Ohne Titel

Ach, Menschen gibt’s, die kommen nie zum Ende.
Beim Reden, beispielsweise – legen los,
Und reden über, was weiß ich! Wenn’s bloß
Gerede ist. Der Hörer ringt die Hände …

Gedichte gibt’s desgleichen, denen stände
Ein Schlusspunkt trefflich, an der Stelle, wo’s
Nichts mehr zu sagen gibt, ein schwarzer Kloß
Im Verse-Hals: Wer ist’s, der den erfände?

Nichts schöner als das Reden über sich:
Sich selbst zu schildern ist die größte Freude,
Breit strömt die Rede durch der Sätze Bett …

Nun: Ich, nicht anders, rede über mich,
Und wandle mich, indem ich mich vergeude,
Im letzten Vers – Reim, Fluch dir! – zum Sonett.

Erzählformen: Die alkäische Strophe (11)

Im evangelischen Gesangbuch findet sich ein Lied von Apelles von Löwenstern aus dem Jahre 1644:

 

Nun preiset alle
Gottes Barmherzigkeit!
Lob ihn mit Schalle,
Werteste Christenheit!
Er läßt dich freundlich zu sich laden;
Freue dich, Israel, seiner Gnaden!

Der Herr regieret
Über die ganze Welt.
Was sich nur rühret,
Ihm auch zu Füßen fällt.
Viel tausend Engel um ihn schweben,
Psalter und Harfen ihm Ehre geben.

Wohlauf, ihr Heiden,
Das Trauern lasset sein!
Zu grünen Weiden
Stellet euch willig ein!
Da lässt er uns sein Wort verkünden,
Machet uns ledig von allen Sünden.

Er gibet Speise
Reichlich und überall,
Nach Vaters Weise
Sättigt er allzumal.
Er schaffet früh- und späten Regen,
Füllet uns alle mit seinem Segen.

Drum preis und ehre
Seine Barmherzigkeit,
Sein Lob vermehre,
Werteste Christenheit!
Uns soll hinfort kein Unfall schaden;
Freue dich, Israel, seiner Gnaden!

 

Das hat auf den ersten flüchtigen Blick nichts mit der alkäischen Strophe zu tun, der genauere zweite Blick zeigt aber: es sind alkäische Strophen, nur eben nach dem Geschmack der Zeit gestaltet, meint, in die vom Barock bei weitem bevorzugte Reimform gebracht!

Noch einmal die Grundform der Strophe:

x X x X x | X x x X x X
x X x X x | X x x X x X
x X x X x X x X x
X x x X x x X x X x

Die ersten beiden Verse sind nun an der Zäsur auseinandergenommen worden, und die vier entstehenden Verse kreuzgereimt; die letzen beiden Verse blieben, wie sie waren, und wurden paargereimt. Fertig:

x X x X x a
X x x X x X b
x X x X x a
X x x X x X b
x X x X x X x X x c
X x x X x x X x X x c

Eine eigenartige Ausformung der alkäischen Strophe! Aber auch, wenn der Reim jetzt die Versenden heraushebt und die Verse stärker vereinzelt – die grundlegende Bewegung der Strophe ist immer noch da.

Wer mag, kann sich ja einmal versuchen an dieser Strophe; zumindest wird sich das Gefühl verbessern, wie sich Reim und Rhythmus zueinander verhalten und einander beeinflussen. Am Ende hat der Reim nichts verloren in den Nachbildungen der antiken Formen; aber das heißt ja nicht, man könne es nicht hier und da trotzdem wagen …

Erzählformen: Das Reimpaar (14)

Gottfried Keller hat unter dem Titel Panard und Galet – „Französische Poeten des 18. Jahrhunderts“, wie er in einer Fußnote anmerkt – drei Gedichte versammelt, bei denen der Blick auf den Bau lohnt!

