Erzählformen: Das Distichon (8)

Wo Goethe weilt (7), ist Friedrich Schiller nicht fern: Das folgende in Distichen geschriebene Gedicht aus seiner Feder ist keines seiner unbekannteren!

 

Die Sänger der Vorwelt

Sagt, wo sind die Vortrefflichen hin, wo find’ ich die Sänger,
Die mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt,
Die vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen,
Und getragen den Geist hoch auf den Flügeln des Lieds?
Ach, noch leben die Sänger; nur fehlen die Taten, die Lyra
Freudig zu wecken, es fehlt, ach! ein empfangendes Ohr.
Glückliche Dichter der glücklichen Welt! Von Munde zu Munde
Flog, von Geschlecht zu Geschlecht euer empfundenes Wort.
Wie man die Götter empfängt, so begrüßte Jeder mit Andacht,
Was der Genius ihm, redend und bildend, erschuf.
An der Glut des Gesangs entflammten des Hörers Gefühle,
An des Hörers Gefühl nährte der Sänger die Glut.
Nährt’ und reinigte sie! Der Glückliche, dem in des Volkes
Stimme noch hell zurück tönte die Seele des Lieds,
Dem noch von außen erschien, im Leben, die himmlische Gottheit,
Die der Neuere kaum, kaum noch im Herzen vernimmt.

 

Der rhetorischen Aufwand, den Schiller hier treibt, oft gestützt auf die durch die Zäsur gegebene Zweiteiligkeit der Hexa- und Pentameter, ist beachtlich:

An der Glut des Gesangs entflammten des Hörers Gefühle,
An des Hörers Gefühl nährte der Sänger die Glut.

Sehr einprägsam! Aus Verssicht spannender ist aber Schillers Behandlung der Verseingänge – da stehen nämlich ziemlich oft recht bis sehr schwache zweisilbige Einheiten, sowohl in den Hexa-, als auch in den Pentametern:

„Die vom“, „Und ge-„, „Was der“, „An der“, „An des“, „Die der“.

Da ist die Versuchung groß, im Vortrag die erste Silbe genausowenig zu betonen wie die zweite, schließlich ist „die“ genauso „schwer“ wie „der“!? Aber das geht eben nicht, denn in Hexa- und Pentameter ist die erste Silbe „schwer“, was auch meint: durch Betonung hervorgehoben! Anders stehen die Dinge, ist das zugrundeliegende Maß ein anderes, wie in den folgenden Versen von August von Platen:

 

Kaum hat sie erreicht der Poet, drum gönnt
Langatmende Muße dem Wanderer, der
An des südlichen Meers Felsufer (da schon
Das Gespann des Apoll in die Waag‘ eintrat)
Sturmwinde belauscht, Anapäste betont,
Und Erfindungen denkt,
Zu belustigen Krethi und Plethi.

 

Das von Platen verwendete Maß ist der Vers, den hier im Verserzähler die „Bewegungsschule“ über ihr erstes Dutzend Einträge entwickelt hat; wer dort mitgelesen hat, weiß, dass der Vers mit zwei leichten Silben beginnt, und daher ist das „An des“ in diesem Rahmen „leicht“:

An des süd– / lichen Meers || Felsu– / fer (da schon

Anders bei Schiller; bei ihm ist das Maß ein Pentameter, und das „An“ des „An des“ ist „schwer“:

An des / rers Ge- / fühl || nährte der / Sänger die / Glut.

Das muss man im Vortrag beachten; tut mans nicht, gewinnen die gewählten Verse keine Gestalt, die Sprache richtet sich ausschließlich nach dem Satz aus, und der Vortrag verkümmert zu rhythmischer Prosa. Was schade wäre!

Und erreichbar ist diese Hervorhebung der Anfangssilbe allemal. Sicher, Schiller hätte die Verseingänge auch mit gewichtigeren Silben besetzen können; aber wäre das dann auch dieses klare aufeinanderaufbauende Vorwärtsdrängen geworden?! Ich glaube, da hat er darauf vertraut, dass seine Leser und Sprecher das schon richtig machen werden.

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