Archiv für den Monat Dezember 2014
Bücher zum Vers (61)
Hans-Heinrich Hellmuth / Joachim Schröder (Hrsg.):
Die Lehre von der Nachahmung der antiken Versmaße im Deutschen.
Dieser Band ist 1976 bei Fink erschienen, in der Reihe „Studien und Quellen zur Versgeschichte“, und es geht in ihm eher um die „Quellen“: Auf fünfhundert Seiten sammeln die Herausgeber ein Fülle von Texten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die Frage betreffend, wie sich denn die griechische beziehungsweise lateinische Sprache und Metrik zur deutschen Sprache und Metrik verhalten; und was daraus für Folgerungen zu ziehen sind, will man, für die Übersetzung oder den eigenständigen Text, die antiken Versmaße im Deutschen nachbilden.
Das liest sich nicht immer einfach, auch des zeitlichen Abstands wegen; und die oft ausufernden metrischen Fach-und Streitgespräche tun ein übriges. Aber trotzdem: Ein wichtiger und sehr lehrreicher Band, beschäftigt man sich auch heute noch mit diesen Fragen!
Und es sind auch längst nicht alle Texte schwer zugänglich. Ziemlich am Anfang (auf Seite 5) findet sich zum Beispiel dieser Brief von Ewald von Kleist, geschrieben am 21. Januar 1747 an Ludwig Gleim:
Warum tadeln Sie mir mein Landleben nicht? Dies würde mich nicht abschrecken; ich bin nicht so furchtsam, als Sie sich einbilden. – Es ist Ihnen anstößig gewesen, dass ich habe Tulpen und Rosen zugleich blühen lassen; ob dies gleich nun nicht anz wider die Natur ist, so lass‘ ich mir doch alle Ihre Änderungen gefallen. Sie werden hier und da noch unrichtige Dactylos bemerkt haben, z.B. gleich im Anfange: „Füllt meine Seele“, „— v v — v“; sie sind aber nicht sehr häufig, und ich will sie schon wegbringen. Im Fall, dass sie das deutsche Silbenmaß aber nach der lateinischen Prosodie abmessen wollen, werden sie unzählige Schnitzer darin gewahr werden. Dies geht aber nicht. So ist zum Beispiel die positio firma der Römer im Deutschen tausendmal kurz. Ich sage nicht „Lieb–ling„, “ — —„, sondern „Liebling“, „— v“; nicht „flie–ßende“, „— — v“, sondern „fließende“, “ — v v “ und so weiter. Ja, selbst die Diphthongen sind oft kurz; zum Beispiel „Laubhöhle“, „— v v „, nicht „Laub–höhle“, „— — v“; nicht „Wohn–hauses“, „— — v“, sondern „Wohnhauses“, „— v v“. Doch ist dieses nur in Derivativis; in der Primitivis sind sie immer lang. Man muss also im Deutschen das Silbenmaß bloß nach dem Gehör einrichten, und ich weiß nicht, was Uz mit seinen reinen Dactylen will. Lass unsere Nachkommen sich aus uns eine deutsche Prosodie machen, wie die lateinischen Grammatiker die Prosodie aus den lateinischen Autoren gezogen, nicht aber diese sich nach den Regeln jener gerichtet haben.
Kein sehr langer Brief; aber schon genug Stoff für einige durchgrübelte Stunden … Das erwähnte „Landleben“ ist dann als „Der Frühling“ erschienen; ein Text, auf den einzugehen lohnt und auf den ich daher auch zurückkommen möchte.
Und um zum vorgestellten Buch zurückzukommen: Unbedingt reinschauen, ergibt sich die Möglichkeit dazu!
Erzählformen: Das Reimpaar (15)
Reimpaare aus iambischen Vierhebern sind jedem vertraut; man schwingt in ihre Bewegung ein, ohne etwas dagegen tun zu können?!
Um so erstaunlicher eigentlich, dass es micht heute so richtig aus der Kurve getragen hat beim gedanklich-lauten Lesen!
Das sind die ersten Verse von Heinrich Christian Boies „Standesmäßig“:
Einst reist ich durch ein Städtchen fein.
Ein schöner Morgen. Die Uhr schlug neun.
Das Städtchen fein wollt ich besehn,
Hub an Straß auf Straß ab zu gehn.
Arbeitsam lärmt der ganze Ort,
Es hämmert hier, es klopfet dort,
Der trägt das her, der schleppt das hin:
Wie wohl ward mir dabei zu Sinn!
– Eigentlich handelsübliche, ein wenig dröge Vierheber, wie man sie von Boie erwarten kann. Aber bei …
Hub an Straß auf Straß ab zu gehn.
… wurde mir eine Mischung aus veränderten Schreibgewohnheiten zum Verhängnis!
Was ich lesen wollte, war:
Hub an, Straß(e) auf Straß(e) abzugeh(e)n.
– und diesem Sinn wollte sich die iambische Bewegung so gar nicht fügen. Aber das meinte Boie ja überhaupt nicht, sondern:
Hub an, straßauf, straßab zu gehn.
– Und dann passt wieder alles. „Wie wohl ward mir dabei zu Sinn“, und wie groß ist doch der Schrecken und wie groß das Unwohlsein, wenn man aus der Bewegung, die durch das Gedicht führt und trägt, gerissen wird; aus welchen Gründen auch immer.
Go, Wiegenlied
Einer jungen Gospielerin zu singen
Schlafen alle doch inzwischen:
Auf den Tischen schlafen Bretter,
Auf den Brettern schlafen Dosen,
In den Dosen schlafen Steine,
Drum schlaf nun auch, du Kleine,
Wie die Steine in den Dosen,
Wie die Dosen auf den Brettern,
Wie die Bretter auf den Tischen.
