Erzählformen: Das Distichon (74)

Darwins biogenetisches Gesetz

Eh‘ dich der Atem beseelt, durchliefst du die Reihen der Eltern;
Schlafend vor deiner Geburt hast du Äonen durchlebt.

 

Ernst Haeckel hat nicht nur Charles Darwins Vorstellungen von der Entstehung der Arten in Deutschland bekannt gemacht, er hat auch als erster die Biogenetische Grundregel (wie sie heute heißt – als allgemeingültiges „Gesetz“ gilt sie nicht mehr) aufgestellt: „Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung)“, in Haeckels eigenen Worten. Meint: Bei der (embryonalen) Entwicklung eines einzelnen Lebewesens wiederholt sich seine Stammesgeschichte, es werden sozusagen Merkmale / Anlagen seiner Vorfahren erkennbar. Wem das wenig sagt, kann es im Netz beschrieben finden – hier von Interesse ist mehr die Art, in der Martin Greif diese aus der Naturwissenschaft herrührende Regel in Poesie umgesetzt hat, genauer: in obiges, wohlgeformtes Distichon.

Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

Ein Eintrag, der Werbung machen möchte: Klabunds „Literaturgeschichte“, im Netz einsehbar, ist zwar nicht ganz unbekannt, könnte aber durchaus noch um einiges bekannter sein mit ihrer ungewöhnlich klaren, verständigen, ganz „klabundigen“ Sicht auf die deutsche Literatur von ihren Anfängen bis zu Klabunds Gegenwart (zuerst erschienen ist die Literaturgeschichte 1922).

„Alles, was er gewollt hat, hat er gekonnt“, heißt es da von Klopstock,

„Aber alle Revolutionen überdauern wird das heilige Lächeln der Iphigenie und der Schrei des Dichters im Tasso: Denn wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide. Denn hier geht es nicht um die Befreiung einer Klasse oder Rasse, sondern um die Befreiung des Menschen“ von Goethe und seinen Dramen.

Hebels Sprache nennt Klabund „ein Deutsch, wie es einfacher und tiefer, zweckloser und klangvoller nicht erdacht und geschrieben werden kann“,

und die Vertreter des schwäbischen Dichterkreises stellt er dem Leser so vor Augen: „Die schwäbischen Dichter, unzählbar wie der Straßenstaub in Stuttgart, zeichnen sich durch eine betonte Philisterhaftigkeit aus. Wenn ihrer trefflichen wohlgerundeten Gattin sonntags die Klöße oder die Spätzle nicht recht gerieten, dann ziehen sie die Stirne kraus, die Adern schwellen, und auf dem Kopf die Nachtmütze zittert vor Erregung. Sie laufen erregt durchs Zimmer und stolpern wohl über die Quasten und Bommeln ihres Schlafrocks. Und sind erst beruhigt, wenn Mutter die Pfeife stopft und einen extra guten Kaffee zum Nachtisch kocht. Da schwellen die Adern ab, die Nachtmütze beruhigt sich. Die Jüngste bringt ein blaues Schreibheft von Vaters Schreibtisch, die Älteste Tinte und Gänsekiel. Und, bewacht und betreut von den Seinen, beginnt Vater zu dichten.“

Über Mörikes Verse lautet sein Urteil so, „Sie sind nicht erkünstelt, nicht erzwungen: sie sind rund und vollendet und duften wie reife Äpfel“, und zu Mörikes Schaffen ganz allgemein merkt er an: „Er erschreckt nie. Seine Schauergeschichten machen lächeln. Und wenn er dunkel ist, so ist er dunkel wie eine Sommernacht in Kleversulzbach, warm und besternt, und wir wissen, dass die Morgenröte nicht fern ist.“

Und so immer weiter – wer hineinschaut, wird zu den Dichtern seines Interesses Bedenkenswertes finden! Ich füge nur noch eine „Dreier-Betrachtung“ an: „Eichendorff und Hölderlin sind Nord- und Südpol der deutschen Lyrik. Goethe ist die Erdmitte. Hölderlin: ein Einziger unter den Deutschen, der hieratische Priester der heiligsten Empfängnis, der strengsten Verkündigung: Kind und Greis. Anfang und Ende. Goethe: der Mann, gewaltig schreitend, Flamme und Tuba. Eichendorff: das deutsche All im Regenbogen. Herz des Jünglings im Sommerabend wie eine erste und letzte Rose aufbrechend: durchblühend die Nacht bis zum Morgenrot. Eichendorff: das Volkslied. Goethe: die Trilogie der Leidenschaft des geistigen Menschen. Hölderlin: der Gottgesang.“

