Bücher zum Vers (105)

Walter Jost: Probleme und Theorien der deutschen und englischen Verslehre. Mit einem Sonderteil über die Form des alemannischen Mundarthexameters bei Johann Peter Hebel und den Schweizern.

Ein sperriger Titel, der eine eher trockene Abhandlung erwarten lässt; und tatsächlich lassen sich Josts Ausführungen selten „einfach so weglesen“. Lohnenswert sind sie aber trotzdem! Ein knappes Beispiel aus dem Hexameter-Kapitel, betreffend das „Gleichmaß von zwei- und dreisilbigem Takt“:

Die Forderung nach kräftiger Hebung im Zweisilber. Der Hexameter mit seinen Takten von zweierlei Silbenzahl bedarf in besonderem Maße der Rücksicht auf das Gebot annährender Gleichheit der Taktdauer.  Dazu bekennen sich auch Metriker, die nur bedingt taktgläubig sind, so mit Entschiedenheit Minor, so ohne wesentliche Einschränkung de facto auch der dem Taktprinzip abgeneigte Saran.

Heusler, der vom Dreivierteltakt des deutschen Hexameters ausgeht, will die Ebenbürtigkeit des Zweisilblers gegenüber dem Dreisilbler so erreichen: ‚Der zweisilbige Hexametertakt‘, schreibt er, ‚verlangt eine gewichtigere Iktussilbe als die zweisilbigen Takte der meisten anderen Maße, weil er die Waage halten muss den umgebenden und als taktsetzend empfundenen dreisilbigen Takten; quantitativ ausgedrückt: weil seine Hebungssilbe zwei Morae misst.‘

Entsprechend hatte schon Voß, der den Hexametertakt als vierzeitig betrachtet, bei trochäischer Taktfüllung, das heißt bei Füllung lang-kurz, der Hebung ‚Überlänge‘ zugesprochen, um zeitliche Gleichheit mit dem Daktylus herzustellen.“ (Seite 74)

Und auf diese Art aufzählend, vergleichend und beurteilend fährt er fort, sowohl in Bezug auf den deutschen als auch auf den englischen Hexameter.

Der umfangreiche „Sonderteil“ ist an sich gleichfalls sehr lesenswert, dürfte aber weiter südlich wohnenden Vers- Hexameterfreunden mehr Freude bereiten als mir, der ich dem „Alemannischen“ doch eher fremd gegenüberstehe!

Erschienen ist der Band 1976 bei Lang.

Erzählformen: Siebenzeiler (4)

Karoline von Günderode hat viele etwas eigenartige Formen verwendet – „Der Trauernde und die Elfen“ zum Beispiel nutzt eine siebenzeilige Strophe aus iambischen Vierhebern, die xaxaxbb gereimt ist! Die dritte der fünf Strophen, der am Grab seiner „Trauten“ Trauernde begegnet den Elfen:

 

Und sieh! ihm naht der Elfen schönste
Und spricht: „Was trauerst du so sehr?
Komm! Ist dein Mädchen dir gestorben?
Vergiss sie! Komm zum Tanze her!
Frei sind wir Elfen, ohne Sorgen,
Leicht wie der Sinn ist unser Fuß,
Und froh und leicht sind Lieb‘ und Kuss.“

 

Auch wenn der Gleichklang des Reimes hier weniger Unterstützung bietet, gliedert sich die Strophe doch, wie so viele Siebezeiler, im Verhältnis „Zwei zu Zwei zu Drei“,  in Aufgesang (zwei gleiche Stollen) und Abgesang?! So gesehen, wenig neues; Die Wirkung ist aber doch eine ganz eigene!

Das Königreich von Sede (104)

Längst ist es dunkel in Sede, im Schloss und am Graben ist’s dunkel,
Still auch, in Kammern und Hof kein Laut; still stehen die Wachen
Hoch auf den Turm und schauen, gestützt auf die Speere, ins Dunkel,
Immerzu blind, und sie lauschen: Von dort, wo das Dunkel ein Nichts ist,
Her aus den Bäumen des alten Walds erreicht sie ein Schrei, kurz,
Kaum vernehmbar, doch voll der wissenden Trauer, und fort schon;
Dunkel erneut und Stille, und nicht bemerkt auf dem Turm man
Pulverfass, den Seher – ein Dunkel, den Dunkeln befreundet,
Tritt aus dem Tor er und geht, die Grübeleule zu suchen.

Erzählformen: Das Distichon (87)

Tritten des Wandrers über den Schnee sei ähnlich mein Leben,
Es bezeichne die Spur, aber beflecke sie nicht.

 

Im Winter 1805 waren bei Karl Ludwig von Knebel Freunde zu Gast und ins Gespräch vertieft; draußen schneite es unbemerkt. Als Johann Wolfgang Goethe hinaussah und die durch den Schnee völlig veränderte Umgebung bemerkte, schlug er vor, jeder der Anwesenden solle ein Gedicht darauf machen, und Knebel schrieb obiges Distichon, von dem Goethe so begeistert gewesen sein soll, dass er ausrief: „Knebel, für dieses Distichon gäbe ich einen Band meiner Werke!“

Die metrische Form:

Tritten des / Wandrers / über den / Schnee || sei / ähnlich mein / Leben,
Es be- / zeichne die / Spur, || aber be- / flecke sie / nicht.

