Dr. Sotz, in seiner Linken
Einen kleinen Topf voll Farbe,
In der Rechten einen Pinsel,
Wandert nachts herum im Stadtpark,
Neumond ist es und ist dunkel:
Wo auch immer aus der Schwärze
Eine Schraube sich heraushebt
(Irgendwelchen Lichtes Reste
Machten sie dem Auge sichtbar),
Sich ein Blatt im Laub vereinzelt,
Falter still auf Wänden ruhen,
Tunkt er ein den Pinsel, tupft dann
Einem Ding, von dessen Farbe
Er nichts weiß, ein wenig Farbe
(Welche, weiß er nicht zu sagen,
Weil die Birne, die den Keller
Sonst erhellte, heute platzte,
Just als er herabgestiegen
Kam, ein Töpfchen auszuwählen)
Außen auf, und wasserlöslich
Ist die Farbe, und der Neumond
Ist verborgen hinter Wolken:
Dunkel ist es, regnen wird es.
Archiv für den Monat September 2017
Wieland, Lucian, Böttiger
Karl August Böttiger war ein Zeitgenosse Schillers, Goethes, Wielands und Herders; sein „Literarische Zustände und Zeitgenossen“ (herausgegeben von Klaus Gerlach und Rene Sternke, erschienen 1997 im Aufbau-Verlag) ein wunderbares Buch, und das in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel, weil es erahnbar macht, wie tief die klassischen Dichter in ihren Dichtungen und ihren anderen Arbeiten versanken.
Über Christoph Martin Wieland, der die sämtlichen Werke des Lucian von Samosata vorbildlich übersetzt hatte, schreibt Böttiger:
Wieland hat ein Makulaturexemplar des Lucians. Dies war lange Zeit seine Lektüre und Serviette, wenn er im Tempel der Cloacina saß. Hier, gestand er mir, konnte er sich oft selbst nicht genug über die glücklichen Wendungen und Orginalität seiner Übersetzung wundern, so dass er einigemal sogleich in seine Bibliothek lief, um zu sehen, ob Lucian hier auch treu übersetzt sei, aber allezeit fand, dass er dem Griechen sein volles Recht hat wiederfahren lassen.
Bei manchen Dingen weiß ich nicht recht, ob ich sie mir vorstellen will und soll oder nicht; aber hier ist die Entscheidung dann doch ein „Ja“ …
Vielleicht noch ein Satz aus dem Lucian, in Wielands Übersetzung – es geht um das Innere eines nicht bildlichen, sondern wirklichen Tempels:
Hier atmet man diesen ambrosischen Wohlgeruch, der von der Luft des glücklichen Arabiens gerühmt wird; er duftet einem schon von ferne unbeschreiblich angenehm entgegen und verlässt einen auch nicht, wenn man wieder weggeht, sondern setzt sich in die Kleider, und man glaubt ihn noch lange überall zu spüren.
Schön gesagt, schön übersetzt.
Residenzgras
In seinem Buch „Deutsche Dichter-Abende“ hat Jakob Loewenberg 1904 verschiedene seiner Vorträge versammelt, unter anderem einen über den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe, den er mit einer Schilderung von dessen Geburtsstadt beginnt:
Am Fuß des Teutoburger Waldes, im Kern des alten Westfalenlandes, liegt die kleine lippische Residenz Detmold. Ein munterer Bach, von schmalen Brücken überwölbt, von hohen Bäumen überschattet, durchplätschert ihre Hauptstraße, deren zierliche Häuser aus wohlgepflegten Gärten freundlich zurückhaltend und würdig respektvoll herüberschauen, als wollten sie dem aus den Bergen kommenden Wanderer sagen: „Geh nur weiter, das große stattliche Fürstenschloss liegt am Ende der Straße.“
Ein eigener Hauch durchweht das alte deutsche Residenzstädtchen. Das Gras wächst munter zwischen den Pflastersteinen, macht unter jedem Tritte einen höflichen Knix und richtet sich gleich hinterher stolz und selbstbewusst wieder auf: „Ich gehör‘ doch auch zur Residenz, ich bin Hofgras!“ Fernab zieht der Strom des großen Lebens, kaum dass ein leises Rauschen herübertönt. Aber man hat einen empfänglichen Sinn für alle Dinge, die das Leben schmücken; die Kultur des Geistes und der Sitte hat hier einen alten Boden, und man ist stolz auf große geschichtliche Erinnerungen. Eine Tietmelle, eine Volksgerichtsstätte, erhob sich schon in ältester Zeit hier auf freiem Grund, und dort, in den Waldbergen, als deren höchster die Grotenburg aufragt, hat Hermann der Cherusker die Römer geschlagen.
Man verpasst nichts, wenn man Buch und Vortrag nicht kennt; aber diese tiefenentspannte Art der Schilderung mag ich doch, und der Einfall mit dem „Hofgras“ ist allerliebst!
Bild & Wort (248)
Erzählverse: Der Blankvers (112)
Es gibt Gedichte, die vor allem weit wirken: entgrenzt. Ein Beispiel ist die erste Hälfte von Hugo von Hofmannsthals „Botschaft“:
Ich habe mich bedacht, dass schönste Tage
Nur jene heißen dürfen, da wir redend
Die Landschaft uns vor Augen in ein Reich
Der Seele wandelten: da hügelan
Dem Schatten zu wir stiegen in den Hain,
Der uns umfing, wie schon einmal Erlebtes,
Da wir auf abgetrennten Wiesen still
Den Traum vom Leben niegeahnter Wesen,
Ja ihres Gehns und Trinkens Spuren fanden
Und übern Teich ein gleitendes Gespräch,
Noch tiefere Wölbung spiegelnd als der Himmel:
Ich habe mich bedacht auf solche Tage,
Und dass nächst diesen drei: gesund zu sein,
Am eignen Leib und Leben sich zu freuen,
Und an Gedanken, Flügeln junger Adler,
Nur eines frommt: gesellig sein mit Freunden.
