Erzählverse: Der trochäische Vierheber (27)

Wo kommen die Geschichten her? Aus den „Gesta Romanorum“, einem sehr berühmten Erzählbuch des Mittelalters! Gut, nicht alle; aber viele. Das hat auch Hugo von Hofmannsthal gewusst, der am Beginn seines Prologs zu „Der Tor und der Tod“ vier Freunde vorstellt – „Der jüngste“, schreibt er,

 

War Andrea: sein Besitztum
War ein großes, altes, dickes
Buch: die „Gesta Romanorum“,
Voll der schönsten alten Märchen
Und phantastischen Geschichten,
Voll antiker Anekdoten
Und aristole’scher Weisheit.
Wer dies Buch hat, braucht die Bibel,
Braucht Scheherasadens Märchen
Und die heiligen Legenden
Nicht zu lesen, nicht den Platon,
Nicht die Kirchenväter, nicht die
Fabeln des Giovan Boccaccio,
Denn das hat er alles drinnen,
Alle Weisheit, alle Narrheit,
Bunt und wundervoll verwoben.

 

Dazu muss ich dann nicht mehr viel sagen; das „Wie“, Hofmannsthals Vierheber, ist wie immer bei ihm nicht zu beanstanden, vollendete Verse ausnahmslos; und das „Was“ unterschreibe ich auch, einfach so: Die „Gesta“ sind eine einmalige Sammlung, die zeigt, wo die alten Geschichten herkommen; und genauso, wo neue Geschichten ihren Ursprung haben können. Wer sie in die Hände bekommt, sollte also unbedingt drin lesen! Wenn nicht gerade Hofmannsthals Prolog dran ist – lesenswert auch der, bis er mit diesen Versen endet:

 

Leise las Andrea ihnen
Eine seltsame gereimte
Kleine Totentanzkomödie.

Die vergiftete Quelle

Einmals lebte ein König, der hatte, wie jeglicher Mensch hat,
Feinde; die wollten ihn töten. Und weil er ein Herrscher von Macht war,
Sollte sein Tod der durch Gift sein. So gingen, als Händler verkleidet,
Einige hin zu des Königs Stadt, in der Stadt hin zur Quelle,
Daraus der König mit Vorliebe trank, und gaben ein Gift zu.
Als nun der König kam, der von allem diesen nichts wusste,
Trank er nach seiner Gewohnheit; und starb.

 

Das ist die in Hexameter gegossene Nr. 147 aus den „Gesta Romanorum“ in der 1973 bei Insel erschienenen Ausgabe, dort zu finden auf Seite 296:

Man erzählt von einem König, den gedachten seine Feinde ums Leben zu bringen; und zwar wollten sie ihn, weil er zu mächtig war, durch Gift töten. Es kamen also einige von ihnen in gewöhnlichen in die Stadt, wo er residierte. Dort war eine Quelle, woraus der König sehr oft trank; diese Quelle vergifteten sie allenthalben. Der König aber wusste von nichts und trank nach seiner Gewohnheit und starb.

Das Ein-Vers-Gedicht (9)

Niemand erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber.

 

– Steht in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und ist ein hübscher Hexameter!

Sicher, da ist diese dreisilbige Senkung, „-es: so er-„; aber die drei unbetonten Silben sind durch die Zäsur in „eins / zwei“ getrennt, und diese Einheiten ist das Hexameter-Ohr gewohnt … Klopstock hatte auch viele solche Verse in der ersten Auflage seines „Messias“, warum dann nicht auch Nietzsche.

Etwas unschöner ist da schon das „ich mir mich“, eine böse Pronomenshäufung; darin muss man dann „ich“ betonen, soll es wie ein Hexameter klingen. Das geht gut und tönt gut, spätestens nach dem zweiten Versuch.

Der Inhalt jedenfalls scheint mir so schön rund und abgeschlossen – er sollte einfach als Vers daherkommen!

