Dritter Gesang

Stimme zur Klage dich, Lied, das erst den Beglückten besungen,
Das noch länger so gern in den Räumen des Himmels verweilte!
Stimme zur Klage dich, Lied, um die schönsten, verlorenen Freuden!
Senke dich hin in die Tiefe der Nacht, in die Tiefe des Jammers!
Stimm‘ in den traurigen Ton des Verzweifelnden, schrecklich Verstoßnen!
Welcher Tumult wogt jetzt in dem Saal‘ der versammelten Götter!
Gegen und für den Verbrecher erheben sich Stimmen um Stimmen!
So war nimmer der Friede gestört in dem Kreise der Götter,
Als er gestört jetzt war durch des Menschen verwegnes Beginnen!
10 Selbst der erhabenen Tochter, der Weisheit Göttin, Minerven,
Zürnete Zeus, dass gegen den Blitz den Verbrecher sie schützte.
Venus eilte zum Vater, und fleht‘ um vergebende Gnade;
Selber Apoll und Diana bestürmten den Herrscher mit Bitten;
Aber der wilde Vulkan schwur nimmerermüdende Rache;
Mars auch zürnete streng dem Entweiher der göttlichen Waffen;
Amor aber, der Schalk, insgeheim nur lachte des Zwiespalts.
Niedergesenkt zwar hatte die Hand mit den Blitzen der Herrscher,
Weil er das kindliche Flehn nicht ganz zu verdammen vermochte;
Doch die gefaltete Stirn und die furchtbar drohenden Blicke
20 Zeigten, wie heftig der Zorn sein hohes Gemüt noch bewegte.
Dann, mit dem streng unerbittlichen Ernst des gefürchteten Richters,
Schweigen gebietend vorher, aus sprach der das strafende Urteil:
„Sei er auf ewig verbannt aus unserm geweiheten Kreise!
Sei er verstoßen von uns auf immer, der kühne Verbrecher,
Der unwert sich gezeigt der beglückenden Gnade der Götter!
Geb‘ ich dem Flehn auch nach, mit dem Blitz‘ ihn nicht zu zerschmettern:
Darf der Verbrecher doch nicht der verdienten Bestrafung entgehen!
Äolus, stürm‘ ihn hinab auf den Schwingen von einem der Diener,
Denen als Gott du befiehlst! Lass eilig hinunter ihn stürzen,
30 Dort in die Finsternis tief, auf den traurigen Klumpen, den Erdball!
Dort, dort büß‘ er die Schuld, denn strenge Bestrafung gebührt ihm!“
Kaum dies hatt‘ er gesagt, der erzürnete Zeus, und es führte
Äolus schon zu dem Saale hinaus den betäubten Verbannten,
Der, im Gefühle der Schuld, stumm, niedergeschlagenen Blickes
Hatte gestanden, in Furcht und Zittern erwartend das Urteil.
Banges Entsetzen ergriff, als die goldenen Türen des Saales
Ach, sich auf immer geschlossen für ihn, fast alle Gebliebnen.
„Wehe dem Armen!“, erklang’s, teilnehmend, von schüchternen Lippen,
Aber des Urteils Strenge zu tadeln, vermaß sich doch niemand.
40 „Weh ihm!“, klagten, mit traurigem Blick, Göttinnen und Götter,
Denn wie entsetzlich der Erdball sei, dass wussten sie alle;
Grausenerregend erschien drum allen die Strafe des Menschen.
Als ein verworfener Klumpen, mit ewigem Fluche beladen,
Schwebt im unendlichen Raume, den Göttern ein Greuel, die Erde;
Denn, boshafter Natur, ein Dämon, untergeordnet
Freilich dem Zeus, doch nimmer vertilgbar, hatte zum Wohnsitz
Schon sie erkoren, bevor sein Werk der Erschaffer vollendet.
Da stieß der sie hinweg aus der Reihe der herrlichen Welten,
Die er auf’s schönste geschmückt, und mit glücklichen Wesen bevölkert,
50 Dass ihr Anblick nimmer die Augen der Götter beleid’ge.
So nun schwebte sie noch, roh, wie sie entstiegen dem Chaos,
Freudlos, ohne lebendigen Schmuck von Tier und von Pflanze,
Ein unförmlicher Ball, voll grausiger Höhen und Tiefen.
