Erzählverse: Der Hexameter (131)

Epigramme schrieb man und schreibt man in Distichen, also in Verspaaren aus Hexameter und Pentameter. Es spricht aber nichts dagegen, für solche kurzen Texte ausschließlich Hexameter zu verwenden!

 

Euch, ihr Grazien! denkt der Moderne sich zierlich und schmächtig,
Kränklich, frivol, wie er selbst; und doch, beim Herkules! wart ihr
Üppiger Form und kräftiger Bildung, wie’s Göttinnen ansteht!

 

– Das stammt aus den Texten, die Ernst Freiherr von Feuchtersleben unter der Überschrift „Fragmentarisch“ versammelt hat. Der Inhalt, nun ja; aber an Geschlossenheit stehen diese drei Hexameter einem Distichon in nichts nach!

Die Bewegungsschule (54)

ta TAM TAM ta TAM – das ist im deutschen Vers eine seltene Bewegung?! In der deutschen Prosa auch, aber: sie kommt vor. So stolperte ich heute im fünften Band von Hermann Hesses „gesammelten Werken“, erschienen 1978 bei Suhrkamp, am Ende von „Narziß und Goldmund“ auf folgende Sätze:

Narziß legte ihm die Hand auf den Arm, sofort schwieg er und schloss lächelnd die Augen. Er schlief friedlich ein. Verstört lief der Abt und holte den Arzt des Hauses, Pater Anton, dass er nach dem Kranken sehe.

– So zu finden auf Seite 315.

Weil der Antispast (ta TAM TAM ta) und der Dochmius (ta TAM TAM ta TAM) aus entgegengesetzt betonten Gliedern gebildet sind, brechen sie sich gleichsam in sich selbst und widerstreben sich im Schritt; also sind sie vorzugsweise geeignet, den Wechselstreit der Gefühle und die Stöße der Leidenschaften zu malen. Sie haben also den Charakter des Gebrochenen an sich; sie stürmen nicht vorwärts, ihre Bewegung ist gehemmt durch Widerstreit: sie dehnen sich mehr aus, indem sie ihre Kraft entwickeln, und werfen allen Nachdruck auf sich selbst, was besonders vom Antispast gilt. Denn der Dochmius, um eine Silbe länger, tut zugleich einen Schritt vorwärts, nicht ohne Beschwer und würdevoll: er erobert sich gleichsam ein Feld, wo er seine Gewalt ausbreitet. Beide Füße scheinen daher ihrer Natur nach bestimmt, das Ringen und Kämpfen der Seele, den Widerstreit und Widerstand zu veroffenbaren; was schmerzlich ist und Klage erweckt, ergießt sich durch diese Formen wie ein Strom über Felsen.

Schreibt Johannes Minckwitz in seinem „Lehrbuch der rhythmischen Malerei der deutschen Sprache“. Drei solche „ta TAM TAM ta“, dabei sogar zweidirekt aufeinanderfolgende, sind im Hesse-Ausschnitt enthalten: „Narziß legte“, und

sofort schwieg er und schloss lächelnd

Und gleich darauf, auch unmittelbar aufeinander folgend, stehen zwei „ta TAM TAM ta TAM„!

Er schlief friedlich ein. Verstört lief der Abt

Ob man das mit Minckwitz Vorstellungen in Übereinstimmung bringen kann?! Die „Verstörung“ sicherlich, das „lächelnd“ und das „friedlich“ vermutlich weniger … Insgesamt eine eigenartige Stelle, die noch eigenartiger wird durch den Reim „schlief“ / „lief“ – wieder ein „Vershinweis“!

Er schlief friedlich ein.
Verstört lief der Abt

– Und eigentlich könnte man das wirklich als zwei Verse untereinandersetzen: „ta TAM TAM ta TAM„.

Ohne Titel

Vorfrühling ist’s geworden; Kettensägenzeit.
Das Böse in den Menschen, still und schweigsam sonst
(Die Angst befiehlt es), wittert Morgenluft – es krächzt
Zuerst, entwöhnt des Redens, leise; kreischt; ist frei!
Da heult’s, vollkommen irr, aus Kettensägen Hass.