Wenn 16 Blankverse vergehen müssen, bevor der erste „richtige“ Punkt nicht nur am Versende, sondern überhaupt erscheint: dann heißt das wohl, dass sich der Satz hier viel Raum nimmt, darüber aber der Vers nicht vergessen wird, der sich trotz aller Zeilensprünge jedesmal wieder hörbar ausbildet.
Das Königreich von Sede (108)
Der König nagt am Hungertuch!
Nicht dass, verarmt, er’s nötig hätte,
Doch hält er viel vom Selbstversuch
(Und hofft, dass ihn ein Wunder rette).
Erzählformen: Das Distichon (100)
Eines der „Ventianischen Epigramme“ Johann Wolfgang Goethes geht so:
Ist denn so groß das Geheimnis, was Gott und der Mensch und die Welt sei?
Nein! Doch niemand hört’s gerne; da bleibt es geheim.
– Und das ist sicher schon „einfach so“ ein gutes Verspaar; aber ein kurzer Blick auf die Form lohnt trotzdem!
Im Pentameter fällt sicher die erste Hälfte auf, die mit zwei zweisilbigen Füßen besetzt ist, der deutlich seltensten Möglichkeit; und die Zäsur (nach „hört’s“), über die der Satz hier einfach hinweggeht. Im Hexameter, bei dem, auch das eine der seltener genutzten Möglichkeiten, alle Einheiten dreisilbig sind, ist die Versbewegung nach der Zäsur ein genaueres Hinhören wert – abgeteilt nicht nach metrischen, sondern nach Sinneinheiten:
Ist denn so groß das Geheimnis, || was Gott | und der Mensch | und die Welt sei?
Dieses ◡ — | ◡ ◡ — | ◡ ◡ — — (Ich glaube, das „sei“ ist hier schwer?!) hat eine nachdrückliche Kraft – ein langsames Losgehen, das schneller wird und Kraft gewinnt … Wie so viele andere Bruchstücke des Hexameters kann man auch dieses, beziehungsweise seine Bewegung, in eigenen Texten nutzen und damit schöne Wirkungen erzielen – einfach einmal versuchen!
Die Bewegungsschule (60)
Noch einmal zu diesem in den Einträgen der letzten Woche schon zweimal angesprochenen Satz von Peter Hacks:
Das Metrum setzt ein Erwartungsschema, und in dem Wechsel von Erfüllung und Nichterfüllung der Erwartung liegt der ästhetische Reiz.
Damit meint er nicht das Angleichen oder Entfernen der Versbewegung an das metrische Schema eines (iambischen) Verses, wie hier zuletzt angesprochen, sondern die Veränderung des Metrums (und damit natürlich auch der Versbewegung)!
Beim in (59) angesprochenen Vers aus dem Heym-Sonett „Printems“ …
Ein Ackerer geht groß am Himmelsrand.
… ist zum Beispiel die zweite Hebung mit einer sehr leichten Silbe besetzt worden, die dritte Senkung dagegen mit einer sehr schweren Silbe – mit Abteilung nach Sinneinheiten:
◡ — ◡ ◡ | — — | ◡ — ◡ —
Rein vom Metrum her könnte man sagen, zwei Iamben sind durch einen „Ioniker a minore“ ausgetauscht worden:
◡ — / ◡ ◡ — — / ◡ — / ◡ —
Ein Versfuß, über den schon August Wilhelm Schlegel geurteilt hat, er sei für den deutschen Iambus „nicht völlig unbrauchbar“. Und tatsächlich haben ihn einige Dichter in ihren iambischen Versen, und im englischen iambischen Vers ist er sogar vergleichsweise häufig!
Erzählformen: Die Brunnenstrophe (24)
Wer heute an die Brunnenstrophe denkt, hat vermutlich sofort irgendein Gedicht der Romantik im Ohr. Aber die Strophe ist viel älter, sowohl in ihrer weltlichen als auch ihrer geistigen Verwendung! Vor mehr als sechshundert Jahren gab es zum Beispiel schon ein Lied, dass man auch heute noch in der Adventszeit hören kann, diesen Anfangs:
Es kommt ein Schiff, geladen
Bis an sein’ höchsten Bord,
Trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
Des Vaters ewigs Wort.
Gerade einmal um die 60 Jahre alt ist dagegen „Ich steh‘ in Gottes Hand“ von Ruth Schaumann, entnommen dem 1947 bei Kerle erschienenen Band „Klage und Trost“:
Tod wirft vom Himmel nieder
Blitz, Flammen, Erz und Rauch,
Und singt er seine Lieder,
Ich selber singe auch:
Gegrüßt, der mich erschaffen,
Mich flirrend Körnlein Sand,
Und steht die Welt in Waffen,
Ich steh‘ in Gottes Hand.
Gegrüßt sein Sohn in Leiden,
Sein Geist in Liebe frei!
Und soll ich heut‘ verscheiden,
Steht mir dreieinig bei!
Dann mag dem Tod gelingen
Sein Wurf durch Angst und Pein,
Ich selber werde singen
Und sterbend lebend sein.
Diese Verse klingen „alt“ auf gleich mehrere Arten – S1 V2 zu Beispiel wirkt mir ziemlich barock (und ja: auch zu Gryphius‘ und Opitz‘ Zeiten war die Brunnenstrophe in Gebrauch); aber so ganz das „Heute“ zu verleugnen, das gelingt ihnen eben auch nicht?!