Niedrige Geister allein, in gespenstische Hüllen gekleidet,
Lichtscheu, freudeberaubt, nur Schrecken erregend und Abscheu,
Hausten in Klüften, durchschlichen die Täler, umflogen die Berge,
Tonlos, ohne Genuss hinschleppend das traurige Dasein.
Dieser entsetzliche, weit von den Göttern geschiedene Erdball
Sollte der Wohnort sein für den armen, verstoßenen Menschen!
60 Sturmwindsfittige rissen ihn fort aus dem Raume des Himmels,
Rissen gewaltig ihn fort, in entatmender, schrecklicher Schnelle,
Unabsehliche Weiten hinab, tief, tiefer und tiefer,
Dunkler und finstrer bis hin auf die traurig umnachtete Erde!
Wild auffuhren und flogen umher die gespenstischen Wesen,
Auf von den Sitzen geschreckt durch des Sturmwinds schreckliches Toben,
Das sie noch nimmer gehört, das alle mit Grausen erfüllte.
Mochten sie fliehn auf den Berg, in das Tal: es erreichte der Sturm sie,
Jagte sie wild, in entfesselter Wut, mit den brausenden Flügeln,
Bis sie, müde gejagt, sich in tieferen Höhlen verbargen.
70 Lange bewusstlos lag auf dem harten Gestein der Verbannte.
Aber der Sturm aufrüttelt auch ihn, wild brausend und heulend,
Ruft ins erschrockene Ohr ihm laut sein höhnendes Wehe,
Brauset ihm zu den bestrafenden Fluch der erzürneten Götter,
Heult ein schreckliches Lied von dem nächtlichen Greuel des Erdballs,
Heult Melodien, im schneidensten Ton, zu den Klagen des Armen!
Dieser, mit Beben erwacht aus der langen, betrübten Betäubung,
Schnell zum Gefühle gebracht, welch schreckliches Los ihn getroffen,
Wild auffahrend, verklagt‘ er such selbst und verklagt‘ er die Götter,
Schalt ihn grausam, den zürnenden Zeus, schalt grausam Minerven,
80 Dass ihr deckender Schild dem vernichtenden Strahle gewehret;
Und laut frevelnd im Schmerz der besinnungslosen Verzweiflung,
Rief er zu Zeus, schnell einen der Blitz‘ aufs Haupt ihm zu schleudern,
Welcher, erbarmungsvoll, von des Daseins Fluch ihn befreie.
Aber es kam kein rettender Blitz! Es verhallte der Frevel
Schwach im Geheule des Sturms, und drang nicht auf zu dem Himmel!
Als, mit ermüdetem Fittig, der Sturm nun ruhete, schweigend,
Als todstill nun wieder es war auf dem traurigen Erdball,
Klagende Seufzer nur noch aus der Brust des Verzweifelten stiegen,
Kamen sie wieder hervor aus den Höhlen, die flücht’gen Gestalten,
90 Lauschten umher, leicht schwebenden Tritts, und vernehmend die Seufzer,
Flohen und nahten sie bald, bald flohen und nahten sie wieder,
Solches Getön nicht gewohnt, scheu schwankend in Furcht und in Neugier.
Dreister geworden indes im Belauschen des friedlichen Fremdlings,
Der in der Finsternis nicht von der Stelle zu gehen vermochte,
Kamen sie näher und näher, umschwankten ihn enger und enger,
Streiften mit luft’gen Gewanden, berührten mit luftigen Gliedern,
Prüfend, die neue Gestalt, fremdartigen Stoffes und Wesens.
Ohne zu wissen, wovor, schrak da der Berührte zusammen!
Eiskalt fuhr es, er wusste nicht, wie, durch Mark und Gebein ihm!
100 Schauer von außen, und Schauer von innen durchbebt‘ ihn gewaltsam!
Mehr, als des Sturmes Geheul ihn zuvor mit Schrecken erfülle,
Schreckt‘, unheimlicher Art, ihn solch todstilles Berühren!
Jetzt aus streckt er die Hand, zum schüchternen Suchen und Greifen;
Aber umsonst sein banges Bemühn, sein Lauschen und Suchen!
Todstill immer berührt, nichts konnt‘ er doch finden und fassen.
Bebenden Atems und Tons, jetzt rief er und fragt‘ er: „Wer seid ihr?
Stehet mir Red‘, und weilet bei mir, ihr flüchtigen Wesen!
Bleibt teilnehmend bei mir! Lasst freundliche Worte des Trostes,
Lasst nur Laute mich hören, vernehmliche, freundliche Laute,
110 Dass mich die schreckliche Qual der entsetzlichen Stille verlasse!“
Kein antwortender Laut gab aber Gewährung der Bitte!
