Aus Heinrich Viehoffs Vorschule der Dichtkunst.
Unter den reimlosen anapästischen Versen, mit denen wir es hier zu tun haben, sind der Dimeter und der Tetrameter hervorzuheben. Die Dimeter werden auf mannigfache Weise zu Systemen oder Strophen verbunden, die man durch einen katalektischen Dimeter abzuschließen pflegt, zum Beispiel:
Hebt an den Gesang! Umtanzet ihn rings,
Und die Hymne beginnt, die gewaltige, die
Wie ein Bote des Glücks, wie ein Aar, der keck
Von den Idagebirg Ganymeden geraubt,
Die Gestirne vorbei sich siegstolz wiegt
Auf silbernen Schwingen des Wohlklangs.
Wie hier auf fünf vollständige Dimeter, so kann auch auf zwei, drei, vier, oder auch erst auf mehrere der abschließende katalektische Vers folgen; oder man unterbricht im Innern einer Strophe die Reihe der vollständigen Dimeter durch einen katalektischen, und schließt auch wieder durch einen solchen die Strophe ab, zum Beispiel:
Hyazinthens Haar wallt nieder vom Haupt,
Wallt über den glänzenden Nacken;
Breit wölbt sich die Brust, und der Sterblichen Maß
Überraget der Wuchs, und es kündet im Bau
Der Olympier Kraft sich und Anmut.
Dann lässt sich die Strophenform auch noch dadurch vermannigfaltigen, dass man zwischen die Dimeter stellenweise einen Monometer einreiht, wie in folgender Strophe aus Aeschylus‘ „Agamemnon“:
Laut schnoben sie Kampf in der grimmigen Brust,
Wie der Geier Geschlecht,
Die hoch an dem Fels, von unendlichem Schmerz
Um die Jungen erfüllt, durchrudern die Luft
Mit der Fittige Schlag, und umstreifen das Nest,
Die verlorene Brut
Der befiederten Kleinen bejammernd.
Welche von diesen Strophenformen man im einzelnen Falle zu wählen hat, bestimmt der darzustellende Gegenstand. Wenn man zur Entfaltung des Gedankens eines weitern Raumes bedarf, oder wenn man ihn auf mehreren Stufen zu einer bedeutenden Höhe ansteigen lassen will, so ist es ratsam, eine längere Reihe vollständiger Dimeter (gleichviel, ob mit, ob ohne zwischengereihte Monometer) aufeinander folgen zu lassen, weil der katalektische Dimeter den Abschluss des Gedankens bedingt. Zu welchem Gegenstande aber überhaupt sich die anapästischen Strophen eignen, wie der Leser schon aus der feurigen, stürmischen Bewegung der mitgeteilten herausgefühlt haben. Die Anapästen sind potenzierte Jamben; der frische Wanderschritt der letztern hat sich bei jenen in Sturmschritt verwandelt. Daher werden Anapästen da an ihrer Stelle sein, wo es gilt, den Entschluss oder die Aufforderung zu mutiger, kühner Tat, siegreiches Vordringen mitten durch Hindernis und Gefahr, oder überhaupt feurigen Aufschwung der Gefühle darzustellen, sei es Entzücken oder Pein, Jubel oder Jammer, Liebe oder Hass. Die Griechen wandten solche anapästischen Dimeter-Systeme gern in den Chorgesängen und leidenschaftlichen Stellen ihrer Tragödien an. So bewegt sich der Reigen der Erinnen in Aeschylus‘ „Eumeniden“ (Vers 300) in diesen Rhythmen, und Sophokles‘ „Philoktet“ (Vers 1430) nimmt in ihnen Abschied von Lemnos. Aber auch Aristophanes bedient sich ihrer, wo er mit den Tragikern im Schwunge der Sprache wetteifert, zum Beispiel in der Anrede des Wiedehopfs an die Nachtigall in den „Vögeln“ (Vers 218):
Auf, Gattin, verscheuch von den Augen den Schlaf,
Und ergeuß Melodien des geweihten Gesangs,
Der aus göttlichem Mund dir schmelzend ertönt,
Wenn du mein und dein unseliges Kind,
Den Itys, beklagst mit dem schallenden Laut
Blondfarbiger Brust. – Rein wandelt der Hall
Von des Ahornbuschs volllaubigem Zweig
Zu dem Throne des Zeus, wo Phöbus Apoll,
Goldlockenumwallt, dein Klagen vernimmt,
Antwortenden Klang aus der Leier entlockt
Und der Himmlischen Chor zum Reigen erregt.
Einstimmend erschallt von unsterblichem Mund
Zu der Saiten Getön
Der Olympier seliges Jauchzen.
Was den Bau dieser Verse betrifft, so sind, wenn strenge verfahren werden soll, folgende Regeln zu beobachten:
1) Die beiden Dipodien müssen durch eine Zäsur getrennt sein, die jedoch zu den schwächeren gehören darf.