Das erste Gedicht schildert die Erlebnisse der beiden an einem Osterwochenende und ist in einer fünfzeiligen Strophe gehalten. Die erste Strophe:

 

Sie kamen von der Tränke,
Sie wankten aus der Schänke
Mit einer Zecherschar,
Als es Karfreitagmorgen
Und grabesstille war.

 

Das erinnert etwas an die vom Verserzähler schon vorgestellte Lindenschmidt-Strophe?! Wie diese auch ist der von Keller verwendete Fünfzeiler eine trickreiche kleine Form, ein beschränkter Raum, in den Keller die Sätze mit sicherer Hand einfügt!

Das zweite Gedicht nutzt dann das Reimpaar, einzeln gesetzt:

 

Auf seinem Bette liegt Galet,
Weglachend seines Todes Weh.

Er schickt Panard den Morgengruß,
Sechs neue Lieder zum Genuss.

„Erst wollt ich reimen, liebes Kind!
So viele, als Apostel sind.

Doch hab ich’s nur auf sechs gebracht,
Weil schon der Totengräber wacht.

Der Totengräber an der Tür
Mit seinem Spaten lauscht herfür.

Der hackt mich mit den andern sechs
Bald unter grünes Grasgewächs.

Leb wohl, mich dünkt, nun muss es sein,
Der beste Reim ist Rhein und Wein!“

 

Das klingt – anders? Mutwilliger, frecher, unbekümmerter, „weglachend“ – sicher auch durch die sorglose Reimbeschaffung …

Im dritten Text beklagt Panard die Lage des Grabes, wie zu erwarten, in weinseligem Ton (die drei Gedichte stehen in Kellers Werken mitten in einer ganzen Gruppe solcher Texte). Eine Beispielstrophe:

 

Es regnet meiner Tränen Fluss
Wie toll zu jeder Stund,
Dass mit der Hand ich decken muss
Das Glas an meinem Mund!

 

– Diesmal also kreuzgereimte Vierzeiler. Aber wieder fließender, ruhiger, als es eben noch die Reimpaare waren.

Daraus muss nicht allzuviel folgen; aber es ist ein weiteres Beispiel dafür, wie das Reimpaar aus iambischen Vierhebern bei den verschiedenen Verfassern geklungen hat und wofür sie es verwendet haben; und diese Beispiele sind nützlich für jeden, der sich heute am Reimpaar versuchen will. Denn wenn solches Dichten heute noch überzeugen soll, muss dabei auch einiges an Gestaltungswillen erkennbar werden, sonst wirken solche Reimpaare schnell wie „eben mal dahingedichtet“ und werden auch so wahrgenommen und beurteilt …

Etwas zusätzliches Wissen zu Kellers Gedichten kann, wer mag, bei Gert Sautermeister erwerben.

Das Königreich von Sede (58)

Heller Tag! Die Frösche ziehen
Ihre Bahnen durch den Graben,
Stets von neuem, und wenn einer
Müde wird, schwimmt er zum Ufer,
Sich im Grase auszuruhen,
Oder klettert auf ein Blatt der
Wasserrose, reichlich wächst sie
In dem Graben um Schloss Sede,
Klettert auf das Blatt und wärmt sich
In der Frühlingssonne Licht;
Lauscht dabei Prinz Klappstuhls Stimme.
Die erzählt von alten Zeiten,
Und erzählt von alten Taten,
Allem dem, was einst geschah, als
Boden Sedes König war,
Allem dem, was steht verzeichnet
In den Büchern jener Tage.
Eines davon hat Prinz Klappstuhl
Aufgeschlagen auf den Knien,
Sitzend an des Grabens Rande,
Und die Füße baumeln müßig,
Noch umhüllt von Strumpf und Schuh;
Frühling ist es, noch nicht Sommer.
Unbeweglich lauscht der Stimme,
Der Erzählung so der Frösche
Schar, auf Blättern, wohlbesonnt;
Unbeweglich auch, wenn Fehler
Sie bemerken im Erzählten,
Denn die Frösche wissen vieles
Aus den alten Tagen Sedes:
Nicht erheben sie die Stimme,
Nicht ertönt ihr lautes Quaken,
Höchstens, dass ein Aug‘ sich auftut,
Kurz nur, kaum mehr als ein Blinzeln,
Und Prinz Klappstuhl prüfend mustert,
Und das Buch auf seinen Knien.

