Erzählformen: Der Zweiheber (16)

Bei Gotthold Ephraim Lessing findet sich das „Lied aus dem Spanischen“:

 

Gestern liebt ich,
Heute lebt ich,
Morgen sterb ich:
Dennoch denk ich
Heut und morgen
Gern an gestern.

 

Das ist allerdings von der Wirkung her wenig liedhaft, sondern eher ein Stück Gedankendichtung, also mehr ein Spruch? Vergleichen kann man den Text vielleicht mit Theodor Storms „Lied des Harfenmädchens“:

 

Heute, nur heute
Bin ich so schön;
Morgen, ach morgen
Muss alles vergehn!
Nur diese Stunde
Bist du noch mein;
Sterben, ach sterben
Muss ich allein.

 

– Wo das Liedhafte viel deutlicher hervortritt? Sicher auch durch die Art, wie der Zweiheber gestaltet wird: „X x x X (x)“, also mit bewegt wirkender, doppelt besetzter Mittelsenkung gegenüber dem gleichförmigeren „X x X x“ Lessings; wechselnd betonte und unbetonte Versausgänge gegenüber dem leichbleiben unbedonten Ausgängen Lessings; Reime gegenüber parallelem Aufbau („Verbform + ich“;  strophische Gestaltung gegenüber Reihung; und Gefühlsäußerung („ach“) gegenüber gedanklicher Gliederung („dennoch“). Alles zusammen sorgt für einen sehr deutlichen Unterschied in der Wirkung, trotz der inhaltlichen Ähnlichkeiten, sprich: der Nennung von Gestern, Heute, Morgen, dem Sterben!

Was, denkt man darüber noch, ziemlich häufig im Zweiheber anklingt, wenn es auch nicht immer ganz durchgehalten wird; aber zum Beispiel das „Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen …“ aus „Rumpelstilzchen“ hat wohl jeder im Ohr; was soweit Zweiheber sein könnten, aber, wie der Rest zeigt: doch einer anderen Versart zugeordnet werden müssen, und auch keinem Lied entstammen, sondern einem „Geschrei“, wie das Märchen ausweist.

Erzählformen: Das Madrigal (23)

Gotthold Ephraim Lessing ist berühmt für die Klarheit und Schärfe seiner Prosa; seine Verse ragen dagegen kaum über den Durchschnitt seiner Zeit heraus. Beispielhaft ist „Faustin“:

 

Faustin, der ganzer funfzehn Jahr
Entfernt von Haus und Hof und Weib und Kindern war,
Ward, von dem Wucher reich gemacht,
Auf seinem Schiffe heimgebracht.
„Gott“, seufzt der redliche Faustin,
Als ihm die Vaterstadt in dunkler Fern‘ erschien,
„Gott, strafe mich nicht meiner Sünden,
Und gib mir nicht verdienten Lohn!
Lass, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn
Gesund und fröhlich wieder finden.“
So seufzt Faustin, und Gott erhört den Sünder.
Er kam, und fand sein Haus in Überfluss und Ruh.
Er fand sein Weib und seine beiden Kinder,
Und – Segen Gottes! – zwei dazu.

 

Das wirkt heute recht betulich?! Aber die Verse tragen es; Vierheber, Fünfheber, sechshebige Alexandriner (mit dem kennzeichnenden Mitteleinschnitt), bunt gemischt und gereimt, doch ohne feste Reimordnung – ein weiter Raum, durch den die Erzählung ihren ruhigen Gang geht. So waren damals viele Texte aufgebaut, einige hat der Verserzähler auch schon vorgestellt; und ich denke, auch jetzt überzeugt dieser Aufbau noch. Ein wenig schneller müsste alles sein, sicher; aber nicht viel, das Getragene, Geschlossene, Gebundene ist auch im 21. Jahrhundert wirksam!

Ende Januar

Regengrau im Auge, im Ohr das Pfeifen des Windes,
Hinter Auge und Ohr: Nichts (ist des Winters Geschenk).

