Die Bewegungsschule (23)

Die erste Strophe von Johann Heinrich Voß‘ „Die Braut am Gestade“ liest sich so:

 

Schwarz wie Nacht, brausest du auf, Meer!
Wie wogt, wie krümmt sich und schäumt Brandung!
Wer? o Gott! fliegt in dem Sturm? Wer?
Und fleht, die Hände gestreckt, Landung?
Ein weites Grab
Wogt furchtbar zum Tod winkend!
Auf rollts und ab,
Nun strudelt das Schiff sinkend!

 

Wer mag, kann sich ja einmal die Verteilung der schweren und leichten Silben überlegen?! Voß besetzt hier die schweren, betonten Stellen recht durchgängig mit Sinnsilben (Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb), die leichten, unbetonten Stellen mit Bausilben; es sollte also recht eindeutig sein. Ich schreibe noch einige Sätze allgemeiner Art zum Text und gebe das Schema dann weiter unten an!

Der Text wirkt ungewohnt. Das liegt sicher vor allem daran, dass er gereimt ist, aber das „Auf und Ab“, den regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Silben, an das man so sehr gewöhnt ist bei gereimten Texten, nirgends verwirklicht. Stattdessen tummeln sich sehr viele schwere Silben in den Versen, oft auch in unmittelbarer Nachbarschaft!

Trotzdem beachtet Voss eine Eigenheit des Reimverses fast durchgängig: Verse, die durch Reime verbunden sind, also den gleichen Klang am Versende aufweisen, haben auch dieselbe Silbenverteilung, die den Leser / Hörer zu diesem Gleichklang hinführt! Obwohl das nicht für alle Reimverse gilt, für die meisten ist es so; und das Ohr ist daran gewöhnt. Geleistet wird so die Schaffung einer Erwartungshaltung, ein Warten und Abzählen: „Der Reim kommt … jetzt!“ Und diese Möglichkeit bietet dann auch der Voßsche Text, obwohl sicherlich nur eingeschränkt; zu fremd ist die gewählte Bewegungslinie …

Das zweistrophige Gedicht ist von Karl Friedrich Zelter auch vertont worden. Wer irgendwo eine Aufnahme findet, sollte vergleichen, wie Zelter die „leichten“ und „schweren“ Stellen in Musik gebracht hat, zum Beispiel, welche Zeitwerte er den schweren Silben zugewiesen hat!

Wie sieht die Verteilung der Silben nun aber aus? So:

TAM ta TAM TAM ta ta TAM TAM
ta TAM ta TAM ta ta TAM TAM ta
TAM ta TAM TAM ta ta TAM TAM
ta TAM ta TAM ta ta TAM TAM ta
ta TAM ta TAM
TAM TAM ta ta TAM TAM ta
TAM TAM ta TAM
TAM TAM ta ta TAM TAM ta

Die angesprochene Versgeichheit ist überall gegeben, die einzige Ausnahme ist der siebte Vers, dessen erste Silbe nicht „ta“ ist, wie im fünften Vers, sondern „TAM„. Gegen die Zuordnung „Schwere Silbe = Sinnwort“ verstößt nur das doppelte „Wer“, was aber als eine „Ein-Wort-Frage“ erscheint und dadurch ausreichend Gewicht hat! Streiten könnte man über das „Nun“ im Schluss-Vers, aber ich denke, es klingt nicht falsch, wenn man es „schwer“ liest?!

Ansonsten wirkt der Text sehr unruhig, viele nachdrückliche, aber schräg klingende Bewegungen sind dabei. Das liegt sicher auch an dieser Einheit: „ta TAM TAM ta“, die einige Male vorkommt: „und schäumt Brandung“, „zum Tod winkend“, „das Schiff sinkend“. Sehr ungewohnt, weil in einem gewöhnlichen Reimtext unmöglich; aber auch sonst selten! Trotzdem von nachdrücklicher Wirkung, und wenn man diese Einheit gelegentlich bewusst einsetzt, lässt sich damit viel erreichen. Ich werde daher noch auf sie zurückkommen!

(Hat jemand die Verteilung zu finden versucht? Ist es geglückt? Ja?! Sehr gut!)

Erzählformen: Das Distichon (8)

Wo Goethe weilt (7), ist Friedrich Schiller nicht fern: Das folgende in Distichen geschriebene Gedicht aus seiner Feder ist keines seiner unbekannteren!

