Vierter Gesang

Endlich erwacht aus dem seligen Traum, auf schlug er die Augen,
Sah nach den Göttern umher, und horchte nach ihren Gesprächen.
Doch kein tröstlicher Ton unterbrach die beklemmende Stille,
Und, statt himmlischen Glanzes, umgab ihn Finsternis wieder!
Kennend des Traumgotts Zauber noch nicht, fest glaubt er, im Himmel
Wieder gewesen zu sein, fest glaubt er aufs neue verbannt sich.
Neuer, unsäglicher Schmerz drang tief ins erschreckende Herz ihm;
Aber es war nicht mehr, wie zuvor, der verwegene, wilde,
Der sich in Frevel ergoss, und verzweifelnd Vernichtung begehrte –
10 Sanfterer Schmerz jetzt war’s, wehmütiger, reuig ergebner.
Sah er zurück auf die Bahn, die sonst er glücklich gewandelt,
Musst‘ er die Gnade des Zeus und der übrigen Götter erkennen,
Musst‘ er sich selbst der Verstoßung Schuld beimessen in Demut.
Hatt‘ ihn Zeus nicht ernstlich gewarnt, erst milder bestraft ihn,
Eh‘ der gesteigerten Schuld die gesteigerte Züchtigung folgte?
Hell in der Finsternis stand vor dem Inneren Auge der Seel‘ ihm
Zeus hochheil’ge Gestalt und die goldenen Strahlen des Thrones;
Und er dachte des frommen Gefühls, wie, niedergesunken
Vor dem erhabenen Thron, er betete schweigenden Mundes;
20 Dachte, wie Zeus ihn verstand mit dem herzendurchschauenden Geiste,
Gnädig die Hand ihm reicht, und gnädige Worte ihm sagte.
Warm dankbares Gefühl und kindliches, frommes Vertrauen
flammten im Herzen ihm auf; aus streckt‘ er die Hände zum Himmel,
Und auf’s raue Gestein hin kniet‘ er und betete also:
„Vater! O Vater! Ich nenne dich so; du nanntest ja Sohn mich!
Vater im herrlichen Himmel, aus dem ich armer verbannt bin,
Ach, nur einen der Strahlen von deinem erhabenen Throne
Sende herab, die entsetzliche Nacht hier mild zu erhellen!
Der du Leben und Geist mit allmächtigem Hauche mir schenktest,
30 Durch ein Zeichen der Huld nur tröst‘ und beglücke mich wieder!
Schlimm wohl hab‘ ich gefehlt! Ich habe dich sträflich beleidigt,
Hab‘ unwert mich gezeigt, in dem Saale der Götter zu weilen;
Aber es reut, o es reut mich tief! Und, ohne zu murren,
Will ich, mit kindlichem Sinn, still dulden verdiente Bestrafung.
Nur auf ewig verbanne mich nicht aus dem Kreise der Götter!
Sei barmherzig, o Zeus! Nicht lass mich gänzlich verderben!
Mildre die Qualen, die Schrecken, die hier mich grausam umgeben!
Nimm mich, wenn ich genug hier habe gebüßt auf der Erde,
Nimm mich, väterlich mild, dann wieder hinauf in den Himmel!
40 Hier nicht – droben bei dir, dort, dort ist die selige Heimat!
Mehr noch wollt‘ er, bewegten Gemüts, inbrünstiglich beten;
Aber es stockte die Stimme. Des ersten, verstummenden Weinens
Sanft wohltät’ges Gefühl strömt aus in den heißesten Tränen,
Halb von dem bittersten Schmerz, und halb von der freudigsten Hoffnung
Ihm aus den Augen gepresst, dass über die Wangen hinunter,
Hin auf das kalte Gestein der umnachteten Erde sie sanken.
Fruchtlos sann er, woher sein Auge die Tropfen genommen,
Denn noch wusst‘ er ja nicht, dass ohne das Opfer der Tränen,
Nach des Allmächt’gen Beschluss, kein Mensch kann weilen auf Erden.
50 Aber er fühlte den Schmerz in der Brust so tröstlich gemildert,
Dass er wähnte, sie wären herab von dem Himmel geträufelt,
Als ein Zeichen der Huld und Erhörung seines Gebetes.
Weithin schauen die Augen und hören die Ohren der Götter:
Drum in der finstersten Nacht auch nichts bleibt ihnen verborgen.
