Bücher zum Vers (101)

Philip Hobsbaum: Metre, Rhythm and Verse Form.

Ein mit noch nicht einmal 200 Seiten nicht allzu umfangreicher Band (erschienen 1996 bei Routledge), der aber die Grundlagen von Metrum, Rhythmus und Vers im Englischen klar und bestimmt beschreibt, ohne irgendwelchen Schnickschnack; und dadurch auch dem, der diesen Größen im Deutschen nachspürt, einen Blick von Außen, und und damit einen Vergleich ermöglicht, der sehr hilfreich ist.

Of course it is possible to appreciate poetry without knowing how it is made. The appreciation, however, may be enhanced by an awareness of how poets work. Much more may be heard in a poem if one is consciously aware of its rhythmic structure.

So steht es im Vorwort; und ich glaube, das ist auch wirklich so.

Erzählverse: Der Hexameter (160)

Abraham Gotthelf Kästner (beim Verserzähler in diesem Eintrag näher vorgestellt) war ein unbedinger Anhänger des Reimes; für reimlose Verse hatte er nur Spott übrig. Den goss er dann allerdings auch schon einmal, der Verdeutlichung wegen sozusagen, in Hexameter:

 

Auf gewisse Gedichte

Aufgeduns’nes Gewäsch in reimlos ametrischen Zeilen,
Verse nennt ihr’s? Es ist nur tollgewordene Prosa.

 

Von Kästners Vorlieben (und Vorurteilen) abgesehen – das sind zwei gut gebaute, gut sich bewegende, gut klingende Hexameter eines Dichters, der nicht eben für sein rhythmisches Geschick bekannt war?! Und wie immer bei Epigrammen, die aus zwei Hexametern bestehen, ist der Vergleich mit dem Distichon aus Hexa- und Pentameter sinnvoll; Wie wird hier, wie da der Eindruck von Geschlossenheit und Vollständigkeit erreicht?

Das Königreich von Sede (102)

Schemel sitzt am Fenster, dunkel
Innen seine Stube, außen
Alles dunkel, weil es Nacht ist –
Schemel hört ein leises Quaken,
Eine Botschaft, unverständlich
Leider; seine Laute nimmt er,
Zupft zwei Töne, lauscht und wartet;
Fragevoll ist stets das Dunkel,
Voller Antwort auch, und manchmal
Fügt das eine sich zum andern.

Schachprobleme und Gedichte

… scheinen nicht viel gemeinsam zu haben, erst einmal; aber das täuscht. Beides sind zum Beispiel Dinge, mit denen man sich ohne jegliches Hilfsmittel beschäftigen kann, sowohl aufnehmend und bedenkend als auch selbst schaffend – mehr als den eigenen Kopf braucht es dafür nicht. Auch nehmen beide in Anspruch, „Kunst“ zu sein; die Gedichte unmittelbar, die Schachprobleme etwas verstohlener, aber immer noch bemerkbar.

Da wundert es nicht, dass einiges von dem, was über den einen Bereich gesagt wird, ohne Schwierigkeiten auf den anderen übertragbar ist.  1913 hat Alan C. White das Buch „Sam Loyd and his Chess Problems“ veröffentlicht,  das, übersetzt von Wilhelm Massmann, 1926 auch auf Deutsch erschienen ist; eine Ausgabe, von der 1984 in der Edition Olms ein Nachdruck erschienen ist. In diesem sehr gelungenen Buch über einen einzigartigen Rätselerfinder, der viele noch heute bewunderte Schachprobleme ersonnen hat, findet sich auch dieses Zitat Samuel Loyds.

Jeder Verfasser stößt auf einfache und bedeutungslose Gedanken, und wenn er sich nun die Mühe gemacht hat, sie darzustellen, so erblickt er nichts Böses darin, sie auch zu veröffentlichen; dabei vergisst er aber, dass er sie darbietet als Proben seiner Fertigkeit und seines Stils.

Und doch, ja: Das sind Worte, die sich auch sehr viele derer, die Gedichte schreiben, über den Schreibtisch hängen könnten; und aus deren Betrachtung sie Gewinn zögen.

Erzählformen: Das Distichon (85)

Tier und Pflanze

Kurz nur ist das Verweilen des Frühlings, Himmel und Erde,
Eurer Vermählung Zeit; kurz die Berührung des Lichts.

 

Das erste von acht Distichen eines Textes des Philosophen Friedrich Willhelm Schelling; ich finde, es kann für sich alleine stehen!

Die metrische Form:

Kurz nur / ist das Ver- / weilen || des / Frühlings, / Himmel und / Erde,
Eurer Ver- / mählung / Zeit; || kurz die Be- / rührung des / Lichts.

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Vom Büchermachen

Bücher müssen gemacht, was heißt: erarbeitet werden; das war schon immer so, und ist auch nicht wirklich abhängig von ihrem Inhalt.

