Erzählverse: Der Blankvers (130)

Erich Freiherr von Feuchtersleben beginnt „Die Dioskuren“, den ersten Text seiner „Mythen“, in recht belehrender Weise:

 

Erhabnes Gleichgewicht ist Göttertugend,
Was Menschen adelt, wurzelt im Gefühl.
Des Geists Erhebung wie der Seele Neigung
Reißt Sterbliche zu schönen Wundern fort,
Die selbst der Götter Herzen sanft berühren,
Weil nur der Mensch sie wirkt und wirken kann.
Des Helden Tod, der ernsten Pflicht Erfüllung,
Der Lieb‘ und Treue rührende Gestalt –
Man sieht sie im Olymp, und selige Götter,
Das ewig heitre Gastmahl unterbrechend,
Sie nehmen Teil an dem verwandten Stamm,
Und Beifall nicken sie dem Sohn des Staubes,
Wenn er des Staubes Erbteil groß verwirft.

 

Das konne eigentlich nur das 19. Jahrhundert schreiben? Aber der Blankvers kommt auch damit gut zurecht.

Erzählformen: Der Zweiheber (31)

Wenn man es zulässt, kann der Reim bei so kurzen Versen wie Zweihebern vollständig „das Kommando übernehmen“ – Jens Baggesens „Des Liebenden Erdenwallen“ wäre da ein Beispiel:

 

Getrieben zu Paaren
Rennen und Laufen
Entatmete Haufen.
Auf Zeltern, zu Ross,
In Kutschen und Wagen –
Voll Päcken und Plagen,
Gefolgt von dem Tross
Der Särgen und Bahren,
Reiten und Fahren
Die schnaubenden Scharen
Durchs tote Gehege
Der staubigen Wege
Nach Erdengewinn –
Das Schlechte beginnend,
Das Ärgere sinnend,
Und endlich gewinnend
Das Schlechteste drin.
Lass fahren und laufen
Die törichten Haufen!

Zu Fuß und alleine,
Durch tönende Haine,
Mit ruhigem Sinn –
Auf schattigem Stege
Entfernt vom Gewimmel,
Und von dem Getümmel
Des Todes darin –
Im Auge der Himmel,
Im Ohre die Töne,
Im Herzen die Schöne –
Geleitet vom Triebe
Der ewigen Liebe –
Das Hohe beginnend,
Das Höhere sinnend,
Das Höchste gewinnend,
Ich wandle dahin.

 

Und immer so weiter. Da ringen dann das Unvermögen, derlei ernstnehmen zu können, und die entwaffende Wirkung all dieser gehäuften Gleichklänge miteinander, und es ist erstaunlicherweise nicht unmittelbar einsichtig, wer gewinnt …

Rätsel

Dich dem Mädchen, o Blume, verehrt der Jüngling, doch tritt dein
Letztes Zeichen nach vorn, wirst du der Gott, der ihn treibt.

Erzählverse: Der Blankvers (129)

„An eine unbekannte Schauspielerin nach einem Operettenabend“ hat Christian Morgenstern einen seiner Blankvers-Texte genannt. Er beginnt so:

 

Du siehst jetzt auch vielleicht auf deine Decke,
darunter sich dein schlanker Körper zeichnet,
und sinnst dem Rätsel deines Lebens nach…
Das wilde, wüste, aufgejagte Treiben
des Abends fiel zusammen wie ein Schaum,
von dem das Meer zurücktrat stumm und tot.
Die Maske liegt, der taube Trödel liegt
verachtet irgendwo, das Auge lächelt
nicht fürder; jener tiefe Leidenszug,
der abends schon dein Lächeln abgelöst,
beherrscht, verdunkelt nun dein Antlitz ganz.

 

Ein versgewordenes Nach-Denken im eigentlichen Sinn, und auch hier: Der Blankvers fasst es mit der größten Selbstverständlichkeit.