Erzählverse: Der Blankvers (76)

Nach dem Aufspüren von Hexametern in Hans Carossas Prosa ist es sicher richtig, eines seiner Gedichte vorzustellen. „Alter Baum im Sonnenaufgang“ findet sich im schon erwähnten fünften Band der Hans-Carossa-Jubiläumsausgabe, erschienen 1978 bei Insel, auf Seite 188:

 

Frühnebel steigt aus einsam altem Baum.
Es lichten sich die weiten Astwerkräume,
Die purpurbraunen, rostbespritzten Blätter,
Die nur der Frost noch festhält. Schwarz von Osten
Aufwogt Gebirg. Aus hoher Gipfelzacke
Strömt weißer Brand und saugt in großen Zügen
Den Dunst nach oben, schräge Strahlen lagern
Herab, leis knisternd fallen Blätter –
Und stärker schüttert Licht. Es klingt, braust, – schaudernd
Erwacht der dunkle Baumgeist; in die Sonne
Reckt er sich tausendzweigig, nieder
Wirft er die breite purpurne Belaubung,
Und Himmel, Himmel füllt das nackte Holz.

 

Das ist bestimmt kein schlechter Text, aber, hm: irgendwie klingt er falsch?! Nicht selbstverständlich, nicht in sich ruhend genug für einen Blankverstext. „Aufwogt Gebirg“,  „Und stärker schüttert Licht“, solche Ausdrücke: die scheinen mir für einen Hexametertext passender. Und tatsächlich:

Reckt er sich / tausend- / zweigig, || nieder / wirft er die / breite

– Da verbirgt sich ein Hexameter in den Blankversen?! Jedenfalls fast; die Zäsur sitzt falsch. Aber sonst … Auch ein Adjektiv wie „tausendzweigig“ ist eher ein Hexameter-Wort.

Ein klein wenig, mehr nicht; aber ein klein wenig klingt dieser Text wie ein Musikstück, das für ein anderes Instrument geschrieben wurde als das, auf dem es aufgeführt wird.

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (12)

Otto Frommels „Die Regenfrau“ ist ein eigenartiger Text. Am Ende, und viel stärker noch am Anfang greift er auf kitschige Bilder zurück, die heute ungenießbar sind – „Himmelswein“ für „Regen“; der Mittelteil aber klingt anders:

 

Leise rieselt’s. An die Fenster pocht es
wie mit feinen krallenspitzen Nägeln.
Vor den Fenstern weht es wie Gesträhne
eines flutentstiegnen Weiberhauptes.
Und ich seh ein blasses, volles Antlitz.
Wässrig blaue, gläsern starre Augen
dämmern durch die angelaufnen Scheiben.

 

Das klingt annehmbar, eine Stimmung vermittelt sich, ohne von irgendwelcher ganz schrägen Bildlichkeit aus der Bahn geworfen zu werden; und der trochäische Fünfheber leistet durch seinen ruhigen, fast schon lethargischen Gang das Seine.

Ohne Titel

Der Herr der Pauken und Trompeten
Erreicht den Saal.
Fanfarenklänge eilten ihm voraus,
Sein Kommen zu verkünden
Den Ohren aller, und die Augen aller ruhen
Nun auf des Saales Tür. Die hohen Flügel
Bewegen sich erst zögernd in die Stille
Des Augenblicks, dann selbstgewisser, dann
Ist da ein Raum,
Aus dem, begleitet von Fanfarenklängen,
Der Herr der Pauken und Trompeten
Den Saal betritt.

Erzählverse: Der Hexameter (128)

Im fünften Band der Hans-Carossa-Jubiläumsausgabe, erschienen 1978 bei Insel, findet sich auch Carossas „Die Schicksale Doktor Bürgers“, und darin folgende Fieberpantastereien einer Kranken (Seite 44):

„Sag den weißen Frauen, sie brauchen heute nicht mehr zu kommen, ich bin für lange versorgt! Wieder geht eine dort aus dem Spiegel hervor, – nein, es sind zwei, nein viele, o viele … Jede trägt eine Krankheit im Arm und will sie mir schenken. Sie sollen zu Hause bleiben, ich lasse sie herzlich bitten. Sag es ihnen, so höflich du kannst! Ich müsste es büßen, wenn du sie beleidigst.“

Das klingt nicht klar und deutlich, aber doch immer: hexametrisch?!