Der aus Aleppo stammende Syrer Philipp Stamma war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer der besten Schachspieler, und 1737 veröffentlichte er in Paris, später dann, 1745, noch einmal in London eine Sammlung von Schachproblemen. Diese Sammlung haben gut hundert Jahre später die Berliner Ludwig Bledow und Otto von Oppen neu herausgegeben – „Stammas hundert Endspiele“, erschienen 1856 bei von Veit. Die eigentliche Arbeit hat dabei Bledow geleistet, wie von Oppen am Anfang des Buches in einer Art, die wiederum 150 Jahre später seltsam anrührend wirkt, beschreibt:

Endlich ging er selbst ans Werk und legte sich den Apparat zurecht mit der ihm eigentümlichen behaglichen Umständlichkeit und Sorgfalt, welche uns noch jetzt in Zweifel lässt, ob er denn gar keine anderen Geschäfte, oder ob der Tag mehr Stunden für ihn gehabt habe als für die übrige Welt. Bledow war ein Pedant im guten Sinne des Worts, er nahm einen Folioband von solchem Umfange, wie er ihn nach seinem Überschlage für nötig hielt, und fügte demselben die nötige Zahl blauer Büchlein wie Adjudanten bei; dann entwarf er mit seiner zierlichsten Handschrift den Titel, ganz so wie er gedruckt werden sollte und ich ihn beibehalten habe, ließ die Zahlenübersicht der sämtlichen Endspiele mit Ergänzungen folgen, welche sich auf abweichende Aufstellungen der bisherigen Ausgaben beziehen, gab ein vollständiges Verzeichnis dieser Ausgaben mit eigenen kurzen Notizen und ging dann zu den Spielen selbst über. Ein jedes bekam in dem Hauptbuche sein besonderes Blatt oder auch mehrere, wo viel zu notieren war, er vermerkte Übereinstimmung oder Abweichungen aller bisher erschienenen Ausgaben sowie die eigenen Äußerungen der Autoren, oder wies, wo sie zu umfangreich waren, auf die Werke selbst hin; selbst deren Druckfehler entgingen seiner Aufmerksamkeit nicht. Seine eigenen Glossen beschränkten sich auf kurze Sätze, Fragen, Frage- oder Ausrufungszeichen, Bezugnahmen dessen, was er schon bearbeitet hatte und was leider großen Teils verloren ist; dann studierte er jedes einzelne Spiel, prüfte es wiederholt und notierte erst den Zweifel, dann die festgestellte Gewissheit. In den blauen Büchlein führte Bledow noch eine besondere Kontrolle und trug in ihnen alles zusammen, was ihm als Material irgendwie brauchbar erschien.

Jetzt konnte er anfangen, die hundert Endspiele, wie er es auf dem Titel angekündigt hatte, zu bearbeiten und binnen wenigen Wochen ein klassisches Werk vollenden; der Tod nahm ihm die Feder aus der Hand. Ich habe die meinige dem abgeschiedenen Freunde geliehen, ich schrieb alles, und doch ist alles, oder fast alles, Bledows Nachlass.

Von Oppen ist hier sicher ein wenig umständlich – aber was passte besser zum Inhalt? Der eigentliche Inhalt, die hundert Schachprobleme Stammas, folgt danach. Ich stelle zum Schluss eines der einfacheren davon vor:

[fen]3N4/7p/6p1/4Bn1k/6R1/7K/6P1/2r1q3 w – – 0 1[/fen]

Gefordert ist ein Matt in drei Zügen, die Lösung lautet: 1.Tg4-g5+ Kh5xg5, 2.Sd8-f7+ Kg5-h5, 3.g2-g4#. Da auch dem weißen König einiges Ungemach droht, muss Weiß schnell sein, sprich: von Beginn an Schach geben!

Erzählformen: Das Reimpaar (35)

Ein letzter Eintrag noch zum „um einen dritten Vers ergänztes Reimpaar“, diesmal mit Gottfried August Bürgers ziemlich bekanntem „Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen“:

 

Wer bist du, Fürst, dass ohne Scheu
Zerrollen mich dein Wagenrad,
Zerschlagen darf dein Ross?

Wer bist du, Fürst, dass in mein Fleisch
Dein Freund, dein Jagdhund, ungebleut
Darf Klau’ und Rachen hau’n?

Wer bist du, dass, durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet, wie das Wild? –

Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Ross und Hund und du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.

Du Fürst hast nicht, bei Egg’ und Pflug,
Hast nicht den Erntetag durchschwitzt.
Mein, mein ist Fleiß und Brot! –

Ha! du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus; du raubst!
Du nicht von Gott, Tyrann!

 

Dreizeilige Strophen – aber ungereimte! Hat das Gedicht also gar nichts zu suchen unter der Überschrift „Reimpaar“? Ich denke, schon. Denn wie die letzten EInträge gezeigt haben, war das um einen dritten Vers, meistens einen iambischen, weiblich schließenden Dreiheber (hier, bei Bürger, schließt er männlich!) Reimpaar aus iambischen Vierhebern eine ziemlich gängige Form; und diese reimlosen Strophen Bürgers dürften von dieser Form aus gedacht und bewertet worden sein!

Aber auch „an unf für sich“ ist das eine geschlossene kleine Form, mit der sich viel anstellen lässt, wie mir scheint.

Erzählformen: Das Reimpaar (34)

Wenn das Reimpaar nicht, wie in (32) und (33), durch einen Kehrreim ergänzt wird, dann vielleicht durch einen Körnerreim?! So hält es zum Beispiel Josef Weinheber in „Jetzt kommt das Licht“:

 

Jetzt kommt das Licht mit einemmal
und flutet über Angst und Qual
und über Tat und Träume.

Wer heute noch in Fesseln ist,
tu ab den Zwang, der ihn umschließt,
auf dass er nicht versäume.

Denn morgen ist vielleicht auch er
voll Blüten und steht reich und schwer
und selig wie die Bäume …

 

Das ist auch eine reizvolle Möglichkeit, die eine schöne, geschmeidige Strophe hervorbringt! Die trägt sogar den „Olle-Kamelle-Reim“ „Träume – Bäume“, zwischen den sich hier noch das „(ver-)säume“ schiebt, etwas unvollendet (wen oder was versäumt „er“ nicht?), aber gerade dadurch wirkungsvoll.