2) Die Anapästen dürfen mit steigenden Spondeen, aber nicht mit entschiedenen Jamben, den Anfangsfuß ausgenommen, vertauscht werden.
3) Es dürfen nicht so viele Spondeen aufeinander folgen, dass dadurch das Gefühl der anapästischen Bewegung verdunkelt wird oder gar verloren geht. Im übrigen erhält der Vers durch eingemischte Spondeen größere Kraft und Würde.
4) Im katalektischen Verse darf man die beiden Kürzen des dritten Fußes nicht zu einer Länge zusammenziehen. Man behält hier aus demselben Grunde, wie beim Hexameter im fünften Fuße, die beiden Kürzen bei, um dem Verse einen leichteren und entschiedeneren Schlussfall zu geben.
5) Im katalektischen Vers ist die Zäsur nach der ersten Dipodie nicht erforderlich.
Bindet man sich an diese Gesetze, so hat der Bau solcher Verse im Deutschen große Schwierigkeiten. Unsere Sprache ist arm an rein anapästischen Wortformen. In den obigen Beispielen zeigt sich sogleich, dass viele als Anapästen gebrauchte Füße sich auch als Amphimacer messen lassen, zum Beispiel:
Wie ein Bote des Glücks, || wie ein Aar, der keck
Es kommt nun darauf an, den reinen Anapästen ein solches numerisches Übergewicht zu geben, dass sie die Füße von schwankender Messung, die sich unmöglich ganz vermeiden lassen, in ihre Bewegung mit fortreißen und ihnen ein entschiedenes anapästisches Gepräge aufdrücken. Dann ist es auch gar nicht leicht, die Zäsur am Ende jeder Dipodie zu beobachten, da die meisten deutschen Wörter weiblich schließen. Man könnte Zweifel hegen, ob die betreffende Regel eine wohlbegründete sei; denn eine Incision in der Mitte, eine vershalbierende Zweiteilung zum Zweck einer leichteren Übersicht des Versganzen, kann der Dimeter nicht verlangen, weil er dafür zu kurz ist. Allein es war nicht sowohl das Bedürfnis der Bipartition, wie es sich bei längeren Versen einstellt, als vielmehr der Trieb, die anapästische Bewegung dem Ohre stark einzuprägen, was zur Aufstellung der obigen Regel (1) führte. Verabsäumt man die Zäsur zwischen den beiden Dipodien, mit anderen Worten, überspannt man die Dipodiengrenzen durch einen Wortfuß, so verwandelt sich der anapästische Vers für das Ohr leicht in einen daktylischen mit einem Auftakt, was man vermeiden wollte. In dem zu einem Ruhepunkt abrollenden Schlussverse scheute man dies nicht, und entband sich daher auch von der Forderung der Zäsur nach der ersten Dipodie.
Wenn unser Idiom einem Metrum große Hindernisse in den Weg legt, so ist man zu der Frage berechtigt, ob man nicht die von einer fremden Sprache abgezogenen Gesetze für dasselbe dem Genius unserer Sprache gemäß zu modifizieren habe, oder vielleicht am besten tue, auf den Gebrauch des Versmaßes ganz zu verzichten. Eine große Erleichterung in der Behandlung des anapästischen Dimeters würde sich ergeben, wenn es sich als statthaft herausstellte, die in der ersten Regel geforderte Zäsur zu vernachlässigen, und zweitens neben den Spondeen auch Jamben als stellvertretende Füße zu gebrauchen. Was die Zäsur anlangt, so leidet es keinen Zweifel, dass mitunter ein Schlusswortfuß der ersten Dipodie mit einer kurzen Silbe in die zweite Dipodie übergreifen könne, ohne die anapästische Bewegung wesentlich zu beeinträchtigen, wie denn auch Platen sich Verse wie die folgenden erlaubt hat:
Auf, auf, o Genossen! Er wandelt heran
Lichschön wie Apoll …
Auch möchte nicht ratsam sein, gleich im ersten Verse eine solche Zäsur anzuwenden, sondern erst, nachdem dem Gehöre der anapästische Gang fest eingeprägt ist. In einzelnen Versen kann sogar die eben bezeichnete weibliche Zäsur den Vorzug vor der herrschenden männlichen verdienen, wenn nämlch dem eben darzustellenden Gegenstande der Charakter der weiblichen Zäsur mehr zusagt. Dass im ersten Fuß der Jambus, statt des Spondeus, als Stellvertreter des Anapäst zu dulden ist, wurde schon oben bemerkt; aber auch an anderen Stellen, besonders im ersten Fuß der zweiten Dipodie, wird man sich ihn bisweilen gestatten können. Eine häufigere Anwendung des Jambus raubt dem Vers zuviel von seiner Kraft und ist nur dann zu rechtfertigen, wenn anderwertiger Ersatz, und zwar durch Eintreten des Gleichkklangs, geboten wird.