Todstill blieb es umher; und geschreckt von der Stimme des Fragers
Waren entflohn, in verworrener Hast, die gespenstischen Wesen.
Finster und still, tief finster und still, als wäre des Todes
Ewiger, schrecklicher Thron die verworfene, traurige Erde,
War es und blieb es ringsum nun länger und länger, als sollte
Ewig der Mensch so büßen die Schuld, in unendlichem Jammer!
In zunehmender Qual jetzt flucht er der Stille, dem Dunkel,
Fuhr dann, plötzlich erschreckt von dem eigenen Fluche, zusammen,
120 Warf auf den Boden sich hin, laut rufend: „Vernichtung! Vernichtung!“
Schweigend verziehn das verwegene Wort dem Verstoßnen die Götter,
Mitleid habend mit ihm. Und damit ihm Linderung werde,
Schwebte zur Erde des Schlafs barmherziger Genius nieder,
Drückte die Augen des Klagenden zu, mit vergessendem Schlummer
Ruh‘ in das zagende Herz des Verzweifelnden endlich zu bringen.
Holder, erquickender Schlaf, mildlächelnder Bote vom Himmel!
Unglückmildernder, zaubrischer Schlaf! Wohltäter des Menschen!
Das dich haben zur Erde die Götter, erbarmend, gesendet,
Welch ein Tröster, in Not und in Schmerzen der Seel‘ und des Körpers,
130 Ist hiedurch, in des Unglücks Nacht, dem Gequälten gegeben!
Siehe, da ruht auf dem rauen Gestein, als läg‘ er auf Rosen,
Regungslos, der entschlummerte Mensch, mit geschlossenen Augen,
Innen lebendig genug, doch ohne Gefühl und Bewusstsein.
Nichts mehr weiß er von Not und von Qual; und die äußere Stille,
Der er geflucht, jetzt schirmt sie dem Schläfer den inneren Frieden.
Doch ihm sollt‘ auf dem rauen Gestein noch schöneres werden!
Noch ein Genius schwebte herab, als Bote vom Himmel!
Er, der phantastische Traumgott, war’s, der allmächtige Zaubrer,
Der in die schwärzeste Nacht weiß himmlische Blumen zu streuen,
140 Der ins zerrissene Herz bringt herrlichster Seligkeit Fülle.
Wird auch himmlische Wonn‘ auf der Erde dem Menschen zu Teil nicht:
Haben des Traums süß täuschendes Glück ihm die Götter gegönnt doch.
Schnell den Betrübtesten hebt ein seliger Traum in den Himmel,
Zaubert ihn ans entfernteste Ziel heißglühender Sehnsucht,
Zaubert zum Gott den, der sich verlassen geglaubt von den Göttern.
Welch ein seliges Lächeln umschwebt des Entschlummerten Lippen!
Ach, es verkündet des herrlichsten Traums ungeahnete Wonne!
Wähnt er sich doch aufs neue versetzt in die Räume des Himmels!
Weiß er doch nichts von der Erd‘ und von ihrer entsetzlichen Nacht mehr!
150 Himmlischer Äther und himmlisches Licht überströmen ihn freudig!
Venus führet in selbst in den Saal der versammelten Götter!
Ernst zwar schauen die Götter ihn an, und keiner begrüßt ihn;
Aber sie zürnen dich nicht, sie winken zum Throne des Zeus ihn.
Still schaut dieser ihn an, mitleidigen, prüfenden Blickes –
Da, im Gefühle der Schuld, stürzt reuig der Wiedergekehrte
Hin an den Stufen des Throns, bang flehend um Gnad‘ und Vergebung!
Da – o Wonne für ihn! – Zeus reicht die vergebende Hand ihm,
Nennet ihn Sohn, schließt, liebebewegt, in den mächtigen Arm ihn;
Und jetzt eilen herbei Göttinnen und Götter, und schließen
160 All‘ in den Arm den Entzückten, zur Feier der schönen Versöhnung!
Seliger, seliger Traum! So hatte der wirkliche Himmel
Nie den beglückten beglückt, als jetzt der erträumte den armen,
Jammerbeladnen, vom Himmel verstoßenen Schläfer beglückte!
Herrlicher Traumgott, du, du brachtest zuerst auf die Erde
Seligen Glückes Gefühl, und machtest verwandt sie dem Himmel!