Als nun, traurenden Herzens, die Göttin der himmlischen Liebe
Schaut‘ auf den Menschen hinab, und vernahm sein Klagen und Weinen,
Sank ihr selber, der Göttin, aus leuchtendem Auge das erste,
Heilige Mitleidsträn‘, ein Juwel hellleuchtenden Glanzes.
Zeus, dies sehend, allmächtigen Fingers berührt er die Träne,
60 Ließ, im Versinken, sie wachsen zum dauernden, strahlenden Sterne,
Dann ihm weisend die Bahn um die traurig umnachtete Erde.
Als urplötzlich der Mensch nun sah aus der finsteren Ferne
Strahlen den herrlichen Stern, auf jauchzt‘ er in lautem Entzücken.
„Strahlen vom Himmel, o seid mir gegrüßt!“, so rief er frohlockend –
Ach, euch sendet herab, mitleidigen Herzens, die Liebe!
Das sind Strahlen, ich fühl‘ es, aus ihren erbarmenden Augen!
Venus nenn‘ ich dich Stern, dich Boten der gütigsten Göttin!
Nicht mehr bin ich verlassen! Die Götter erbarmen sich meiner!
Ewig gepriesen von mir sei Zeus, der Allmächtige, Hohe!
70 Da, mit allmächtigem Wink, ließ Zeus aus der finsteren Tiefe
Höher und höher die Erd‘ aufschweben, bis hin in die Räume,
Wo Myriaden von Welten einander, mit glänzenden Strahlen,
Freundlich begrüßten, als Kinder von einem allwaltenden Vater.
Als, unaufhaltsamen Flugs, nun ihnen die Erde sich nahte:
Welch ein Zauber! Es trat ein schimmernder Stern nach dem andern
Tief aus dem Dunkel hervor, und entzückte das Auge des Menschen.
„Jupiter! Juno! Merkur! Mars! Pallas!“, benannt‘ er sie freudig,
Jeder ein Bote für ihn von einem der gütigen Götter.
Doch als immer sich mehrte die Zahl der erscheinenden Sterne,
80 Dass er nicht mehr sie mit Namen zu nennen, zu zählen vermochte,
Nannt‘ er Himmel sie alle, sich freuend des himmlischen Glanzes,
Den, in unzähligen Strahlen, herab auf die Erde sie sandten.
Aber auf dem doch weilet am liebsten und längsten das Auge,
Den er am ersten erblickt, auf dem Sterne der Göttin der Liebe.
Mild aufdämmernder Schein goß jetzt sich über die Erde;
Forschend umher drum schaute der Mensch nach den Formen und Farben
Seiner Umgebung, versuchte zu gehn, und sich Nahrung zu suchen.
Doch nicht Formen, noch weniger Farben vermochte das Auge
Deutlich zu sehn; unebener Boden verführte zum Straucheln;
90 Und nicht Speise, noch Trank bot irgend die ärmliche Erde.
Da trat Venus bittend zum Thron des besänftigten Herrschers;
Und er gebot, dass, eilenden Flugs, ein Diener der Götter
Nahrung trage hinab, dass eine der holden Najaden
Labenden Trank, aus kristallener Urn‘, ihm biete die Fülle.
Dessen erfreute der Mensch sich sehr; er genoss von der Speise,
Schöpft‘ aus dem rieselnden Quell, der dicht vor den Füßen ihm hinfloss,
Trank, und dankte den Göttern, die seiner sich wieder erbarmet.
Aber der sprudelnde Quell, her lockt er aufs neu die Gespenster;
Und, in der Dämmerung Schein, jetzt konnte der Mensch, mit Entsetzen,
100 Sehn, mit dem Totengesicht, die verwelkten, umflorten Gestalten,
Wie sie erschienen, verschwanden, die dürren Gebeine bewegten,
Oder, wie Leichen erstarrt, hohläugig die Wellen belauschten.
Schauder, noch nimmer empfundener Art, drang da in die Seel‘ ihm,
Und furchtbarer erschien ihm seine Verbannung, als jemals.
Da zu Vulkan, dem erzürnten Gemahl, hin eilete Venus,
Bat ihn, Feuer hinab auf die nächtliche Erde zu senden,
Dass, lichtscheu, von dem Menschen hinweg die Gespenster entflöhen,
Dass ihn der Frost nicht quäle, der Fuß nicht strauchle beim Gehen.