Bei der angedeuteten laxeren Behandlung des Metrums sind die Schwierigkeiten, die es bietet, nicht so groß, dass man ihretwegen dem Gebrauche desselben entsagen müsste. Aber aus einem anderen Grunde ist eine häufigere Anwendung nicht zu empfehlen. In der Bewegung dieses Verses liegt etwas zu Anspruchsvolles und Herausforderndes; es lenkt die Aufmerksamkeit auf den rhythmischen Gang stärker hin, als dem Charakter der deutschen Dichtung gemäß ist. Wenn die deutsche Poesie den kunstvollen Rhythmustanz der griechischen nur selten nachahmt und dafür das melodische Element des Gleichklangs um so eifriger pflegt, so ist dies nicht etwa bloß darin, dass die Quantität der Silben eine sehr untergeordnete Rolle in unserer Sprache spielt, sondern in höherem Grade in der deutschen Empfindungsweise begründet, die uns auch nicht zu dem lebendigen Gebärdenspiel südlicher Nationen gelangen lässt. Am besten möchte das Versmaß möchte das Versmaß zu parodistischen Zwecken zu verwenden sein, so dass durch den Kontrast der hochstrebenden Form und des niedrigen Gehalts eine komische Wirkung entsteht, wie wenn Platen in der „verhängnisvollen Gabel“ den Damon sagen lässt:
Hier wär‘ ich indes vom Galgen befreit,
Doch hungrig und ärmer als Hiob.
Nichts konnt ich mit mir fortnehmen, und nicht
Die Exzerpten einmal, die in Deutschland kein
Buchhändler verschmäht
Und verabsäumt hätte, das weiß ich
…
Der anapästische Tetrameter, auch Aristophanischer Tetrameter genannt, ist aus einem vollständigen und einem katalektischen Dimeter zusammengesetzt. Seines größeren Umfangs wegen verlangt er strenge die Bipartition, eine Incision nach der zweiten Dipodie, die jedoch nur mit einer syntaktischen, nicht mit einer rhythmischen Pause (wie die des Pentameters, Alexandriners, Nibelungenverses) verbunden ist. Von dem Bau der ersten Vershälfte gilt, was oben von dem des vollständigen Dimeters gesagt worden ist, und die zweite Vershälfte wird ganz wie der katalektische Dimeter gebildet. Man verbindet die Tetrameter nicht zu Strophen oder Systemen, sondern zu einer fortlaufenden Reihe. Bei dem kräftigen und würdevollen Gange des Verses sollte man erwarten, ihn bei den alten Tragikern angewandt zu finden. Stattdessen begegnen wir ihm bei Aristophanes, nach dessen Beispiel Platen und Pruz sich seiner in ihren satirischen Komödien bedient haben. Besonders geeignet erscheint er zu behaglich ausgeschmückten Gemälden der komischen Poesie wie jenem in Platens „verhängnisvoller Gabel“:
Auf jenem Gebirg, wo die Hoffnung wohnt, ist’s ganz wie im Land der Schlaraffen,
Und der Boden wie Samt, und der Himmel wie Glas, und die Wolken wie Flocken von Purpur.
Und die Sonne, wie lacht sie in Klarheit stets! Doch breitet sich schattige Wölbung
Von Gebüsch zu Gebüsch, und von Baum zu Baum, und es neigt sich Rose zu Rose.
Stets knospet’s im Laub, und es wimmeln darin Papageien und bunte Fasanen,
Stolz wandelt der Pfau durch silbernen Sand, und er schlägt goldäugige Räder,
Und es taucht sich der Schwan, und der Kolobri schläft in dem flammigen Kelche der Tulpen
…
Man hat versucht, dieses Metrum mit dem Gleichklang auszustatten, so zum Beispiel Platen am Schluss der „verhängnisvollen Gabel“:
Sein Abschiedwort tut euch durch mich der Komödienschreiber zu wissen,
Der oftmals schon, im Laufe des Stücks, vortrat aus seinen Kulissen
…
und R. Gottschall in der dritten Abteilung seines „Carlo Zeno“ in der Darstellung einer südlich glühenden Liebe:
Wie duftet da rings ein gefangener Lenz aus Vasen, von Nischen, Konsolen
So würzigen Hauch! Der Abend blickt durch schwere Gardinen verstohlen
…
Wir müssen aber gegen Gottschall (in seiner Poetik) die Behauptung aufrecht halten, dass im Allgemeinen bewegtere und künstlichere Rhythmen, und so auch die anapästischen Tetrameter, gegen den Gleichklang sich sträuben. In der höheren Komödie, die parodisierend den Ernst der Tragödie nachahmt, mag man den Reim beim Tetrameter gelten lassen. Da hier schon ein komisch wirkender Streit zwischen Form und Inhalt besteht, mag immerhin in der Form selbst noch ein Streit zweier heterogener Elemente hinzukommen.