Erzählformen: Das Distichon (73)

In der losen Folge von Gedichten zum „Rheinfall von Schaffhausen“ – er fand schon Erwähnung in Der Hexameter (53), Das Sonett (13), Ganz frei (und nicht zu vergessen Das Distichon (41) zum Zackenfall) – hier eines von Martin Greif:

 

 Am Wasserfall von Schaffhausen

Redest du, Schicksal, mit mir, denn wer sonst rief mir im Donner
Als du selbst und die Macht, die mich ins Leben geführt?
Ja, du bist’s, der zum Strom mich heran und zur Klippe geleitet,
Wo er dem Abgrund zu sausend vor Eile sich wälzt.
Doch du bist es zugleich, der über dem tosenden Sturze
Farbigen Bogen mir zeigt, tröstlicher Rettung Gewähr.
Sprachlos steh‘ ich gebannt und messe mit staunendem Blicke,
Was mich im Innersten auch mächtig erschüttert zugleich:
War ich der Jüngling nicht selbst, den der Wirbel der Jugend ergriffen,
Bis er unbändigen Muts alle Besinnung verlor?
Aber gemach doch vom Sturm erhob sich die Seele ihm wieder,
Und im geläuterten Drang zog er beruhigt dahin.

 

Auch hier geht es nicht ohne den „Donner“ ab; obwohl die anschließende Betrachtung durchaus ihren Reiz hat und man das Stück daher lesen kann, denke ich. Formal ist gleich der erste Vers, der „Donner-Hexameter“, ein wenig wacklig gebaut?! Aber auch hier kehrt im folgenden Sicherheit ein und die Verse bewegen sich gut!

Erzählformen: Das Distichon (72)

Manchmal taucht ein Distichon gänzlich unerwartet auf, so zum Beispiel in Franz Freiherr Gaudys „Mein Römerzug“, wo es im Kapitel „Ferrara und Fahrt bis Villa di San Bartolomeo“ anlässlich der in einer Kirche zu findenden Bilder, die der Reihe nach geschildert werden, heißt:

Die krüdeste Barberei, welche jemals der Kunst Gewalt antat, grenzt in San Francesco an die anmutigen Schöpfungen Tisis. Ein mit schwarzem Talar umkleideter Heiliger schwebt in den Lüften und hält einen jungen Mann, in der Stutzertracht der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, mit wohlgepuderten Locken, steifen Rockschößen, Brokatweste und Escarpins, bei den Haaren, um wie ein Raubvogel mit dem zappelnden Küchlein abzufahren. Die Umstehenden drücken pantomimisch ihr billiges Entsetzen über diesen neuen Ganymedes-Raub aus – ein kleines Bübchen läuft erschrocken davon – das Hündlein springt kläffend in die Höhe. Holt den jungen Mann der böse Feind? Tout au contraire. Das erläuternde Distichon vermeldet:

Cum secum rapto summam circumvolat aedem,
Joseph hinc Fatuo reddita mens iuveni est.

Unschlüssig wie der neue Pausias fragte ich:

Was bewundr‘ ich zuerst: die Kur, die schöne Legende,
Oder das treffliche Bild, oder den zierlichen Vers?

und zog aus, um den Kerker aufzusuchen, in welchem Tasso sieben Jahre geschmachtet, weil er, um mich des naiven Ausdrucks meines Reisehandbuchs zu bedienen. „das Unglück gehabt hatte, die Schwester des Fürsten zu lieben.“ Die Denkwürdigkeiten eines Gefängnisses üben sonst nur mittelmäßige Anziehungskraft auf mich aus – romatische Weiblein in meiner Heimat hatten es mir jedoch zur Gewissenssache gemacht, dies klassische Arrestlokal zu besuchen, und Eine derselben sogar den Füßen, welche gewürdigt worden, den heiligen Boden zu betreten, ein Paar genähter Pantoffeln gelobt. Der Pantoffelgewalt aber widerstehe ein Anderer.

Das liest sich, mit seinen sogar zwei Distichen (einem deutschen und einem lateinischen), nun … unterhaltsam? Man könnte manches dazu sagen, sicherlich; ich belasse es aber bei dem Hinweis, dass „Der neue Pausias und sein Blumenmädchen“ ein Gedicht Goethes ist, und Gaudy hier ein Distichon daraus abwandelt – bei Goethe heißt es:

Was bewundr‘ ich zuerst? Was zuletzt? Die herrlichen Blumen?
Oder der Finger Geschick? Oder der Wählerin Geist?