Erzählformen: Der Zweiheber (20)

In Heinz Kahlaus „Sämtliche Gedichte und andere Werke“, erschienen 2005 im Aufbau-Verlag, findet sich auf den Seiten 68 und 69 der „Tanz der Pflücker“, dessen erste Strophe so lautet:

 

Weiße Flocke –
wunderbare
Baumwollschöne.
Goldumstrahlt
ist dein Thron
nach der Nacht,
wenn der Neger
mit der Sonne
früh erwacht.

 

Wie in (19) ein Beispiel für die Verwendung des „Kretikus“ X x X. Weniger liedhaft, weniger aufdringlich im Gleichklang der Versenden; aber wieder die kennzeichnende Wirkung des Aufeinandertreffens von betonten Silben am Beginn und am Schluss der sehr kurzen Verse! Der „Neger“ ist heutzutage ein Reizwort; 1954, als das Gedicht geschrieben wurde, war es das möglicherweise noch nicht …

Erzählformen: Das Madrigal (24)

Als Conrad Ekhof, einer der größten Schauspieler seiner Zeit, im Jahre 1778 starb, schrieb Friedrich Wilhelm Gotter ein Lob-Gedicht auf ihn.

 

Die deutsche Bühne war der Nachbarn Hohn;
Verzerrung stand für Witz, Klopffechten und Gebelle
Für Leidenschaft; da sandt‘ Natur uns ihren Sohn.
Ein Proteus an Gestalt, ein Zauberer im Ton
Stieß er den Unsinn vom entweihten Thron
Und setzte Wahrheit an die Stelle.
Die ihr dem Heiligtum Melpomenens euch naht:
Ihm opfert dankbar an des Tempels Schwelle,
Ihm widmet Herz und Mund und Tat!
Wisst: Ekhof war es, der dem tiefen Briten,
Dem leichten Gallier den Lorbeerzweig entwand!
Wisst: Er schuf euch die Kunst, und adelte den Stand,
Orakel eures Spiels, und Vorbild eurer Sitten.

 

Auch eine Sorte Gedicht, die heute nicht mehr geschrieben wird und doch geschrieben werden sollte – das Lob eines großen Menschen (Ekhof hat in der Tat viel für’s deutsche Theater geleistet!). Formal ist’s die Mischung aus iambischen Vier-, Fünf- und Sechshebern, die das 18. Jahrhundert liebte und die hier beim Verserzähler schon häufiger vorgeführt wurde. Gotter, kein wirklich guter, aber ein sicherer Dichter, weiß damit umzugehen und schafft einen Text, der inhaltlich auf Versatzstücke zurückgreift und doch durch ihre Anordnung und die Verteilung der Reime ein spannungsvolles Ganzes bildet.

Das Königreich von Sede (85)

Den Apfel in der Linken, in der Rechten
Das Messer: Zügig schält er,
Ein zartes Weiß aus sattem Rot befreiend.
Kein friedlich Tun – ein Kampf mit dunklen Mächten,
Den er verliert; gequälter
Bewegt das Messer sich … Dem Gott sich weihend,
Die stummen Worte schreiend,
So schält er, zitterbang, den Apfel fertig.
Im Weiß ist gegenwärtig,
Im Rot der Schale, das zu seinen Füßen
Sich häuft: Der Gott, den Mensch und Messer grüßen.

