und Bürgers Lob der Ärzte in seinem Gedicht An Apollo  findet eine treffende Anwendung auf den Verfasser dieses geistvollen Werks.

So viel Lob, fast durch gar keinen Tadel gewürzt, könnte übertrieben scheinen: ich muss daher versichern, dass ich, um nicht die Rolle des Beurteilers mit der des Lobredners zu vertauschen, meine Ausdrücke so viel wie möglich gemäßigt habe.

Aber wie kommt es, wird man fragen, dass ein solches Produkt noch nicht bekannter wurde? Ich gestehe wenigstens, dass es mir, ungeachtet meiner Aufmerksamkeit auf wichtige Erscheinungen in der deutschen Poesie, gänzlich entgangen war, bis ich zur Beurteilung desselben aufgefordert wurde. Walten ungünstige Sterne aich über das Schicksal mancher Bücher? Oder ist Verkehrtheit des Geschmacks daran Schuld, wenn das Vortreffliche nicht bis zu einer Lesewelt hindurchdringt, die auf allen Seiten mit dem Mittelmäßigen und Schlechten umringt ist?

Doch es kann nicht fehlen, dieses Gedicht muss seinem Urheber in der Folge einen ausgezeichneten Platz unter Deutschlands Dichtern sichern. Kleist wurde durch seinen Frühling unsterblich; wir wollen kein Blatt aus dem Kranze des ruhmvollen Toten zu reißen suchen, aber man vergleiche!

Vielleicht hat das unscheinbare Äußere des Buchs seinen Umlauf verhindert: das graue Papier, das unbequeme Quartformat, auch der wenig versprechende Titel. Wir wünschen und hoffen, es möge bald in einer gefälligeren Form erscheinen, damit jeder Freund der Dichtkunst es an einem oft besuchten Platz seiner Büchersammlung aufstellen könne.

 

Anmerkung

Obige bis auf die jetzt überflüssig gewordenen Auszüge unverändert abgedruckte Beurteilung hatte das Glück, die Aufmerksamkeit der lesenden Welt auf ein bis dahin allzu unbemerkt gebliebenes Werk zu lenken und neue Ausgaben davon zu veranlassen, welche im Jahr 1798 bei Göschen in Leipzig erschienen sind, die eine davon mit ausgezeichneter typographischer Pracht und reizenden Landschaften geziert. Nachdem es einmal bekannt geworden war, hat sich der Beifall so lebhaft rege erhalten, dass bald wieder eine neue Augabe erforderlich sein wird.

Das Gedicht bedurfte nur kleiner Verbesserungen; der Verfasser hat ihm seine nachhelfende Hand nicht entzogen, aber sie vorsichtig angelegt – bei einer genauen Vergleichung mit der ersten Ausgabe habe ich fast keine Veränderung gefunden, die misslungen, fast keinen Zusatz, der nicht Gewinn wäre. Einige bei der sonstigen rhythmischen Fülle und Schönheit noch vernachlässigte Zeilen sind zu dem Schwunge der übrigen erhoben, und ein paar Auslassungen zeigen, dass der Dichter auch etwas nicht verwerfliches aufzuopfern weiß.

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