Drob auf brauste Vulkan! Er verwarf’s, dem Hülfe zu bringen,
110 Welchen er hasste; doch Zeus ihm winkte den ernsten Befehl zu.
Drum auf fuhr er ergrimmt! Und er stürzte hinab auf die Erde,
Schlug mit dem Hammer, gewaltigen Schlags, in die Berge, die Täler!
Rings um die Erde herum, wild warf er in Täler und Berge
Hochauflodernde Flammen, des Zorns blindwütende Diener.
Hell aufleuchtet‘ alsbald – für die Erd‘ ein glänzendes Wunder –
Hoch von der Spitze des nahen Gebirgs ein gewaltiges Feuer.
Flugs in die finstersten Höhlen entflohn die verscheuchten Gespenster;
Aber der Mensch, gleich wieder gefasst nach leichtem Erschrecken,
Grüßte, mit freudigem Ruf, die Erscheinung des flammenden Berges.
120 Hell jetzt sah er den Boden, auf dem er, zerrissenen Herzens,
Hatt‘ in der finstersten Nacht, anklagend die Götter, gestanden.
Wie war innig das Herz ihm bewegt von Dank und von Freude,
Dass ihm die Wonne des Sehens, des Lichts jetzt wieder geworden!
Wie war alles ihm neu, was staunend die Augen erblickten!
Was es auch weit von den Zaubern der himmlischen Räume verschieden,
War, was hier ihn umgab, doch mächtig ergreifenden Anblicks.
Hoch auf waren getürmt Felsmassen gigantischer Größe,
Drohten, verworren gelagert, in roh großartiger Urform,
Tief durch Klüfte zerrissen, den nahen, verderblichen Einsturz,
130 Starrten einander entgegen mit riesigen Zacken und Kronen,
Zeugen des Gärungskampfs bei des Erdballs wilder Gestaltung.
Hell von dem Feuer beglänzt vorspringende Flächen und Ecken,
Prangten mit rötlichem Schein auf der uralt-düstern Bekleidung,
Ließen daneben die Kluft noch dunkler und tiefer erscheinen.
Solch Helldunkel, wie hier, solch wildes, erhabnes Gemälde
Hat nie wieder hernach ein menschliches Auge gesehen,
Denn nur ihm, der zuerst, ein Verstoß’ner, die Erde betreten,
War es beschieden, zu sehn solch Schauspiel, prächtig und schrecklich,
Wie es der Urform riesiger Bau nur konnte bereiten.
140 Staunenden Blicks jetzt schaut er hinauf an gigantischen Pfeilern,
Hoch und kühn sich erhebend, als wollten den Himmel sie tragen,
Schaut er hinab dann tief, in die nicht zu ermessenden Tiefen
Senkrecht fallender Klüft‘ und schräg ablaufender Täler,
Ruhend im Schatten des Bergs, kaum ahnend die Helle der Höhen.
Als er geschaut, und wieder geschaut, in die Näh‘ und die Ferne,
Wuchs das Verlangen in ihm, noch weiter zu schaun und zu forschen,
Kennenzulernen, so weit er’s vermochte, der Erde Gestaltung;
Dem in dem glänzenden Schein von dem weithin strahlenden Feuer
Hofft‘ er, gefahrlos jetzt weit wandern und forschen zu können.
150 Aber hinweg schon lenkend den Schritt von der wichtigen Stätte,
Die sein Klagen gehört, sein freudiges Rufen vernommen,
Die er mit Tränen geweiht, mit Gebeten zum Herrscher des Weltalls,
Zog er den eilenden Fuß gleich wieder zurück zu der Stelle,
Die so teuer ihm war durch Schmerz, durch Freude geworden.
Sinnenden Blicks hin schauet er lang‘ auf die heilige Stätte,
Und dass, kehrt er zurück, er sogleich sie wiedererkenne,
Wälzt‘ er darauf, raukantig und schwer, ein mächtiges Felsstück.
Jetzt hin trat er zum Quell, rotglänzend im Scheine des Feuers,
Schöpfte sich labenden Trank, nach hart angreifender Mühe;
160 Rasch dann ging er hinweg, zu beginnen die mutige Wand’rung.