Oft fehlt nur eine Silbe, oder es ist eine zuviel; oder es sind Teil-Hexameter da. Aber auch „richtige“ Hexameter klingen auf:

Sag es / ihnen, so / höflich du / kannst! || Ich / müsste es / ßen,

Das „wenn du sie beleidigst“ leitet danach nicht, wie in einem Hexameter-Text, den nächsten Versbogen ein; es ist aber trotzdem „hexametrisch“, was schon daran erkennbar wird, dass es, bei anderer Abteilung, mit zu einem Hexameter gehört:

Höflich du / kannst! Ich / müsste es / ßen, || wenn / du sie be- / leidigst.

Satz und Vers fallen einmal sogar vollständig zusammen:

Jede / trägt eine / Krankheit im / Arm || und / will sie mir / schenken.

Auch die Hexameter-Bruchstücke sind durchaus von ryhthmischer Wirkung!

Nein, es sind / zwei, nein / viele, o / viele … || x / X x x / X x

Was Carossas Prosa hier auszeichnet, wodurch die Hexameter-Anklänge zustande kommen, bis hin zum vollständigen Vers: dem nachzuspüren ist eine lohnende Aufgabe.

Erzählformen: Der Zweiheber (15)

Ruth Klügers 2013 bei Zsolnay erschienener Gedichtband „Zerreißproben“ ist insofern etwas Besonderes, als dass die Verfasserin die darin versammelten Gedichte selbst bespricht. Zum ersten Abschnitt von „Brücke“, zu finden auf Seite 25 …

 

Die Brücke ist neu
es gibt keine andre
das Holz ist alt
es gibt kein andres
als morsche Bretter
auf unsrer Brücke
stürzte ich neulich
durch leeren Raum
dann über Geröll
tief ab.

 

… merkt sie, nach einer Bestimmung des Begriffs „Apokoinu“, an (Seite 27):

In der ersten Strophe meines Gedichts „Brücke ist das Koinon, das Gemeinsame, der Satzteil „auf unserer Brücke“, … Der lyrische Vorteil ist der Zusammenfluss gegensätzlicher Gefühls- und Denkströme, die aber simultan da sind und die sich nicht entwirren lassen.

Wenig sagt sie leider zum Formenbestand ihrer Gedichte. „Brücke“ beginnt mit neun aufeinanderfolgenden Zweihebern, ehe der erste Abschnitt dann mit „tief ab“ schließt. Liest man das unter dem Eindruck der zuvor erklungenen Verse, ist es ein „X X“, nein?! Also zwei betonte Silben ohne irgendwelche unbetonten Silben davor, dazwischen oder dahinter – ein (0/0/0) in meiner Zahlenschreibweise, und somit dem Versrahmen „Zweiheber“ zugewiesen.

Das Königreich von Sede (83)

Daune – König Daunenkissen,
Strenggenommen, aber jeder
Nennt ihn Daune seit den Tagen
Seiner Knabenzeit; ein schmächtig
Prinzlein war er, spindeldürres,
Jeder Luftzug schien geeignet,
Ihn empor- und fortzutragen,
Ganz wie eine Daunenfeder …
Später dann, als junger König,
Bald erprobt in vielen Nöten,
Schwoll der Arme Kraft, der Beine
Kraft ihm an, die Brust ward weiter,
Alles strebte auf, bis schließlich
Sich des Körpers edle Formung
Eines Herrschers würdig zeigte.
Groß war nun die Macht des Königs,
Eine andre aber größer;
Deren Name ist Gewohnheit,
Und es sind ihr untertänig
Sedes Menschen, und sie rufen
Ihren König, längst kein Kind mehr,
Spindeldürres, längst kein Herrscher
Voller Kraft mehr, massig längst schon,
Langsam, weiß sind Bart wie Haare:
Rufen ihren König Daune.