Herr Paul und das Schweigen

Herr Paul erwacht und spürt den Wunsch, zu schweigen.
Er tuts und spricht den ganzen Tag kein Wort
Und fährt am nächsten Tag gelassen fort,
Sich stumm und wortlos aller Welt zu zeigen.

Er macht die Stille völlig sich zu eigen,
Erschafft in sich dem Frieden einen Hort
Und schenkt der Ruhe einen sichren Ort.
Dem strömt sie zu, sie tropft auf Paul von Zweigen,

Wenn er im Schatten eines Baumes sitzt;
Sie sinkt in Paul, wenn, müde und verschwitzt,
Er zwischen hohen Felsen Kühlung findet.

Die laute Welt weiß nichts davon, doch spürt
Sie wohl, wie etwas Fremdes sie berührt,
Und fühlt, wie langsam ihre Macht entschwindet.

Bücher zum Vers (67)

Gerhard Kurz: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit.

Neben den so schon genannten Themen verzeichnet das Inhalsverzeichnis noch Kaptitel zu „Enjambement“ und „Klischee“; und das ist dann für ein knapp über 130 Seiten starkes Taschenbuch (erschienen 1999 bei Vandenhoeck & Ruprecht) doch schon einmal eine ganze Menge!

Und das meiste ist auch durchaus mit Gewinn zu lesen; gerade bei Begrifflichkeiten wie „Klischee“, die ja nicht einfach zu fassen sind. Am Ende des entsprechenden Kapitels (S. 84) findet sich zum Beispiel dieser Satz:

„So lange wir noch an Bildung wachsen“, schreibt Friedrich Schlegel zu Anfang seiner Charakteristik Über Lessing (1797), muss man der „gewöhnlichen Behauptung: es ist eigentlich schon alles gesagt“, die Behauptung entgegensetzen: „Es sei eigentlich noch nichts gesagt; nämlich so, dass es nicht nötig wäre, mehr, und nicht möglich, etwas Besseres zu sagen.“

… und den kennengelernt zu haben, hat mich erfreut.

Das Königreich von Sede (63)

Schemel spielt auf der Laute, er singt in der Tiefe des Waldes;
Schatten ist alles hier, und die Stimme verklingt in die Schatten …
Schemel spielt und singt, und er weiß: von den zahllosen Wipfeln,
Einer davon, ein Ast in einem der zahllosen Wipfel
Schwankt ein wenig und zittert, da auf ihm die Grübeleule,
Angelockt von des Narren die Schatten umschmeichelndem Singen,
Niedergelassen sich hat, und sie lauscht, es verlangt sie zu wissen,
Jahre hat sie durchgrübelt, bewegungslose, voll Schatten:
Mensch, was du bist, und sie lauscht auf das Dunkel, das heute Gesang ist.

Ganz frei

Mir klingt immer noch Tieck im Ohr mit seinen nachlässigen Versen … Seine „Reisegedichte eines Kranken“ lassen erkennen, wie es wirkt, wenn er alle Fesseln abstreift:

 

 Der Rheinfall

Wer mag hier sprechen, zeichnen, malen, dichten?
Das Wort verstummt, die Hand erlahmt.
Vernimm mit Ohr und Augen, Geist,
Was hier geschieht, Natur in kühnster Sprache
Dir donnernd will enthüllen,
So bist du glücklich, ruhig und gesättigt,
Und fragst nicht, was es sei und dir bedeute.
Was unaussprechlich ist, sei dir das höchste.
Wenn der Naturgeist also zu dir spricht,
So horche gläubig, andachtsvoll:
Wozu dein Stammeln?

 

Gut: Fast alle Fesseln. Denn iambische Verse sind es noch immer, wenn auch unterschiedlich in Hebungszahl und Ausgang; und ungereimt. Nun kann man über den Nährwert des Inhalts streiten; bezüglich der Form scheint mir, sie fügt sich dem Tieckschen Denken in feiner Weise?!

Wer mag, kann zum Vergleich ja noch einmal bei den Rheinfall-Gedichten im Hexameter vorbeischauen.

Winter 1740

Goss man Wasser herab aus hochgelegenen Fenstern,
War, was zur Erde kam, Wasser nicht mehr; sondern Eis.