 

Die Sänger der Vorwelt

Sagt, wo sind die Vortrefflichen hin, wo find’ ich die Sänger,
Die mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt,
Die vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen,
Und getragen den Geist hoch auf den Flügeln des Lieds?
Ach, noch leben die Sänger; nur fehlen die Taten, die Lyra
Freudig zu wecken, es fehlt, ach! ein empfangendes Ohr.
Glückliche Dichter der glücklichen Welt! Von Munde zu Munde
Flog, von Geschlecht zu Geschlecht euer empfundenes Wort.
Wie man die Götter empfängt, so begrüßte Jeder mit Andacht,
Was der Genius ihm, redend und bildend, erschuf.
An der Glut des Gesangs entflammten des Hörers Gefühle,
An des Hörers Gefühl nährte der Sänger die Glut.
Nährt’ und reinigte sie! Der Glückliche, dem in des Volkes
Stimme noch hell zurück tönte die Seele des Lieds,
Dem noch von außen erschien, im Leben, die himmlische Gottheit,
Die der Neuere kaum, kaum noch im Herzen vernimmt.

 

Der rhetorischen Aufwand, den Schiller hier treibt, oft gestützt auf die durch die Zäsur gegebene Zweiteiligkeit der Hexa- und Pentameter, ist beachtlich:

An der Glut des Gesangs entflammten des Hörers Gefühle,
An des Hörers Gefühl nährte der Sänger die Glut.

Sehr einprägsam! Aus Verssicht spannender ist aber Schillers Behandlung der Verseingänge – da stehen nämlich ziemlich oft recht bis sehr schwache zweisilbige Einheiten, sowohl in den Hexa-, als auch in den Pentametern:

„Die vom“, „Und ge-„, „Was der“, „An der“, „An des“, „Die der“.

Da ist die Versuchung groß, im Vortrag die erste Silbe genausowenig zu betonen wie die zweite, schließlich ist „die“ genauso „schwer“ wie „der“!? Aber das geht eben nicht, denn in Hexa- und Pentameter ist die erste Silbe „schwer“, was auch meint: durch Betonung hervorgehoben! Anders stehen die Dinge, ist das zugrundeliegende Maß ein anderes, wie in den folgenden Versen von August von Platen:

 

Kaum hat sie erreicht der Poet, drum gönnt
Langatmende Muße dem Wanderer, der
An des südlichen Meers Felsufer (da schon
Das Gespann des Apoll in die Waag‘ eintrat)
Sturmwinde belauscht, Anapäste betont,
Und Erfindungen denkt,
Zu belustigen Krethi und Plethi.

 

Das von Platen verwendete Maß ist der Vers, den hier im Verserzähler die „Bewegungsschule“ über ihr erstes Dutzend Einträge entwickelt hat; wer dort mitgelesen hat, weiß, dass der Vers mit zwei leichten Silben beginnt, und daher ist das „An des“ in diesem Rahmen „leicht“:

An des süd– / lichen Meers || Felsu– / fer (da schon

Anders bei Schiller; bei ihm ist das Maß ein Pentameter, und das „An“ des „An des“ ist „schwer“:

An des / rers Ge- / fühl || nährte der / Sänger die / Glut.

Das muss man im Vortrag beachten; tut mans nicht, gewinnen die gewählten Verse keine Gestalt, die Sprache richtet sich ausschließlich nach dem Satz aus, und der Vortrag verkümmert zu rhythmischer Prosa. Was schade wäre!

Und erreichbar ist diese Hervorhebung der Anfangssilbe allemal. Sicher, Schiller hätte die Verseingänge auch mit gewichtigeren Silben besetzen können; aber wäre das dann auch dieses klare aufeinanderaufbauende Vorwärtsdrängen geworden?! Ich glaube, da hat er darauf vertraut, dass seine Leser und Sprecher das schon richtig machen werden.

Bücher zum Vers (33)

Alexander Nitzberg: Lyrikbaukasten. Wie man ein Gedicht macht.

Dieses 2006 bei DuMont erschienene Werk ist ein Lehrbuch des Gedichtemachens. Allerdings keiner dieser herzlich überflüssigen Ratgeber, die vermitteln, wie man das nächst anstehende Geburtstags- oder Hochzeitsgedicht zusammenschustert, sondern ein ernsthafter Versuch, dem Leser durch Erklärungen und Übungen die Produktion moderner Lyrik zu ermöglichen.

