Die Taktdauer im Hexameter
Dass die Taktdauer in dem Hexameter eine gewisse Berücksichtigung fordert, wäre wahrscheinlich von niemandem in Abrede gestellt worden, wenn man nicht Taktdauer und natürliche Quantität auch hier miteinander verwechselt hätte. Die geringste Aufmerksamkeit bei dem Vortrage kann jeden lehren, dass man Hexameter taktfester als etwa Iamben liest und dass man unwillkürlich bereit ist, die Ungleichheiten der Taktdauer auszugleichen. In dem folgenden Hexameter Goethes:
Silber | grau be | zeichnet dir | heute der | Schnee nun den | Gipfel
dehnt man die ersten zweisilbigen Takte ebenso, wie man später die dreisilbigen beflügelt; während es auch dem unreifsten Schüler nicht einfallen wird, un dem Vers
Dér Jahr | húnder | té ge | séhen
die Taktdauer von te ge mit der des vorhergehenden Takts hundert in Übereinstimmung bringen zu wollen. Und für niemanden wird es zweifelhaft sein, dass der goethische Hexameter auf den Herzog von Braunschweig
Sei dann | hülfreich dem | Volke, wie du es Sterblicher wolltest
in der Umarbeitung gewonnen hat:
Hülfreich | werde dem | Volke! so wie du ein Sterblicher wolltest
Eine andere Frage ist aber, ob die Taktdauer durch die natürliche Quantität der Silben sichergstellt werden kann; und das muss ich allerdings verneinen. Die natürliche Quantität unserer Silben ist so wenig fest und konstant, dass sie die Taktdauer nicht zu sichern vermag. Je mehr oder weniger eine Silbe zur Deutlichkeit gebracht werden muss, je stärker oder schwächer sie betont ist, um so länger oder kürzer wird sie gehalten; viel gebrauchte Komposita haben eine andere Quantität des Grundwortes als selten gebrauchte oder gar neu gebildete, und auch die Quantität desselben Kompositums ist in Bezug auf das Grundwort verschieden, je nachdem es dem Sprechenden und den Zuhörern mehr oder weniger geläufig ist.
Bei Parallelismus kann oft ein zweisilbiges Wort unbetont bleiben und es verliert dann auch an Quantität:
Heíße Magíster, heiße Dóktor gár
bei regelmäßigem Wechsel von Hebung und Senkung könnte es natürlich auch heißen:
Heíße Meíster, heíße Dóktor gár
und dasselbe Wort, das im ersten Fall nicht einmal die ganze Senkung ausfüllt, füllt hier einen ganzen Takt.
In den Volksrätseln und Aufzählsprüchen ist es eine häufig vorkommende Erscheinung, dass Wörter, die im ersten Vers einen ganzen Takt füllen, bei der Wiederholung nur einen halben Takt füllen:
Únse Dícke Dúmmè
Geht im Finstern umme
Ohne Stock und ohne Licht
Únse Dicke Dúmme fércht sich nícht
Die bei der Wiederholung schwächer betonte Verbindung verliert also die Hälfte von ihrer Quantität.
Als Schiller den Vers der Elegie
Lange | Jahre, Jahr | hunderte | lang mag die Mumie dauern
auf Humboldts Tadel in
Jahre lang | mag, Jahr | hunderte | lang die Mumie dauern
umschrieb, hat er eine überflüssige und sogar schlechte Arbeit gemacht. Denn lange Jahre, | Jahrhunderte ist gar nicht zu beachstanden, weil in der Steigerung Jahre, Jahr | hunderte das wiederhote Jahr- zwischen zwei starken Akzenten und unmittelbar vor dem stärkeren Akzent auf hund- den Ton so ganz verliert, dass durch auch die Quantität beeinträchtigt wird; wie das zweisilbige Wort heiße in dem Knittelvers aus dem Faust, so verliert auch das einsilbige Jahr hier mit dem Akzent an Quantität und bildet als | Jahre, Jahr | einen besseren Takt als Schillers späteres | mag, Jahr |. Es bleibt eben überhaupt ein müßiges Spiel, sich auf die natürliche Prosodie der Silben zu steifen, so lange die Grenze zwischen Längen und Kürzen nicht fest bestimmt ist.
