Erzählformen: Das Distichon (61)

Feuerwerk

Sterne, wie blinkt ihr so bleich! Wir werfen die schönern gen Himmel
Zischend in feurigem Strahl, purpurn und golden und grün!
Puff! Die Rakete zerplatzt, und sinkend verlöschen die Funken,
Ruhig zum kindischen Spiel lächelt das himmlische Heer.

 

Das sind nun keine besonders guten Verse, aber sie passen zum heutigen Tag so gut wie kaum andere … Geschrieben hat sie Karl Gerok.

Erzählformen: Das Distichon (60)

Das Distichon ist eine im Wesen gegensätzliche Form, bedingt durch die Verschiedenheit der beiden Verse, aus denen es besteht; was der Hexameter beginnt, in Bewegung setzt und in die Welt entlässt, sammelt der Pentameter wieder in sich, bringt es zur Ruhe und schließt es. Kein Wunder, dass auch inhaltlich oft eine Gegensätzlichkeit verhandelt wird; und dass der Pentameter gar nicht so selten mit einem „Aber“ beginnt!

 

Reden können die Sterne, die Lüfte, die Blumen, der Stein selbst,
Aber zu schwatzen, verlieh einzig dem Menschen der Gott.

 

– So Karl Heinrich Gotthilf von Köstlin, der eigentlich Mediziner war, unter dem Pseudonym „Chrysalethes“ aber auch Epigramme in Distichonform veröffentlicht hat. (Als junger Arzt hat er bei der Behandlung des größten Distichenschreibers überhaupt mitgewirkt: Der Friedrich Hölderlins!)

Dieses Entgegensetzen kann sich aber auch wunderbar in einem Paar von Distichen ausbilden – das erste davon stellt einen Inhalt vor, schließend mit dem Ruhepunkt am Ende des Pentameters; das zweite führt ihn näher aus und bringt im zweiten Pentameter den gesamten Text zum Stehen. Das „aber“ wandert dabei naturgemäß an den Beginn des zweiten Hexameters!

 

Die Geschwister

Schlummer und Schlaf, zwei Brüder, zum Dienste der Götter berufen,
Bat sich Prometheus herab, seinem Geschlechte zum Trost;
Aber, den Göttern so leicht, doch schwer zu ertragen den Menschen,
Ward nun ihr Schlummer uns Schlaf, ward nun ihr Schlaf uns zum Tod.

 

– Ein vergleichsweise bekanntes Epigramm von Johann Wolfgang Goethe. Spannend auch, wie das erste Distichon eher ruhig erzählt, während das zweite sowohl die Vershälften des Hexameters („doch“) als auch die Vershälften des Pentameters („ward“ … „ward“) als Größen eigenen Werts erfahrbar macht, das Distichon dadurch noch stärker als ohnehin schon gestaltet und damit der Aussage zusätzlichen Nachdruck verleiht!

Das Königreich von Sede (96)

Als Schemel spät, mit müdem Schritt
Und müdem Geist, zum Graben tritt,
Sind Frösche um ihn sonder Zahl
Und frohen Muts, die keine Wahl
Ihm lassen, als zu singen,

Weil sich die Frösche, alt wie jung,
Laut quakend und mit hohem Sprung
Ins Wasser werfen, dass es spritzt
Und Schemel, der inzwischen sitzt,
Durchnässt bis auf die Knochen,

Der klaglos seine Laute stimmt
Und Töne aus dem Quaken nimmt
Und aus der Wellen Wirbeltanz
Sich Töne nimmt und wird so ganz
Zu Frosch und Nacht und Wasser;

Und weiß von keiner Müdigkeit
Und spielt und singt noch lange Zeit
Den Fröschen, und es bricht ihr Blick
Zufrieden auf und geht zurück,
Die alte Welt zu schauen.