Erzählverse: Der Hexameter (83)

Goethes Wilhelm Tell

Johann Peter Eckermanns „Gespräche mit Goethe“ sind ein Buch, in das immer mal wieder hineinzuschauen sicher lohnt. Der Eintrag „Sonntag, den 6. Mai 1827“ berichtet von Goethes Plänen aus dem Jahre 1797, die Sage vom Tell als episches Gedicht in Hexametern zu behandeln. Goethe berichtet dann, wie er sich den Tell gedacht hatte, wie den Geßler, und vieles mehr; dann fährt er fort:

Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glanz der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusammenkünften über Brücken und Stegen.

Von allem diesem erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu tun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewunderungswürdiges Gedicht schrieb.

Und so bekam die Welt dann den Schillerschen Tell. Nicht dass ich den missen möchte, aber die Schilderung Goethes lässt mich doch eine Art von Verlust empfinden über etwas, das es gar nicht gibt. Was wären das für Hexameter gewesen, mit denen Goethe See und Sturm und Zusammenkünfte geschildert hätte? Hätten sie gehalten, was seine dreißig Jahre später gesagten Worte versprechen? Bestimmt! Großartige Verse, Sprache nicht mehr, sondern schon Gesang, so wie er eben die gelegentlichen Hexameter nicht gemurmelt, sondern gesummt hat; leise gesungen.

Bücher zum Vers (56)

Bert Nagel: Das Reimproblem in der deutschen Dichtung. Vom Otfriedvers zum freien Vers.

Nagels Einleitung leistet, was eine gute Einleitung leisten muss: Sie klärt den Leser über das auf, was er im Buch zu erwarten hat.  Und hält sich das „Reimproblem“ des Titels noch halbwegs frei von Wertungen, bezieht die Einleitung deutlicher Stellung: Von dem „Ärgernis des Reims“ ist dort die Rede,  und noch schärfer: „Der Reim ist der Feind sprachgerechten dichterischen Ausdrucks“. Und ähnlich noch viele Male.

Damit ist das Ziel des Buches schon deutlich gemacht. Anderes schimmert durch, wenn es heißt „Geschmackserziehung sieht sich hier an eine schwer überschreitbare Grenze geführt.“ Oder: „Worum es hier geht, ist Sprachverdichtung statt Sprachverschwendung, nicht Manipulation, sondern Ernstnehmen der Sprache und damit Umerziehung zu einem neuen, sprachgerechten, sprachbewussten Hören.“

Wenn man als Leser nun die Art im Hinterkopf behält, wie alle Inhalte des Buches so ausgewählt wurden und eingesetzt werden, dass sie möglichst überzeugend erweisen, was von vorneherein als richtig vorausgesetzt wird; und wenn es ihm nichts ausmacht, von einem gelegentlichen „Umerziehungsversuch“ (schon erstaunlich: man kann im gleichen Satz „Sprachbewusstsein“ verwenden und den eher fragwürdigen Ausdruck „Umerziehung“!) angerempelt zu werden; kann er diesen Band durchaus mit Gewinn zur Hand nehmen, und sei es auch nur, um zu erfahren, was denn Dichter wie Benn, Brecht, Rühmkorf, Domin und Krolow zum Reim (auch) gedacht und gesagt haben.

Erschienen ist der Band 1985 im Erich Schmidt Verlag, also vor fast 30 Jahren; aber die „Reimfrage“ stellt sich ja eigentlich immer wieder neu und muss auch immer wieder neu beantwortet werden; so gesehen also auf keinen Fall ein „altes“ Buch!