 

Johann Peter Hebel, Der böse Winter: „Der Hausfreund aber erinnert sich jetzt wieder, was die Alten von dem Winter des Jahres 1740 erzählt und geschrieben haben (…) Wenn man langsam Wasser von einem hohen Fenster herabgoss, es kam kein Wasser auf den Boden, sondern Eis.“

Erzählformen: Das Reimpaar (17)

Reimpaare aus iambischen Vierhebern sind heute auch oft die Form, die Gelegenheitsgedichten gegeben wird. Dann klingen die Text schon mal leicht unordentlich und nachlässig – und sind das auch! Was aber, wenn solche Reimpaare so klingen bei Dichtern, die nachweislich mit Sprache umzugehen wissen?!

Das klassische Beispiel dürfte da Ludwig Tieck sein, dessen Gedichte ja schon von seinen Zeitgenossen als sehr nachlässig beurteilt wurden.

Am Anfang von Tiecks „Phantasus“ sitzt ein Ich, von allerlei Unbill geplagt, „betrübt“ im Zimmer.

 

So saß ich still in mich gebückt,
Den Kopf in meine Hand gedrückt,
Als ich, so sinnend, es vernahm,
Dass jemand an die Türe kam;
Es klopfte, und ich rief: „Herein!“
Da öffnet schnell ein Händelein,
So weiß wie Baumesblüt‘, herfür
Trat dann ein Knäblein in die Tür,
Das Haupt gekränzt mit jungen Rosen,
Die eben aus den Knospen losen,
Wie Rosenglut die Lippen hold,
Das krause Haar ein funkelnd Gold,
Die Augen dunkel, violbraun,
Der Leib gar lieblich anzuschaun.
Er trat vor mich und tät sich neigen
Und sprach alsdann nach kurzem Schweigen:
„Wie kömmt’s, mein lieber kranker Freund,
Dass Ihr hier sitzt, da Sonne scheint?“

 

„losen“ = „los, frei werden“, „herauskommen“. Ist das jetzt also nachlässig geschrieben?! Hm. Das macht sich ja am allerehesten daran fest, dass sich Füllsel-Verse einschleichen; der erste Vers des Reimpaars sagt inhaltlich etwas aus, aber kein Reimwort bietet sich an, die Sache im zweiten Vers weiterzuführen; also wird der Vers einfach gefüllt mit einem Zusatz, und erst das nächste Reimpaar nimmt die Handlung wieder auf.

Davon ist nichts zu bemerken bei Tieck?! Nur das „Händelein“, klingt, heutzutage erst Recht, gewöhnungsbedürftig; das wird dann einem „Knäblein“ zugeordnet, was, je nach Sichtweise, die Sache rechtfertigt – oder noch schlimmer macht!

Wenn man Tiecks Text liest, klingt so manches eigenartig. Man merkt aber auch, es hat seinen eigenen Ton, der nicht wackelt und nicht schwankt, und es erzählt geradeheraus und von daher: So kann man schreiben, wenn man mag. Oder man konnte es; heut sollten auch Reimpaartexte wohl etwas anders klingen …

Eine Begegnung im Park (9)

Achter Teil

„Eine Sache haben wir vergessen“, sagte Heinrich, als er zusammen mit Dr. Sotz das Markt-Cafe verließ und auf den Marktplatz hinaustrat, wo die Bauern und Händler eben ihre Stände abbauten.

„Ja?“

„Dieses seltsam stoffliche Licht … Die Wolke wurde, als sie sich auflöste, vom Wind in Richtung Stadtzentrum getrieben; glauben Sie, davon ist etwas hier angekommen und bemerkt worden?“

„Bemerkt worden eher nicht“, antwortete Dr. Sotz; „angekommen wahrscheinlich schon, nur eben aufgelöst, sprich: verdünnt. Vielleicht tragen die Menschen hier davon etwas auf der Haut, oder haben es mit der Luft eingeatmet … Tragen sie doch mal was aus der ‚Frühlingsfeier‘ vor!“

„Aus der ‚Frühlingsfeier‘?! Ah, verstehe … Da ein Strom des Lichts rauscht!“

„Genau!“ Dr. Sotz lächelte. „Machen Sie!“

Und so stellte sich Heinrich mitten auf den Marktplatz und trug die ersten Verse der Frühlingsfeier vor:

„Nicht in den Ozean der Welten alle
Will ich mich stürzen! schweben nicht,
Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts,
Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!“

Die Menschen um ihn herum sahen Heinrich zwar verwirrt an, aber gleichzeitig lächelten sie, verträumten Blicks, ganz, als würde ihnen etwas lange vergessenes wieder einfallen.