Erzählformen: Die Brunnenstrophe (17)

Eine einfache Abwandlung der Brunnenstrophe entsteht, wenn der dritte Vers in Metrum und Reim verdoppelt wird. Den so entstandenen Fünfzeiler hat zum Beispiel Theodor Storm in „Verirrt“ verwendet:

 

Ein Vöglein singt so süße
Vor mir von Ort zu Ort;
Weh, meine wunden Füße!
Das Vöglein singt so süße,
Ich wandre immerfort.

Wo ist nun hin das Singen?
Schon sank das Abendrot;
Die Nacht hat es verstecket,
Hat alles zugedecket –
Wem klag ich meine Not?

Kein Sternlein blinkt im Walde,
Weiß weder Weg noch Ort;
Die Blumen an der Halde,
Die Blumen in dem Walde,
Die blühn im Dunkeln fort.

 

Wobei Storm verschiedene Dinge vorführt, die man mit dieser Form anstellen kann: Die Wiederholung des Reimworts aus V1 in V4 zum Beispiel ( „süße“ in S1, „Walde“ in S3); in S2 ist V1 ungereimt, was sich ergibt, wenn die ursprüngliche vierzeilige Strophe nur halbgereimt war (aus xaxa wird xabba). Das kann auch durch ein ganzes Gedicht hindurch tragen, die Beispiele dafür sind zahlreich! Friedrich Hebbels „Der junge Schiffer“ beginnt so:

 

Dort bläht ein Schiff die Segel,
frisch saust hinein der Wind!
Der Anker wird gelichtet,
das Steuer flugs gerichtet,
nun fliegts hinaus geschwind.

Ein kühner Wasservogel
kreist grüßend um den Mast,
die Sonne brennt herunter,
manch Fischlein, blank und munter,
umgaukelt keck den Gast.

 

Eine angenehm zu lesende Strophe, die sich auch ohne große Mühe schreibt und daher sicher einen Versuch wert ist!

Erzählverse: Der Hexameter (156)

Gustav Pfizer hat ein seltsames Mischwesen erschaffen, das er „Ghasel“ überschrieben hat:

 

Hatte ich Wein getrunken am Morgen, um schnöd‘ zu vergessen,
Dass zu verzeih’n des Propheten Gebot ist?
Schmerz hat den Spiegel der Seele betrübt, nicht bedacht ich, dass Zürnen
Nicht zum Leben der Weg, nur zum Tod ist.
Treffen wollt‘ ich dein Herz, doch mein Pfeil jetzt vom eigenen Blute
Und vom Weinen das Auge mir rot ist.
Zürne, Geliebter, mir nicht! Schon duld‘ ich jegliche Strafe,
Die dem Verräter der Liebe gedroht ist.
Trotzig zog ich zum Kampf, doch die blaue Kling‘ ist gebrochen
Und besudelt die Fahne von Kot ist.
Wisse, dass Jammer mein Ross, und träumende Sorge mein Lager,
Tränen mein Wein und Kummer mein Brot ist.
Einst war ich reich an Zimmet und Weihrauch; aber dem Armen
Kaum noch vom Pfunde übrig ein Lot ist.
Kehre, o Holder, zurück! Du weißt, dass Hafis zum Leben
Liebe und Liebe genießen so not ist.

 

Das ist, denke ich, aus vielerlei Gründen ein schlechtes Gedicht; formal gesehen hält es die Vorgaben des Ghasels nicht ein, das ja ein Reimschema der Form aa xa xa xa … verlangt; dann benutzt es Hexameter in einem Reimgedicht, und ein „Bewegungsvers“ im Rahmen einer „Klangform“ ist nie ein guter Gedanke. Immerhin reimt sich nie der Hexameter, sondern die Reime auf „-ot“ (samt dem Überreim „ist“) stehen in den kürzeren Vierhebern; aber trotzdem.

Wieder einmal ein Beispiel, dass die Vermischung von Formen, die gegensätzliche Ansprüche an die Sprache stellen, zu einem unverträglichen Gemisch führt, in dem das eine Prinzip so wenig wie das andere wirken kann.

Erzählformen: Das Distichon (59)

Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe; das gilt auch beim Schreiben von Distichen.

