Aus: Bernhard Dieckhoff, Handbuch der Poetik für Gymnasien (Münster 1832).
§ 72. Die anapästischen Verse.
Sie werden von den Alten dipodisch, von den Neueren monopodisch gemessen. Im Deutschen sind sie zwei-, drei- oder vierfüßig, akatalektisch und katalektisch. Diese nimmt man im Deutschen, da für den letzten Fuß eine bloße Kürze steht, besser für hyperkatalektisch.
Für den Anapästen kann auch der Spondäus ohne Verrückung der Arsis ( — —‘ )stehen: und die Neuern erlauben sich an dessen Stelle, so wie in den daktylischen Versen den Trochäus, so hier den Iambus, der aber, wenn nicht der Rhythmus des Verses bedeutend leiden soll, nur sparsam eingestreut werden darf. Der Daktylus und Proceleusmaticus, den die Alten statt des Anapästen gebrauchen konnten, und wo dann die Arsis auf eine kurze Silbe fällt, können in deutschen anapästischen Versen nicht gebraucht werden.
Einen eigenen Namen führte bei den Alten der Dimeter catalecticus (im Deutschen der dreifüßige hyperkatalektische anapästische Vers). Er hieß Paroemiacus und wurde besonders als Schlussvers nach mehreren akatalektischen Versen, gebraucht, wozu sein Rhythmus sich auch sehr wohl eignet. Er findet sich auch in deutschen Gedichten oft.
Ein Beispiel von einem anapästischen System nach der Weise der Alten ist:
Allwaltender Zeus, und o freundliche Nacht,
— —‘ / ◡ ◡ — || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — (Dimeter acatalecticus)
Des unendlichen Glanzes Erkämpfrin
◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ (Paroemiacus)
Die um Ilions Burg du das Trugnetz warfst
◡ ◡ — / ◡ ◡ — || ◡ ◡ —‘ / — —‘ (Dimeter acatalecticus)
Dass niemand nicht, der Erwachsenen nicht,
— —‘ / — —‘ || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — (Dimeter acatalecticus)
Noch der Jüngeren Schar, dem gewaltigen Garn
◡ ◡ — / ◡ ◡ — || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — (Dimeter acatalecticus)
In das knechtische Joch
◡ ◡ — / ◡ ◡ — (Monometer akatalecticus)
Hinreißenden Jammers entschlüpfte.
— —‘ / ◡ ◡ — ◡ ◡ — / ◡ (Paroemiacus)
– Wilhelm von Humboldt nach Aeschylus.
Bei den Alten ist noch besonders wichtig der Tetrameter catalecticus (der siebenfüßige hyperkatalektische anapästische Vers), welcher auch der Aristophanische heißt, weil ihn Aristophanes häufig gebraucht hat. Er hat nach der zweiten Dipodie einen bedeutenden Abschnitt, der nicht in die Mitte eines Wortes fallen darf, weil der Leser hier unwillkürlich eine längere Pause macht.
Beispiel:
O du ehrsamer Mann, der begehrte von uns die erhabene Weisheit zu holen,
◡ ◡ — / ◡ ◡ — | ◡ ◡ — / ◡ ◡ — || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — /◡ ◡ — / ◡
Wie beglückt zu Athen, und im griechischen Land wird einst dein Name gepriesen!
Wenn du anders noch Kraft des Gedächtnisses hast, und mit hungererduldender Liebe
Dich den Studien weihst, und müde nicht wirst nach Gebote zu stehn und zu laufen;
Wenn du Frost ausstehst, und darüber nicht klagst, und das Frühstück willig versäumest.
F. A. Wolf nach Aristophanes.