Zeilensprung

Beim Schreiben von Hexametern ist es nicht erforderlich, auf eine Übereinstimmung von Vers und Inhalt zu achten; weder muss ein am Versbeginn einsetzender Satz am Versende schließen, noch muss ein Gedanke innerhalb eines einzelnen Verses vollständig dargestellt werden.* In Gegenteil: Das Hinüberführen von Satz und Gedanke aus dem einen Vers in den nächsten ist häufig und trägt zum abwechslungsreichen, vielfältigen Eindruck der im Hexameter geschriebenen Texte entscheidend bei! Allerdings darf das Gefühl für die Einheit des einzelnen Verses dabei nicht verloren gehen, so dass am Versende zumindest eine Sinneinheit beziehungsweise ein Satzglied schließen sollte. Als Beispiel dafür der Beginn von Goethes „Achilleis“:

Hoch zu Flammen entbrannte die mächtige Lohe noch einmal,
Strebend gegen den Himmel, und Ilios‘ Mauern erschienen
Rot, durch die finstere Nacht; der aufgeschichtenen Waldung
Ungeheures Gerüst, zusammenstürzend, erregte
Mächtige Glut zuletzt. Da senkten sich Hektors Gebeine
Nieder, und Asche** lag der edelste Troer am Boden.

Die heftigsten Zeilensprünge finden sich, wenn durch den Verswechsel Beiwort und Hauptwort getrennt werden, oder sogar Fürwort und Hauptwort. Der Beginn von Hölderlins „Der Archipelagus“ gibt gleich in den ersten zwei Vers für beides ein Beispiel:

Kehren die Kraniche wieder zu dir, und suchen zu deinen
Ufern wieder die Schiffe den Lauf? Umatmen erwünschte
Lüfte dir die beruhigte Flut, und sonnet der Delphin***,
Aus der Tiefe gelockt, am neuen Lichte den Rücken?

Diese harten Schnitte sollten aber selten bleiben. Unter keinen Umständen darf man sich die Trennung von Artikel und Hauptwort gestatten, auch wenn zu Beginn des eigenen Schreibens die Notwendigkeit, jeden Vers betont beginnen zu müssen, diese Möglichkeit sehr verlockend erscheinen lässt!****

Noch schroffer, und damit unangebrachter, ist der Sprung lediglich bei der Trennung eines Wortes am Versende. Geschieht das doch einmal, dann nur in humoristischer oder parodistischer Absicht, so am Beginn von Mörikes „Epistel“:

Wie sich dein neuer Poet in unserem Kreise gefalle?
Nicht zum besten. Er meint, man verstünd‘ ihn eben auch hier nicht.
Jetzo hat er ein griechisches Epos, hör‘ ich, die Argo-
Nauten, heroische Form, auf dem Amboss. Segn’es der Gott ihm,
Aber zu lesen begehr ich es nicht. Glaub mir, das ist auch so
Eins von den sauren Genies, dergleichen wir mehrere kennen.

In den ersten beiden Versen schließen Satz und Vers deckungsgleich; im dritten Vers dann folgt der härtestmögliche Zeilensprung! Danach ist auch der Sprung vom fünften in den sechsten Vers heftig.


* Als Beispiel für Hexameter, die auf den Zeilensprung verzichten, einige Verse aus dem „Karlskrieg“ von Weidmann:

Karl ging weiter, und sah mit Erstaunen die gräulichsten Wesen.
In dem finstersten Winkel erblickt er den Geiz mit Entsetzen.
Dieses Gespenst ist voll von Begierde und Hunger nach Golde:
Rings um ihn schwärmen die goldenen Träume. Sie täuschen ihn immer.
Hastig ergreift er die Schätze, doch sie verschwinden ihm wieder.
So vom ewigen Durste gemartet verfolgt er sich selbsten.

**„Asche“ anstelle des heute verwendeten „als Asche“ war zu Goethes Zeiten üblich.

*** Hölderlin betont „Delphin“ auf der ersten Silbe, wie es auch Schiller tut in „Das Glück“:

Ihm zu Füßen legt sich der Leu, das brausende Delphin.

Dagegen Goethe („Alexis und Dora“):

Langhin furcht sich die Gleise des Kiels, worin die Delphine

mit heutiger Aussprache.

**** Selbstredend ist aber auch das gemacht worden. Wildgans („Kirbisch“):

Aber er weiß es schon längst, der Allwissende, wie an dem Tag des
Großen Gerichts dereinst die Lose zu fallen bestimmt sind.

Im Distichon:

Und ich stehe und staune und freu mich des würzigen Dufts, des
Imposanten Verkehrs ringsum und sinnlosen Lärms …

– Flaischlen, „Hymne auf Berlin“.