„Tja, ich denke, das zählt als Beweis: Der ‚Lichtstoff‘ ist anwesend und wirksam, andernfalls wären Sie lauthals ausgelacht worden! Jetzt gehen wir noch einen Apfel suchen mit einem Wurm drin!“

„Mit einer Apfelwickler-Raupe, bitte!“, verbesserte Heinrich.

„Mit einem Wurm“, bekräftigte Dr. Sotz, „noch genauer: mit einem Würmchen!“

Da ging Heinrich ein Licht auf, und als sie an einem der letzten noch verbliebenen Stände einen vielversprechend aussehenden Apfel gefunden hatten, nahm er ihn in die Hand, warf sich in Positur und trug noch einmal aus der ‚Frühlingsfeier‘ vor:

„Aber du Frühlingswürmchen,
Das grünlichgolden neben mir spielt,
Du lebst; und bist vielleicht
Ach nicht unsterblich!“

Auch Dr. Sotz zitierte einen Vers – „Auch das Würmchen mit Golde bedeckt, merk auf!“ -, und als er und Heinrich sich dann ganz nah zum Apfel beugten, erklang aus dem Loch im Apfel tatsächlich ein leises, feines Stimmchen: „Schlaflied.“

Dr. Sotz lachte entzückt auf, verabschiedete sich von Heinrich, erwarb beim Standbesitzer den Apfel und ging fröhlich pfeifend nach Hause, den Kopf schon voll mit neuen Plänen sonder Zahl.

Erzählverse: Der iambische Vierheber (2)

„Ungereimt und gereiht“, das war bezüglich des iambischen Vierhebers die Vorgabe im ersten Teil. „Ungereimt“ ist nicht verhandelbar; „gereiht“ schon, denn ohne Reim wirken auch Strophen gänzlich anders als mit Reim!

Ein Beispiel dafür ist „Das Rosenband“ von Friedrich Gottlieb Klopstock:

 

Im Frühlingsschatten fand ich sie;
Da band ich sie mit Rosenbändern:
Sie fühlt‘ es nicht, und schlummerte.

Ich sah sie an; mein Leben hing
Mit diesem Blick‘ an ihrem Leben:
Ich fühlt‘ es wohl, und wusst‘ es nicht.

Doch lispelt‘ ich ihr sprachlos zu,
Und rauschte mit den Rosenbändern:
Da wachte sie vom Schlummer auf.

Sie sah mich an; ihr Leben hing
Mit diesem Blick an meinem Leben,
Und um uns ward’s Elysium.

 

Die verwendete Strophe ist diese:

x X / x X / x X / x X
x X / x X / x X / x X / x
x X / x X / x X / x X

Eine gliedernde, ordnende Wirkung geht von ihr aber kaum aus?! Vielleicht auch, weil innerhalb der einzelnen Strophen viele tiefe Einschnitte wirken, meist am Ende der Verse. Erhellend ist hier der Vortrag, ich verweise auf diese beiden Sprecher:

Fritz Stavenhagen

Jürgen Holtz

Das zerfällt alles sehr, vor allem bei Stavenhagen?! Es lassen sich mit kleiner Mühe noch mehr Fassungen finden; auch vertont ist „Das Rosenband“ mehrere Male worden, zum Beispiel von Zelter, Schubert und Strauss. Da reinzuhören lohnt durchaus!

Schon seltsam: Klopstock war so gar kein Feund von iambischen Versen; aber dieses Gedicht aus iambischen Vierhebern ist eines seiner bekanntesten. Solche Streiche spielt einem die Nachwelt! Aber was will man machen, es ist einfach ein guter Text; ein gutes Gedicht.