Bücher zum Vers (60)
Dieter Lamping (Hrsg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte
2011 bei J.B. Metzler erschienen, schafft es dieser Band, auf knapp über 400 Seiten eine erstaunliche Menge an Wissen unterzubringen! Das Inhaltsverzeichnis führt an:
I. Theorie und Poetik der Lyrik, II. Lyrikanalyse, III. Typologie der Lyrik (Funktionen; Themen und Verfahren; Relationen), IV. Lyrikvermittlung, V. Geschichte der Lyrik (von „Griechische Lyrik“ bis „Gegenwart“).
Also eigentlich ein recht vollständiger, bis fast ins Heute reichender Überblick?! Dass dabei nicht alles bis ins kleinste besprochen werden kann, leuchtet ein; aber dank vieler Verweise und Literaturangaben ist ein „Weiter“ eigentlich immer möglich, sollte man an einigen Punkten doch mehr wissen wollen.
Der knappe Raum erfordert allerdings auch eine knappe Ausdrucksweise der vielen Beiträger, wodurch das Lesen manchmal etwas mühselig wird. Aber das kann man in Kauf nehmen, denke ich!
Ohne Titel
Stühle
Stell ich den Fischen ans Meer,
Kleine Stühle:
Die Flut trägt sie fort.
Erzählformen: Das Sonett (12)
Zu Weihnachten läuft man Gefahr, dem ein oder anderen Beschenkungsversuch nicht ausweichen zu können. So ging es auch mir, und daher habe ich mir eben ein Audiobuch angehört, „made by WDR“: Robert Gernhardt spricht. Fertig ist das Sackgedicht heißt es.
Man kann 72 Minuten schlechter verbringen. Etwas störend ist, dass Gernhardt zwar viele Gedichte geschrieben hat, aber auf Lesungen nur wenige davon vorträgt, weswegen man manches schon einige Male gehört hat.
Erst recht gilt das für sein allgegenwärtiges Sonett „Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs“. Immerhin sagte er bei dieser Gelegenheit – die Lesung fand 1998 in Bonn statt – gleichsam im Vorbeigehen einen kleinen Satz, der mich aufhorchen ließ:
Man kann Sonette nicht richtig hören.
Und wenn Gernhardt dann liest, weiß man, was er meint: er ordnet den Vers fast vollständig dem Satz unter im Vortrag, die Reimwörter werden nicht herausgehoben, Gleichklänge scheinen damit fast zufällig da zu sein. Das kann man so machen, und es ist sicher auch wirkungsvoll; aber ist es eine Wesenseigenschaft von Sonetten?!
Wer mag, kann Gernhards Vortrag zum Beispiel auf Youtube lauschen (bei einer anderen, früheren Lesung):
Das kann man sich alles anhören, das Sonett trägt er aber ab 3:10 vor.
Danach lohnt sich vielleicht noch ein Besuch bei lyrikline.org:
– Denn da steht zum einen der Text, also das Sonett (auch) als „Bild“; und zum anderen ist Gernhardt in der dort vernehmbaren Lesung nicht ganz so streng dem Vers gegenüber – den Übergang vom ersten ins zweite Quartett kennzeichnet er sehr deutlich, obwohl das vielleicht auch einfach nur ein Hakler ist; jedenfalls fällt im Vergleich auf, wieviel deutlicher auch das Reimwort zum Tragen kommt!
Der Übergang aus den Quartetten in die Terzette, seit altersher ein Haltepunkt, ist aber so deutlich „nicht-haltend“ angelegt, dass deine Pause eigentlich unmöglich ist; trotzdem unterscheiden sich die beiden Lesungen auch da.
Na ja. Insgesamt kann man Sonette schon „richtig hören“, denke ich; wenn sie der Verfasser darauf anlegt und der Vortragende dann hörbar machen will. Und Zuhörer, die vertraut sind mit dem Sonettbau, sind bestimmt nicht von Nachteil dabei …
Bild & Wort (114)
Erzählformen: Das Madrigal (14)
Johann Nikolaus Götz ist ein Dichter, der der näheren Betrachtung wert ist. Unbedingt! Auch wenn er gern, wie hier, nur Versatzstücke aus der Antike beziehungsweise der Schäferdichtung aneinanderreiht – darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, wie sich seine Verse bewegen und ineinandergreifen, und überall Maß waltet und Wohlklang; und das macht Götz einfach wunderbar. Nicht umsonst hatten andere Dichter eine hohe Meinung von ihm, zeitgenössische wie spätere!
Die Macht der Liebe
Mich wiegete das Flüstern reger Bäume
Und mein geliebter Bach in einem Erlenhain
In sanften Schlaf und sanfte Träume
Bei spätem Abend ein.
Ein Waldsirenenchor durch tausend süße Lieder
Erweckte mich am Morgen wieder.
Aurora ging geschmückt hervor
Aus ihrem Rosentor,
Gleich einer Braut an ihrem Feste.
Der Flora leichte Hand, der Hauch der linden Weste
Bestreuete die Flur, erfüllete die Luft
Mit Purpur und mit Balsamduft.
Ismene kam: nun hatt‘ ich für Auroren,
Für Zephyrn und für Floren
Kein Auge mehr, und für der Vögel Chor
Und meinen Bach kein Ohr.
„Aus nichts etwas machen“ nennt man das wohl; aber auch dieses Auffächern, dieses Darreichen will gelernt und gekonnt sein!
Das Königreich von Sede (61)
Die Sonne sinkt; am Wassergraben
Die Frösche sich versammelt haben.
Sie schweigen still; aus ihrem Schweigen
Beginnt ein Toter aufzusteigen,
Aus dem Grabe sehn sie steigen:
Einen Geist mit einer Geigen,
Spielen, sich verbeugen, winken,
Traurig lächelnd niedersinken.