 

Madame Heunisch

Schwach ist dein Stimmchen, mein Schatz, so reich uns die stattliche Nase:
Dich zu hören bequem, sitzen gefällig wir drauf!

 

E.T.A. Hoffmann hat einige „Distichen auf Mitglieder des Bamberger Theaters“ geschrieben. Zum Privatvergnügen, veröffentlicht worden ist davon zu seinen Lebzeiten nichts! Vielleicht auch darum ist der gutmütige Spott über die durchaus fähige Sängerin Cäcilie Heunisch keine wirklich große Verskunst (der Pentameter klingt arg ungelenk)?!

Über die Größe von Nasen haben sich auch andere Dichter ausgelassen – Adelbert von Chamisso etwa in den Distichen des „Angebindes an Selmars Nase“:

 

Rettung

Längst schon wärst du ertrunken in Fluten der eigenen Dichtung,
Doch ist kein Wasser so tief, dass es die Nase bedeckt.

 

Aber abgesehen von der verbindenen Nase – dass sind einmal bessere Verse; zweitens sind sie veröffentlicht worden; und drittens sind sie kein „gutmütiger Spott“, sondern ein ernstgemeinter Rempler, denn „Selmar“ war das Pseudonym des Dichter-Kollegen Karl Gustav von Brinckmann, den Chamisso einmal in einem Brief als „unaustehlichen Wicht“ bezeichnet hat …

Bild & Wort (211)

– Wiedergefunden, nach vielen Jahren. Die wandelnde Kanone heißt „Justitia“, ihr Herrchen „Erasmus“; das ganze ist eigentlich ein Strip, der sich hier aber etwas mehr Platz gönnt. Was man doch alles gemacht hat, früher …

Erzählverse: Der Blankvers (92)

Rudolf Borchardt hat einmal in Bezug auf die Übersetzungsarbeit angemerkt, Wielands Horaz sei ein Kunstwerk Wielands, und erst in einem sekundären und tertiären Sinne das, was man eine Übersetzung nennt. Da hat er recht:

 

Geh, Muse, wenn ich bitten darf, und bring
dem Celsus, Nerons Freund und Schreiber, meinen Gruß,
und meine besten Wünsche. Fragt er dich,
wie mirs ergeh, so sag ihm, dass ich, bei den schönsten
Entschließungen, doch weder für die Weisheit
noch fürs Vergnügen lebe – nicht, weil etwa
der Hagel meinen Wein zerschlagen, oder
die Hitze meinen Ölbaum ausgedorrt,
und unter meinen Herden, die den Klee
entlegner Fluren mäh’n, die Seuche wütet –
bloß, weil ich schwach am ganzen Leib‘, und leider
noch schwächer am Gemüt, nichts hören will,
was etwa meine Krankheit lindern könnte,
mich von der Ärzte gutem Rat gar sehr
beleidigt find‘, und meinen Freunden zürne,
die mir den schlimmen Dienst erweisen und
aus meiner Schlafsucht mich zu rütteln suchen:
kurz, alles haben will, was mir schon oft
geschadet hat, und alles fliehe, was
mir, wie ich glaube, heilsam ist; zu Rom
mich stets nach Tibur sehne, und zu Tibur
nach Rom. Dann, Muse, frag ihn, wie er sich
befinde, wie er seine Sachen treibe,
und wie er mit dem edeln Jüngling, wie
mit seinen Kameraden stehe? Spricht er: wohl!
so sag ihm, dass michs freue; doch, vergiss
mir ja nicht, diese kleine Lehre ihm
ins Ohr zu flüstern: So, wie du das Glück,
so werden wir, Freund Celsus, dich ertragen.

 

– Denn die Art, wie Christoph Martin Wieland hier die Hexameter Horaz‘ aus dessen Brief an besagten Celsus in iambische Verse umformt, Blankverse zumeist, aber ohne Scheu vor dem gelegentlichen Vier- oder Sechsheber: das ist wirklich eine ganz eigene Kunst. Und eine große.