Erzählformen: Das Distichon (60)

Das Distichon ist eine im Wesen gegensätzliche Form, bedingt durch die Verschiedenheit der beiden Verse, aus denen es besteht; was der Hexameter beginnt, in Bewegung setzt und in die Welt entlässt, sammelt der Pentameter wieder in sich, bringt es zur Ruhe und schließt es. Kein Wunder, dass auch inhaltlich oft eine Gegensätzlichkeit verhandelt wird; und dass der Pentameter gar nicht so selten mit einem „Aber“ beginnt!

 

Reden können die Sterne, die Lüfte, die Blumen, der Stein selbst,
Aber zu schwatzen, verlieh einzig dem Menschen der Gott.

 

– So Karl Heinrich Gotthilf von Köstlin, der eigentlich Mediziner war, unter dem Pseudonym „Chrysalethes“ aber auch Epigramme in Distichonform veröffentlicht hat. (Als junger Arzt hat er bei der Behandlung des größten Distichenschreibers überhaupt mitgewirkt: Der Friedrich Hölderlins!)

Dieses Entgegensetzen kann sich aber auch wunderbar in einem Paar von Distichen ausbilden – das erste davon stellt einen Inhalt vor, schließend mit dem Ruhepunkt am Ende des Pentameters; das zweite führt ihn näher aus und bringt im zweiten Pentameter den gesamten Text zum Stehen. Das „aber“ wandert dabei naturgemäß an den Beginn des zweiten Hexameters!

 

Die Geschwister

Schlummer und Schlaf, zwei Brüder, zum Dienste der Götter berufen,
Bat sich Prometheus herab, seinem Geschlechte zum Trost;
Aber, den Göttern so leicht, doch schwer zu ertragen den Menschen,
Ward nun ihr Schlummer uns Schlaf, ward nun ihr Schlaf uns zum Tod.

 

– Ein vergleichsweise bekanntes Epigramm von Johann Wolfgang Goethe. Spannend auch, wie das erste Distichon eher ruhig erzählt, während das zweite sowohl die Vershälften des Hexameters („doch“) als auch die Vershälften des Pentameters („ward“ … „ward“) als Größen eigenen Werts erfahrbar macht, das Distichon dadurch noch stärker als ohnehin schon gestaltet und damit der Aussage zusätzlichen Nachdruck verleiht!

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