Ich habe ferner schon gesagt, dass ich an eine gleichmäßige Verteilung der Zeitdauer unter die Arsis und Thesis nicht glaube, und mit einer „verschleifung auf Hebung“ oder „auf Senkung“ im Hhd. nichts anzufangen weiß. Nicht also, dass im zweisilbigen Versfuß die Arsis eine halbe Note, die Thesis eine Viertelnote oder im dreisilbigen die Arsis und jede der beiden Senkungssilben immer eine Viertelnote darstellen, wird gefordert; sondern die Dauer der Hebung und Senkung ist ebenso weinig fest bestimmt, als die natürliche Prosodie der Silben. Wie in der Musik der ZWeivierteltakt nicht durch ein ganzes Stück hindurch aus zwei Vierteln oder aus einem Viertel und zwei Achteln bestehen muss, so kann er auch in der rhythmisch weniger vollkommenen Schwesterkunst einmal aus 1/4 + 1/4, dann aus 1/4 + 1/8 + 1/8, dann aus drei Triolen, dann aus 3/8 + 1/16 + 1/16 usw. usw. bestehen.
In den bei Arndt beliebten und in den Geisterchören des Faust auch von Goethe angewendeten daktylischen Dipodien wird eine Reihe von Versen, in denen die Daktylen 1/2 + 1/8 + 1/8 vorstellen, durch einen Schluss-Satz abgeschlossen, in dem sie 1/ 4 + 1/4 + 1/4 vorstellen. Man beobachte ich nur einmal beim Lesen und man wird finden, dass man in den Geisterchören des Faust Christ ist erstanden | aus der Verwesung Schoß als 1/2 + 1/8 + 1/8 liest, während der letzte Vers euch ist er | da 1/4 + 1/4 + 1/4 | 1/2 lautet, trozdem die natürliche Quantität der Viertel eine viel geringere ist als die der Achtel.
Wie verschieden sich die Daktylen auch in der Musik ausdrücken lassen, davon hat man ein Beispiel an der preußischen Volkshymne. Gefordert wird also in der Metrik wie beim musikalischen Vortrag nicht mehr als die gleiche Dauer der Takte, die in der Musik noch genauer eingehalten wird, während die Gleichheit der Takte in der Dichtung doch immer nur eine annährende ist. Denn die vollkommene (objektive) Taktgleichheit dürfte auch hier kaum zu erweisen sein und nur experimentelle Untersuchungen mit zuverlässigen Instrumenten könnten uns darüber Aufschluss geben, bis zu welchem Grade wir gegen die Verletzung der Taktdauer stumpf sind und wo wir sie umgekehrt als rhythmische Störung empfinden.
Dass dem wirklich so ist, ergibt sich schon daraus, dass die Taktdauer überhaupt nicht allein von den durch Töne angefüllten Moren, sondern auch von den Pausen (Zäsuren, Versabschnitten, Sinnabschnitten) abhängt und dass sogar ein viersilbiger Versfuß zwar gegen das Schema des Hexameters, aber nicht immer gegen das Gehör verstößt, wie der ganz tadellose Vers beweist:
Ungerecht bleiben die | Männer, und die | Zeiten der Liebe vergehen
Man wird folgerichtig darauf geführt, dass, da ja die Taktdauer etwas bloß Relatives ist, auch solche Verse unanstößig wären, die aus lauter Versfüßen der Form „— ‚— v oder „— v — bestünden. Und in Bezug auf die Taktdauer wäre dagegen auch nichts weiter einzuwenden. Zwar hat Voss ein paar abschreckende Beispiele dieser Art gedichtet; aber diese Beispiele sind ganz verschieden ausgefallen und daher auch verschieden zu beurteilen. In
Höchstdero Vers übertäubt unser Ohr gegen Zeitmaß und Tonmaß
sind schwerlich die Takte gleichlang und höchstens einzelne Füße zu beanstanden. In
Freúnd, komm heut náchmittag hér, sieh Herrn Blánchards neu Lúftschiff hoch aúfziehn
dürfte aber die Quantität überhaupt nichts zu wünschen übrig lassen, der Vers ist nur schlecht, weil infolge der schweren Senkungen der Akzent zu wenig heraustritt, weil die Satzakzente nicht stark genug sind, zwei lange Silben von solcher Lautgestalt zu tragen.
Die vielen einsilbigen Wörter ohne stark ausgesprochenen Satzakzent müssen natürlich den Vers schwächen; aber es lassen sich wohl mit Hilfe von vielgebrauchten Kompositen und mit Hilfe von Redewendungen wie bòrgen macht | Sòrgen oder Glùck braucht er Hexameter hestellen, die aus lauter Versfüßen von der Form „— v — oder „— ‚— v und in Bezug auf die Quantität und auf den Akzent tadellos wären, wenn sie auch den Charakter des Versmaßes verfälschten, weil sie es schwerer und schleppender machten. Das berüchtigte Holzklotzpflock aber taugt aus zwei Gründen nicht in den Hexameter: erstens weil in Folge der schweren Senkungssilben der Akzent nicht genug hervortritt; zweitens weil die Qualität dieser drei Silben eine so starke ist, dass die Verletzung der Taktdauer bei der Abwechslung mit zweisilbigen Füßen doch zu auffällig ist.