Erzählformen: Das Distichon (114)

Justus Friedrich Zehelein hat hübsche Epigramme in Distichen geschrieben, zum Beispiel „Frage an Laura“:

 

Als ich, o Laura, mit dir jüngst Blumen vom Gartenbeet pflückte,
Schmerzlich verwundete da mir eine Biene die Hand,
Und du rietest mir weise, mit Erde zu kühlen die Wunde,
Und der brennende Schmerz wich, und die Wunde ward heil.
Laura! Wird auch die Wunde, die tief im Herzen mir blutet,
Dann erst gekühlt und heil, wenn sie die Erde bedeckt?

 

Da könnte man auch über die Verse nachdenken, aber erstens sind die soweit gut gemacht; und zweitens ist der dargestellte Gedanke so nett, dass es hier einmal reichen muss, ihn einfach nur gut zu finden.

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (23)

Josef Weinheber weckt mit dem Titel „Sonntagnachmittag“ Erwartungen, die der folgende Text umfassend einlöst:

 

Meine Primeln, die ich anfangs Jänner
aus dem nassen Erdreich grub, sie prangen
jetzt in bunter Schale, wunderbare
sammetgelbe Sterne, mir am Schreibtisch.

In der süßen, stillen Langeweile
dieses Sonntagnachmittags bemüh ich
mit der Schere mich an ihren welken,
alten Blättern, schaff den neuen Trieben
Raum, rühr an die schlanken Stiele,
die wie Mondstrahl sind, schau in die feinen
Kelche – Spiegel, die den Schöpfer spiegeln –
stundenlang hinein und bin ganz wunschlos.

 

Und noch weiter so, ein ganzes Stück; eine ruhige Szene, die vom nicht weniger ruhigen, regelmäßigen Gang des Verses beglaubigt wird.

Am Telefon

Doktor Sotz, ich verstehe Sie gut! ruft glaubhaften Tonfalls
(Wer sich jahrein, jahraus mit wütenden Menschen herumschlägt,
Lernt schon bald, den Erregten auf passende Art zu begegnen:
Anteilnahme, gepaart mit ein wenig gerechter Empörung,
Wir, im gemeinsamen Kampf für die leider verlorene Sache)
Einer der Kundenberater, und wirklich müsste er taub sein,
Hörte er nicht den Schrei, der seiner Versicherung nachfolgt,
Wortlos zwar, doch immer verständlich: Verarsch mich nicht, Jungchen!

Geteilte Reime

Wilhelm Müller schrieb zu  seiner Gedichtreihe „Ständchen in Ritornellen aus Albano“:

Ich bin in der Form und im Ton meiner deutschen Ritornelle von den rückertschen Vorläufern abgewichen. Ich reime mit den Vokalen im ersten und dritten Verse (Assonanz), und mit den Konsonanten im ersten und zweiten (Alliteration). Die Vereinigung dreier Ritornelle zu einem Gedicht gibt ihnen lyrischen Ton, und die italienischen Lokalfarben mögen an die Heimat dieser Form erinnern.

Das liest sich dann so:

 

Rosensamen

Ich ging vorüber heut‘ an deinem Fenster,
Und zankte mit dem dichten grünen Ginster,
Der dich vor meinen Blicken ganz versteckte.

Da sah ich, wie aus dem Gesträuch geschwinde
Heraus sich streckten deine weißen Hände,
Und Wasser niedertroff von ihren Fingern.

Wie gern hätt‘ ich ein Tröpfchen aufgefangen!
Doch alle hat die Erde gleich verschlungen,
Und morgen werden Rosen aus ihr wachsen.

 

Übermäßig ernst nehmen muss man diese Verse nicht – inhaltlich; Von der Form ist es schon etwas anderes, auch wenn man die „Alliteration“ vielleicht gar nicht bemerkt, wird man nicht darauf hingewiesen: „-ster“ in V1, V2, „-nde“ in V4, V5, „-ngen“ in V7, V8. Eigentlich ist’s ein „geteilter Reim – die das Reimwort aus V1 ergänzenden Laute stehen in V2 (Konsonanten) und in V3 (Vokal)?! Schöner Kniff, und allemal einen eigenen Versuch wert!