(Ein anderer Band ähnliches Inhalts wurde vom Verserzähler schon vorgstellt: Der Kampf um den Reim.)

Ohne Titel

Hoch in den Bergen,
Jenseits von allem,
Liegen zwei Kiesel;
Regen sich nun.

Erst ist ein Zittern,
Dann ist ein Beben,
Jeder der beiden
Rollt jetzt herum,

Kommt, wo der andre
Vorher gelegen,
Schließlich zur Ruh …

Jenseits von allem
Liegen zwei Kiesel;
Heiteren Sinns.

Erzählverse: Der Blankvers (51)

Der folgende Blankvers-Text von Marie Luise Kaschnitz ist zuerst im August 1943 veröffentlicht worden, mitten im Krieg; in einer Frankfurter Zeitung. Ich habe ihn aber den „Gesammelten Werken“ der Verfasserin entnommen, dem fünften Band, herausgegeben von Büttrich und Miller, erschienen 1985 im Insel Verlag; dort stehen die Verse auf Seite 118.

 

Wenn Unterwelt noch ist, ein Reich der Schatten,
Wenn noch ein Strom die dunkle Grenze bildet
Und noch ein Fährmann seinen Nachen führt,
Dann ist ein Drängen jetzt von jungen Seelen
Am öden Ufer und ein schrecklich stilles
Hinübermüssen und Zurückverlangen
Ein Ungesättigtsein von so viel Mündern
Ein Schrei nach Welt aus so viel stummen Kehlen
Ein letztes Ringen um das große schöne
So jähen Mutes abgetane Sein –

Doch unter allen diesen wandert heute
Wie ehedem der eine oder andre,
Der länger nicht, doch inniger gelebt.
Dem war ein Tag soviel wie tausend Tage
Und jede Blüte eines Sommers Fülle
Und jede Frucht des ganzen Herbstes Glanz.
Und da gleich einer einzigen Lebensstunde
Das Leben ihm verschwenderisch verflogen
Und er das Wort Vergänglichkeit zu üben
Im trunknen Lobgesang nicht Muße fand

Liegt auf dem Antlitz ihm ein letztes Strahlen
Des süßen Lichts. Ruhig herrscherlich
Tritt er den Fährmann an, die grausen Schluchten
Umfliegt sein Blick wie einst Campaniens Küsten
Und angelangt in Sumpf und Nebelschwaden,
Geht er die Stirn im reinen Quell zu baden
Und findet Asphodelos in den Wüsten
Und Eichenschatten. Und Elysium.

 

– Da ließe sich über das Wann und Wo und Wie sicher manches denken und sagen?! Die Blankverse jedenfalls sind sichere, ruhig-klare, würdevolle Räume, in denen der Inhalt gut aufgehoben ist.

Was mich ein wenig erstaunt hat, ist das „letzte Strahlen des süßen Lichts“, oder eigentlich sogar nur das „süße Licht“. Das ist so ein Ausdruck, der immer mal wieder auftaucht, und dem nachzuspüren man sich vornimmt; und es dann doch nicht tut.

.                                               … , die Sonne sinkt hinter dem Gipfel
Purpurner Berge hinab, noch scherzen in ihrem Strahle
Sorglose Eulchen dem Tod entgegen und atmen des Lichtes
Süßen Überrest ein. …

Das hat, fast 200 Jahre vor dem Text von Kaschnitz, Christoph Martin Wieland geschrieben in seinem in Hexametern verfassten „Frühling“ – auch eine ganz eigene Stelle, finde ich; und auch wenn „süß“  gar nicht unmittelbar auf „Licht“ bezogen wird, war das wohl meine erste Begegnung mit diesem Begriffspaar. Früher konnte so vieles „süß“ sein, was es heute längst nicht mehr kann … Schade eigentlich?! Und schön, dass es bei Kaschnitz eben doch noch geht, auch und vielleicht gerade in einem „antiken“ Rahmen.