Reflexion

„Reflexion“ ist der Titel eines nicht allzu langen dichtungstheoretischen Textes von Friedrich Hölderlin, an dessen Anfang sich diese Sätze finden:

Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muss aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hintenan gehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiss nur höchst selten brauchbar.

Das musste gesagt werden; schön, dass es gerade Hölderlin getan hat.

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (6)

Als Erzählvers hat es der iambische Dreiheber nicht leicht; er ist sehr kurz, meist sind mehrere nötig, um einen Satz aufzunehmen, und er wird dadurch nicht recht als Einheit erfahrbar. August Kopisch benutzt ihn aber doch, in „Graf Roger auf Scilla“; Roger weist darin den Vorschlag der Fee Morgana zurück, die ihm nicht nur sich selbst, sondern auch das ganze, von ihm begehrte Sizilien hat schenken wollen, und

 

Morgana rief: „O wehe,
Wie viele Jahre wirst du
Nun schwere Schlachten kämpfen!“

 

Der Blick ins Geschichtsbuch lehrt: sehr viele, in der Tat. Roger verweist aber auf alte Gewohnheiten:

 

„Muss ich viel Jahre kämpfen,
So ist’s der Helden Sitte,
In langem Streit zu dauern.“

 

Worauf Morgana weinend verschwindet.

 

Er aber stieg vom Turme
Des schwarzen Scillafelsens;
Zu seinen Schiffen ging er;
Der Helden Mut zu höhen,
Ließ er Drommeten schmettern.
Da schwollen hundert Segel,
Zu tausend Siegen flogen
Sie stürmend nach Sizilien.

 

Und abgesehen davon, dass einem das ganze Heldengetue heutzutage ein wenig eigenartig vorkommt: Die Verse an sich sind eben doch eigenständig, jeder ist als ein Einzelnes erfahrbar; und dadurch ist auch der ganze Text spannungsreich und gut zu lesen.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (62)

Die Verse von Joseph von Eichendorffs „Die Jungfrau und der Ritter“ scheinen ganz gewöhnliche gereihte und ungereimte trochäische Vierheber zu sein:

 

Eine Jungfrau wandert‘ einsam
In dem wunderschönen Frankreich,
Gen Paris sie wollte ziehen,
Wo die Eltern ihrer harrten;
Von den Ihren abgekommen,
Hatt‘ sie sich verirrt im Walde,
Lehnte sich an eine Eiche,
And’re Wandrer abzuwarten.

Kam ein Ritter da geritten,
Gleichfalls gen Paris er trabte.
„Wenn es Euch beliebt, Herr Ritter,
Nehmt mich mit aus diesem Walde.“
„Herzlich gerne, schöne Herrin!“
Und, ihr höflich aufzuwarten,
Sprang der Ritter von dem Rosse,
Hob hinauf sie, in den Sattel
Drauf sich selber zu ihr schwingend.

Aber als sie so im Walde
Einsam ritten, da begann er
Ihr verliebt den Hof zu machen.
„Hüt‘ dich, Ritter, sei nicht schändlich,
Ein Todkranker war mein Vater
Und verpestet meine Mutter,
Siech und elend müsst verschmachten,
Wer mich frevelhaft berührte.“
Und der Ritter schwieg erblassend.
Aber in Paris am Tore
Still in sich die Jungfrau lachte.

„Warum lacht Ihr, schöne Herrin?“ –
„Über den feigen Ritter lach‘ ich,
Der sein Mädchen hat im Freien
Und nichts macht als Redensarten!“

Voller Scham sprach da der Ritter:
„Kehrt noch einmal um zum Walde,
Habe draußen was vergessen.“
Doch die schlaue Jungfrau sagte:
„Nimmer kehr‘ ich um, und tät‘ ich’s,
Keiner doch wagt’s, mir zu nahen,
Denn ich bin die Tochter Frankreichs,
Und der König ist mein Vater,
Und wer meinen Leib berührte,
Müsst’s mit seinem Kopf bezahlen.“

 

Genaueres Hinschauen und -hören zeigt aber, dass doch ein wenig mehr Ordnung in dem ganzen Text steckt: Die geraden Verse haben eine durchgängige Assonanz auf „a“! Eine viel unauffälligere Bindung der Verse als die durch einen Reim, aber darum noch lange keine wirkungslose …