Die Kapitel lauten: Die Sprache der Lyrik, Phonetik, Stilistik, Tropik, Komposition, Die Rezitation, Der Dichter.

Daraus kann man ja vielleicht schon ersehen, dass Reim, festes Metrum etc hier zwar auch verkommen, aber nur eine Nebenrolle spielen. Insgesamt ein Werk, aus dem alle noch etwas mitnehmen können, die schon länger schreiben – wenn nicht inhatlich, so doch auf jeden Fall durch Nachdenken über die von Nitzberg formulierten Thesen. Man muss nicht allem zustimmen (ich persönlich mache es bestimmt nicht), aber bedenkenswert ist eigentlich alles.

Ich gebe ein Beispiel aus dem Kapitel Tropik. Nitzberg sagt über das Bild: Bilder müssen um jeden Preis sichtbar sein und gibt davon ausgehend dann zehn Eigenschaften, die ein (lyrisches) Bild aufweisen sollte:

1. Ein Bild muss konkret sein. Abstrakt und sichtbar geht nicht.
2. Ein Bild muss positiv sein. Was es nicht gibt, kann nicht gesehen werden.
3. Ein Bild muss in sich geschlossen sein. Es erschafft seine eigene Realität.
4. Ein Bild muss schlicht sein. Das Auge braucht Überschaubarkeit.
5. Ein Bild muss logisch sein. Nicht „alltags-logisch“, sondern „augen-logisch“.
6. Ein Bild muss unmittelbar sein. Es spricht aus sich selbst, braucht keinen Kommentar.
7. Ein Bild muss statisch sein. Auch gemalte Bilder bewegen sich nicht.
8. Ein Bild muss glaubwürdig sein. Die Notwendigkeit, „im Bild“ zu bleiben.
9. Ein Bild muss faszinierend sein. Das Staunen des Dichters muss das des Lesers werden.
10. Ein Bild muss außerordentlich sein. Keine Klischees ohne visuelle Ausstrahlung.

Nitzberg erläutert diese zehn Punkte natürlich viel ausführlicher, oft über eine Seite oder mehr, stets mit guten Argumenten. Manchem der zehn Punkte wird man sofort zustimmen, andere reizen zum Widerspruch: Muss ein Bild wirklich statisch sein? Sind verneinende Bilder wirklich gefährlich? Aber wie oben gesagt …

Also, wer den Band in die Hand bekommt, sollte hineinsehen; ich denke, die Zeit ist nicht vertan.

Erzählverse: Der Hexameter (42)

König Siwi

Friedrich Rückert war wahrhaft ein Mann vieler Sprachen und gilt als einer der Begründer der deutschen Orientalistik. Er hat dabei zahllose Texte übersetzt, darunter auch in Hexameter; in seinem Liedertagebuch für 1853 findet sich zum Beispiel „König Siwi. Eine indische Legende“. Diese Legende ist gerade so lang, dass man sie am Bildschirm noch lesen kann:

 

Siwi den König zu prüfen, verwandelten einst sich die Götter,
Indra zu fliehender Taube, zu jagendem Habichte Jama.
Wie vorm Tode das Leben, so floh vorm Herren der Toten
Scheu als Taube der Herr des Lebendigen, Indra vor Habicht
Jama, dem unablässig verfolgenden; aber die Taube
Flüchtete, rettete sich zum offenen Schoße des Königs,
Wo sie sich barg und schmiegte, vertrauensvoll. Aber von oben
Sprach zum König herab mit menschlicher Rede der Habicht:
„Gib mir heraus mein Futter! Ich hab ein Recht an der Taube;
Vorenthalte mein Recht mir nicht, rechtliebender König!“
Doch ihm sagte darauf der schützlingsschützende König:
„Habicht, fordre was anders von mir! Fleisch ist sie von meinem
Eigenen Fleische geworden; vom eigenen Fleische dir lieber
Wollt‘ ich geben dein Futter.“ „Wohlan!“ so sagte der Habicht,
Und ihm schwebt‘ an der Klau’n eine goldene Waage hernieder:
„Willst du mir hier aufwägen mit eigenem Fleische die Taube?“
„Ja!“ sprach mutig der König; er setzte die Taub in die eine
Schal‘, und legte soviel vom eignen Fleisch in die andre,
Als zum Gegengewichte der schmächtigen schien zu genügen.
Doch es genügete nicht: Schwer ward und schwerer die Taube,
Und wog auf vom Fleische des Königes, was er hinzutat;
Bis er ganz in die Waage mit wuchtendem Leib sich legte:
Da zog nieder die Schale des Königes. Aber der Habicht
Sprach, zum Gotte gewandelt: „Zu leicht nicht bist du befunden,
Heil dir, König, im Leben; im Tode dir Heil, o König!
Das ist Indra, der Hort des Lebendigen; Jama, der Toten
Meister bin ich; du bestandest die Prob‘ in der Waage des Todes.
Indra, beschützt von dir, wird dich im Leben beschützen,
Und ich werde dir sein ein gnädiger Richter im Tode.“