Prosa-Rhythmisches

Beim Verserzähler spielt die Prosa keine größere Rolle; aber einen kurzen Absatz aus Johannes Minckwitz‘ „Lehrbuch der rhythmischen Malerei der deutschen Sprache“ (1856) möchte ich doch mitteilen:

Der gute Prosaist gewöhnt sein Ohr ebenso wie der Dichter, die Wirkung des Daktylus, Spondeus, Jambus, Trochäus, Kretikus, Choriambus und anderer Glieder zu bemessen und zu unterscheiden. Um den Stromfall der Rede zu beschleunigen, wird er sich der Daktylen bedienen, um ihn zu hemmen, der Spondeen, um ihn zu mäßigen, der Jamben; er fühlt mit Sicherheit heraus, wenn es wohlgetan ist, die Periode durch einen Kretikus, Choriambus oder trochäischen Fall abzuschließen, oder wenn es ratsam ist, aus diesen rhythmischen Takten in jene überzugehen und die Glieder zu vermischen. Ein Ohr, das diesen Dingen fremd ist, trifft selten das Rechte und vermag den Gedanken nicht in Übereinstimmung mit der Form zu setzen; selbst die beste Naturanlage bedarf der Ausbildung in diesem Stücke, sonst bleibt sie stehen auf derselben Stufe, wo der sogenannte Naturdichter, der die Pflugschar mit der Feder vertauscht, steht.

Einfach, weil ich mir vorstelle, dass die meisten Prosaisten auf diesen Gedanken von selbst nicht gekommen wären … Und, vermutlich: zu Recht. Aber nett lesen tut sich’s trotzdem!

Erzählformen: Der Zweiheber (19)

Gestern stolperte durch ein im Online-Grimm gefundenes Zitat Friedrich Wilhelm Gotter etwas unerwartet in mein Bücher-Leben; da habe ich selbstverständlich gleich in seinen Werken geschmökert und zum Beispiel das Libretto zu seinem Singspiel „Die Geisterinsel“ gelesen. Das beruht auf Shakespeares „Der Sturm“, weswegen es niemanden verwundern sollte, Caliban in ihm anzutreffen, der, als er Miranda und Fernando erblickt, ausruft:

 

Ist’s ein Traum?
Haben kaum
Sich gefunden,
Und schon sind,
So geschwind
Als der Wind,
Beider Herzen
Auch verbunden!

 

Inhaltlich keine Offenbarung, aber beachtenswert in Hinblick auf den Zweiheber insoweit, als dass hier seine küzeste Form vorgestellt wird: Der „Kretikus“, also zwei betonte Silben, die eine unbetonte Silbe zwischen sich haben: „X x X“! Folgt er in mehreren Versen aufeinander, ergibt sich ein ständiges Aufeinandertreffen von betonten Silben am Versanfang und am Versende, und dadurch eine sehr eigentümliche Bewegung – wie aus Gotters Versen schön deutlich wird! Wobei der Reim ein übriges tut, sicherlich …

Go: Die alten Meister (41)

Die alten Meister sinnen
Ein Ende aus; es bleibt
Die Frage: Wie beginnen?

 

Aussinnen, sagt der Online-Grimm, heißt so viel wie excogitare, fingere, invenire, ausdenken: eine List, Kunst, ein Mittel aussinnen; Treibt euch der Müßiggang, Phantome auszusinnen — sägt Holz! (Friedrich Wilhelm Gotter)

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (13)

Wie schlicht darf ein Gedicht sein, inhaltlich? Das trotzdem wirken will?! Ziemlich schlicht; das lässt zumindest Otto Julius Bierbaums „Freundliche Version“ vermuten:

 

Nicht im Schlafe hab‘ ich das geträumt,
Hell am Tage sah ichs schön vor mir:
Eine Wiese voller Margeritten;
Tief ein weißes Haus in grünen Büschen;
Götterbilder leuchten aus der Laube.
Und ich geh mit Einer, die mich lieb hat,
Ruhigen Gemütes in die Kühle
Dieses weißen Hauses, in den Frieden,
Der voll Schönheit wartet, dass wir kommen.

 

Und auch wenn das auf keinen Fall ein sonderlich gutes Gedicht ist – eine gewisse Wirksamkeit ist da! Und eine Besonderheit beim verwendeten Vers auch: Ungereimte trochäische Fünfheber schließen fast imer unbetont, also weiblich; hier aber haben die ersten beiden, einleitenden Verse männliche, also betonte Endungen, was sie wirksam von der eigentlichen „Vision“ abhebt.