Die Veröffentlichung

Bisher habe ich noch keinen Eintrag in der Kategorie “Allgemein” abgelegt – das soll sich nun ändern! Grund dafür ist ein Buch von Tony Kellen mit dem gewichtigen Titel “Die Dichtkunst”, erschienen in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Darin heißt es ganz am Schluss:

 

Die Veröffentlichung von Gedichten

Dichter lieben nicht zu schweigen,
Wollen sich der Menge zeigen
.
– Goethe

Es kann niemand, dem einmal ein Gedicht gelungen ist, verwehrt werden, es dem Kreisblatt oder dem Generalanzeiger der nächsten Stadt zu schicken, aber wenn es gedruckt wird, so glaube er ja noch nicht, ein großer Dichter zu sein.

Leider lassen sich manche Dilettanten, denen einmal ein Gedicht gedruckt worden ist, durch ihre Eitelkeit verleiten, noch weiter zu dichten, und da es schwer fällt, viele Gedichte in Zeitungen oder Zeitschriften unterzubringen, so sieht der betreffende Dilettant sich bald im Besitze einer ganzen Menge geschriebener Gedichte, die er nun um jeden Preis in Buchform gedruckt sehen will. Erst versucht er es bei einem Verleger, dann bei einem zweiten, dritten, vielleicht sogar zehnten oder zwanzigsten, und wenn er das Manuskript immer wieder zurückerhalten hat, entschließt er sich, die Sammlung auf seine Kosten drucken zu lassen. Es gibt ja jetzt in Deutschland eine ganze Reihe von Verlegern, die lediglich von der Eitelkeit und Dummheit der Dichterlinge leben. Diese Verleger lassen sich die Herstellungskosten mehr als reichlich bezahlen, tun aber nichts für den Vertrieb, weil sie wissen, dass das völlig zwecklos wäre, und schließlich sehen die Verfasser ein, dass sie besser getan hätten, ihre Gedichte ungedruckt zu lassen.

 

Soviel hat sich geändert in den hundert Jahren, die verstrichen sind, seit diese Zeilen geschrieben wurden – aber manches hat sich eben auch gehalten; eine gewisse Sorte von Verlagen, zum Beispiel.

Ohne Titel

Erst hin, dann her,
Gedankenleer
Und stumm bewegte Vater,
Längst ein Greis, den Schaukelstuhl,
Vor, zurück; das tat er.

Oft stundenlang
Stieg auf und sank
Im Schaukelstuhl der Vater,
Vor, zurück – der stumme Greis
Schaukelte; das tat er.

Erzählformen: Das Madrigal (4)

Goethes „Faust“ ist ein Studierbuch erster Güte für so gut wie alles, was das Deutsche an „geregeltem Vers“ zu bieten hat – da macht das Madrigal keine Ausnahme! Viele Abschnitte des ersten Teils sind „madrigalisch“ gebaut, ein Beispiel aus „Studierzimmer (2)“, anschließend an das berühmte „Ich bin des trocknen Tons nun satt“:

 

Mephistopheles

Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen;
Ihr durchstudiert die groß’ und kleine Welt,
Um es am Ende gehn zu lassen,
Wie’s Gott gefällt.
Vergebens, dass Ihr ringsum wissenschaftlich schweift,
Ein jeder lernt nur, was er lernen kann;
Doch, der den Augenblick ergreift,
Das ist der rechte Mann.
Ihr seid noch ziemlich wohl gebaut,
An Kühnheit wird’s Euch auch nicht fehlen,
Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut,
Vertrauen Euch die andern Seelen.
Besonders lernt die Weiber führen
Es ist ihr ewig Weh und Ach
So tausendfach
Aus einem Punkte zu kurieren,
Und wenn Ihr halbweg ehrbar tut,
Dann habt Ihr sie all unterm Hut.
Ein Titel muss sie erst vertraulich machen,
Dass Eure Kunst viel Künste übersteigt;
Zum Willkomm tappt Ihr dann nach allen Siebensachen,
Um die ein andrer viele Jahre streicht,
Versteht das Pülslein wohl zu drücken,
Und fasset sie mit feurig schlauen Blicken
Wohl um die schlanke Hüfte frei,
Zu sehn, wie fest geschnürt sie sei.