— ◡ ◡ / — ◡ / — ◡ ◡ / — || — / — ◡ ◡ / — ◡
— ◡ / — ◡ ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

„Es be-“ ist eine sehr schwache zweisilbige Einheit, vor allem das „es“ hat eigentlich zu wenig Gewicht, um auf der Hebungsstelle stehen zu können. Zur Not geht dergleichen; besser, man kommt ohne aus! (Dass Goethe da keine Bedenken hatte, wundert nicht: Ihm sind selbst seine „zu leichten ersten Einheiten“ in Hexa- und Pentameter vorgeworfen worden. Oft!)

Erzählverse: Der Blankvers (103)

Otto Ernst schildert in „Das Gesicht der Wahrheit“ einen Mann, der, vom Rat der Stadt verurteilt, am Pranger steht, nachdem ihm die Ohren abgeschnitten worden sind. Das Volk, die Menge der Schaulustigen, starrt ihn schweigend an

 

Und sieht um seinen Mund, den Blut benetzt,
Ein zuckend Lächeln, sieht die dunklen Haare
In feuchten Strähnen an den Wangen kleben,
Und aus den Haaren, an den Wangen nieder
Rinnt Blut, rinnt Blut – so stumm und so geschäftig,
Das warme Blut – und hilflos starrt der Kopf
Hervor aus schwarzer Wand, und hilflos irren
Die Blicke hin und her: Wo seid ihr, Hände?
Was helft ihr nicht? O wischtet ihr mir nur
Das Blut vom Mund! – Und klagend glänzt das Auge.

 

Einerseites Verse, die erkennbar nicht (mehr) ins Heute gehören; andererseits sind sie von einer großen Eindringlichkeit, die der Blankvers sicher mitgestalten hilft.

Bücher zum Vers (104)

Ernst Häublein: The Stanza.

Wer metrisch gebundene und womöglich gereimte Verse schreibt, kommt um das Nachdenken über die Strophe – was sie ist, wie sie wirkt, mit welchen Mitteln welche Wirkung erreichbar ist –  nicht herum.

Häubleins schmaler Band (knapp hundert Seiten, erschienen 1978 bei Methuen) leistet all das, zwar auf Englisch und auch bezogen auf die englische Dichtung, aber das macht nichts: das meiste ist auch für die deutschen Strophen verwendbar!

Von den fünf Abschnitten – „Definition of the stanza“, „Stanza forms“, „Stanzaic unity“, „Stanza and poetic structure“, „Conclusion“ – sind sicher der dritte und der vierte die ertragreichsten, behandeln sie doch sehr wichtige Fragen: wodurch wird eine Strophe als Einheit erfahrbar, auch und vor allem in Bezug auf die Gestaltung des Strophenanfangs und des Strophenendes; und auf welche Weisen können Strophen, als die Einheiten eines Gedichts, miteinander in Beziehung stehen?! Ohne darüber nachgedacht zu haben, sollte eigentlich niemand ein strophisches Gedicht schreiben; die Gefahr, einfach nur ein Silbenschema zu füllen und am Schluss mit einer leb- und spannungslosen Wortmasse dazustehen, ist groß und eine Herausforderung, die bestanden werden muss!

Der auf…

…gefallene Mensch

Ist alles denn verloren? Hat der Schmerz,
Als schütterte der Boden, das Gebäude
In einen grausen Haufen Schutt verwandelt?

…gerichtete Mensch

Doch über dem Schutt, in unendlichem Blau,
Wiegt schmetternden Lieds sich die Lerche!

 

Die drei Blankverse stammen aus Goethes „Torquato Tasso“; die anderen beiden Verse sind ursprünglich ein Aristophanischer Vers aus Prutz‘ „Die politische Wochenstube“, der für diesen Text an der Zäsur auseinandergenommen wurde.

Erzählverse: Der Blankvers (102)

In Christian Friedrich Scherenbergs „Lagerszene (am Vorabend der Waterlooer Schlacht)“ dient der Blankvers wieder einmal der Darstellung des Militärischen. Ein Ausschnitt, die Nacht am Lagerfeuer:

 

Behaglich um die Flamme spielt, wie sie
Auflodernd und verglimmend, Biwachtswort.
Ins Feuer fallen Scherz und Ernst. Zum Besten
Gibt der ein Lied zum Lachen, Schnurren jener
Zum Weinen, Abenteuer, Heldentaten,
Wahr oder gut erzählt. Am tapfersten
Lügt Furcht, am leicht’sten glaubt der Tapferste:
So macht sich Unterhaltung und Gemütlichkeit
Am heil’gen Abend vor dem Todesfest;
Gezählte Stunden haben Wert und Weihe.

 

Zur „Biwacht“ lässt sich im Netz näheres unter „Biwak“ finden. Der Vers selbst ist nicht sehr eigenständig und damit unauffällig, trotzdem aber hörbar in seiner formenden Wirkung.