 

Das klingt ein einigen Stellen etwas eigenartig, oder? Ich denke mal (ohne irgendeine wirkliche Ahnung zu haben), Dinge wie der „schützlingsschützende“ König beruhen in dieser oder jener Weise auf der Vorlage; andere rühren vom Bau des Hexameters her, etwa in diesem Vers:

Habicht, / fordre was / anders von / mir! || Fleisch / ist sie von / meinem

Da tragen das Pronomen „mir“ und das Hilfsverb „ist“ die Betonungen, und das mächtige Wort „Fleisch“ sitzt dazwischen auf der Senkungsposition! Da bleibt dann keine Möglichkeit, als einen „Spondäus“ zu lesen, also „mir“ und „Fleisch“ gleichstark zu betonen, und dann auch das „ist“ stärker hervorzuheben, was ja auch passt: Sie ist es – wirklich, tatsächlich!

Derlei Dinge gibt es noch mehr, aber sie fügen sich alle wunderbar ein. Das merkt man, wenn man den Text anderen vorliest – einmal gleitet man wirklich schön durch die Zeilen, und zum anderen sind die Zuhörer von Anfang an aufmerksam und bleiben es auch. So war es jedenfalls bisher bei mir.

Das Königreich von Sede (48)

Pulverfass, des Königs Seher,
Geht am Tag des langen Regens
Einmal um das Schloss herum;
Wie es Sedes Seher halten
Seit den Tagen König Bodens.
Ihm zur Seite hüpfen Frösche,
Alle, die im Graben leben,
Und es gilt ein Schritt des Sehers
Ihnen drei beherzte Sprünge,
So sie groß und kräftig sind;
Fünfmal aber springen jene,
Die den Tag des langen Regens
Heut zum ersten Mal erleben –
Junge Frösche, klein und schmächtig.

Erzählverse: Der iambische Trimeter (11)

Die folgenden Trimeter stehen ziemlich am Anfang von Hugo von Hofmannthals „Idylle“. „Die Frau“ sagt:

 

Im blütenweißen kleinen Garten saß ich oft,
Den Blick aufs väterliche Handwerk hingewandt,
Das nette Werk des Töpferns: wie der Scheibe da,
Der surrenden im Kreis, die edle Form entstieg,
Im stillen Werden einer zarten Blume gleich,
Mit kühlem Glanz des Elfenbeins. Darauf erschuf
Der Vater Henkel, mit Akanthusblatt geziert,
Und ein Akanthus-, ein Olivenkranz wohl auch
Umlief als dunkelroter Schmuck des Kruges Rand.

 

Der Trimeter ist ein weiter Vers, er kann vieles aufnehmen und muss das auch, muss eine gewisse Fülle aufweisen, damit er nicht schwach und kraftlos wirkt. Das kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden, manche sind dabei gefährlicher als andere. Hofmannthals Verse hier sind schön, und ich schätze sie auch; trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, viele der verwendeten Adjektive kommen auch vor, weil der Vers eben diese Fülle braucht; und sind diese Adjektive nicht doch ein wenig mechanisch, fast lieblos gesetzt?!

Der surrenden im Kreis, die edle Form entstieg,
Im stillen Werden einer zarten Blume gleich,
Mit kühlem Glanz des Elfenbeins.

Mir jedenfalls will die Art, wie hier aber auch jedes Substantiv durch ein vorgestelltes Adjektiv ergänzt wird, nicht recht gefallen.