 

Wunderbare Verse, die sich fein bewegen. Da lohnt an jeder Stelle das Hineindenken und -hören?! Zum Beispiel, wie in V4 ein Zweiheber den ersten Satz schließt; dann macht ein langer, wuchtiger Sechsheber den zweiten Satz auf, dem schön ordentlich ein Fünfheber, ein Vierheber und ein Dreiheber folgen; mit dem Dreiheber endet der Satz.

Das sind die Möglichkeiten, die das Madrigal dem Versemacher an die Hand gibt; und Goethe ist bestimmt nicht der schlechteste Ort, um sich nach Beispielen dafür umzusehen. Also, ruhig den „Faust“ mal wieder in die Hand nehmen – lohnt ja ohnehin immer …

Oder anders

Wirf die Angel aus, riet der Fluss einem gelangweilten Mann, und: trink ein Glas Wasser, riet ihm der Fisch. Der Mann dankte beiden, ging nach Hause und stritt sich mit seiner Frau.

Erzählverse: Der Hexameter (57)

Im fünften Band von Ricarda Huchs „Gesammelten Werken“, erschienen 1971 bei Kiepenheuer & Witsch, findet sich auf den Seiten 319 und 320 der kurze Hexameter-Text „Einsame Nixe“:

 

Oft, wenn es dunkelte, hob aus dem Teich sich die reizende Nixe
Halben Leibs; es rieselte sacht von den schilfigen Haaren.
Mondengleich beschien ihre weiße Brust die Gebüsche,
Erlen und Weiden umher, sie leuchteten hell vor den andern,
Und es schimmerten feucht ihre Augen wie Perlen des Meeres.
Nichts bekümmerte sie, die alles von Anfang gesehen.
Wundersam nun erscholl ihre süße, kristallene Stimme
Leicht wie Luft. Und sie sang von den herrlichen Wundern der Schöpfung,
Sang von des Schicksals Gewalt und dem dunklen Geheimnis des Todes.
Bald wie Akkorde der Harfe ertönten die Zaubergesänge,
Bald, wie ihr zärtliches Lied die klagende Nachtigall flötet.
Aber niemand hörte die Einsame; träumerisch lauschte
Nur die heilige Nacht, es lauschten die ewigen Sterne.

 

Das geht gar nicht, oder? Schon die Adjektive lassen Schlimmes vermuten: „sacht“ (immerhin nicht: „sanft“), „süß“, „zärtlich“, „heilig“, „ewig“ … Dazu treten dann die ganz großen Substantive, „die heilige Nacht“, „die ewigen Sterne“, was die Dinge nicht wirklich besser macht; und wahrscheinlich schließt der Text nicht rein zufällig mit diesen Ausdrücken – noch weiter kann man die Dinge kaum treiben?!

Bloß, dass Huch das wahrscheinlich nicht so gesehen hat. Und auch, dass ich den Text trotzdem mag … Immer dasselbe: Wenn die Hexameter gut sind, ist mir der Rest herzlich gleichgültig. Und das sind sie – die Verse bewegen sich gut (nur der vorletzte ist im Eingang etwas gewöhnungsbedürftig), im Vortrag richtet sich die Aufmerksamkeit auf die ausgeglichene, ruhig fließende Bewegung, und die etwas beliebigen Wörter samt der übergroßen Ausdrücke – alles nicht mehr so wichtig …

Was nicht heißen soll, ich würde so was schreiben, heute; denn eigentlich, siehe oben.

Das Königreich von Sede (52)

Bekam Prinz Klappstuhl was zu hören,
Wo’s sinnvoll schien, sich aufzuregen,
Dann ging er, auszuräumen jeden
Verdacht, er wolle jemand stören,
Das heißt, zuerst der Nachbarn wegen:
Hinaus, um mit der Nacht zu reden.