Erzählformen: Die Stanze (7)

Wilhelm Heinses in (6) vorgestellte Stanzen gefielen Christoph Martin Wieland ganz und gar nicht. Johann Wolfgang Goethe dagegen war, wie viele andere auch, begeistert! Er hatte Heinses Stanzen in der 1774 erschienenen Druckfassung des „Laidion“ kennengelernt, für die Heinse noch einige Stanzen angehängt, die eigentliche Stelle des Anstoßes, die Vergewaltigung, aber nicht etwa umgeschrieben, sondern „geschwärzt“ hatte –  es waren statt der ensprechenden Verse nur Reihen von Gedankenstrichen zu lesen. „Hintenan sind Ottave angedruckt, die alles übertreffen, was je mit Schmelzfarben gemalt worden“, urteilte Goethe noch im Erscheinungsjahr  in einem Brief an Schönborn, und der von Heinse geprägten Form der Stanze ist er dann einige Male sehr, sehr eindrucksvoll gefolgt.

 

Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,
Dass ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;
Ich freute mich bei einem jeden Schritte
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.

 

Die erste Strophe der „Zueignung“ – und ein ziemlich beeindruckendes Beispiel dafür, was die deutsche Stanze leisten kann!

Erzählformen: Siebenzeiler (9)

Ernst Schulze verwendet in „Reiseerinnerung“ eine siebenzeilige Strophe, in der auf einen handelsüblichen, vierzeiligen Aufgesang aus trochäischen Vierhebern ein dreizeiliger Abgesang folgt, der nicht nur die Verslänge wechselt,sondern auch das Metrum: diese Verse sind anapästisch gebaut! Das macht einen Gegensatz, der aufhorchen lässt – die letzte der sechs Strophen:

 

Also hört‘ ichs rauschend tönen
Aus der Wogen raschem Streit,
Und ich ging mit stillerm Sehnen
Durch die Waldeseinsamkeit.
Was frommen die Klagen!
Du musst es ertragen!
Einst rinnen zusammen die Lust und das Leid.

 

Wobei der Reim aus V7 den Reim aus V2 und V4 wieder aufnimmt und so die beiden Strophenteile zumindest ein Stück weit wieder zusammenführt. Interessant!

Erzählformen: Die Stanze (6)

Worum geht es in den in (5) erwähnten „Laidion-Stanzen“ von Wilhelm Heinse? Nun: Zu Zeiten Alexander des Großen erzählt Kleon, der seit Tagen nicht schlafen kann, wie er Almina dabei beobachtet hat, sich zu entkleiden und ein Bad zu nehmen.

 

Jetzt hüpft ihr Fuß empor, von frischer Kühle
Süß angeschreckt – schon steht sie in der Flut
Und überlässt dem reizenden Gewühle
Der Wellen sich; jetzt taucht sie ganz die Glut
Von sich hinein; wollüstige Gefühle
Durchschauern sie – es zittern Geist und Blut
Wie Wonn‘ in ihr; still lächelt das Entzücken
Um ihren Mund, und taumelt auf den Blicken.

 

Das lässt Kleon ganz und gar nicht kalt; in Bewegung kommen die Dinge aber erst, als eine Wolke herabschwebt und von ihr aus „Kinder“ anfangen, Alminas Kleider einzusammeln und Kleon zu entkleiden.

 

Schon wurde mir der Mantel weggetragen –
Im Augenblick war ich der Knaben Spiel.
Ei! Ei! schien der, mit Spott im Blick, zu sagen,
Dem noch zuletzt zum Los das Hemde fiel,
So stark, und jung, und schön – und nichts zu wagen?
Zu diesem Pfeil ist dort das schönste Ziel! –
O Zauberin Almina! – hingesprungen
Hing ich an dir mit festem Arm umschlungen.

 

Almina flieht, Kleon verfolgt sie, „Um nun den Sturm der Lieb‘ aus mir zu wüten“ (Was für ein Vers), erreicht und überwindet sie.

 



Sie kämpfte noch, und meine Seelen irrten,
Von diesem Kampf zum höchsten Sturm geschreckt,
Voll Wut herum, dass alle Nerven girrten,
Verwundet schon mit süßem Blut befleckt –
Und endlich brach, nach hundert Donnerschlägen,
Im Sturm hervor entzückend süßer Regen.

Gleich Blitzen flammen um die Lippen Küsse –
Auf jede Stille folgt ein Donnerschlag –
Es spritzt das Blut der tollen Liebesbisse –
Die Trunkenheit der Wonne raubt den Tag
Den Augen, macht, dass Hände, Leib und Füße –
Ein jedes voll verzückter Seelen lag,
Vom Nektar der Empfindungen durchflossen,
Die Amor in die Flammen ausgegossen.

 

Uh. Das ist, so eindruckvoll es auch gestaltet ist, die Schilderung einer Vergewaltigung?! Als alles vorbei ist, reagiert Almina so:

 

Almina sah mit schwachen, feuchten Blicken
Voll Gnade, Zorn, und Lieb‘ und Ernst mich an,
Und wand sich los – geschwind war Leib und Rücken
Und Brust und Hals in sein Gewand getan –
Ich musste dich die Blüte lassen pflücken,
Und ich verzeih’s, weil ich’s nicht ändern kann;
Doch schweigst du nicht von dem, was hier geschehen,
Dann wehe dir! Dann sollst du Rache sehen.

 

Uh zum Zweiten. Nachdem er zu Ende erzählt hat, findet Kleon doch noch Schlaf, und die letzten Stanzen schlidern den Inhalt seiner Träume.

Die hier vorgestellten Verse finden sich in dem schon erwähnten Brief Heinses an Wieland; wie Heinse glauben konnte, 1773 mit einer solchen Darstellung durchzukommen, ist mir ein ziemliches Rätsel …

Von der großen Wirkung, die diese Stanzen trotzdem hatten, wird der nächste Eintrag berichten!

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (11)

Wilhelm Müller einmal mehr, und einmal mehr eine, wenn man ehrlich ist, Vers und Form gewordene Leere – „Entknopsung“:

 

Was flüstert ihr, Zephyre,
Mit diesen Rosenknospen?
Ihr flüstert, und sie reißen
Entzwei die grünen Schleier,
Und schauen euch entgegen
Mit rosenroten Wangen. —
Ob ihr von Liebe flüstert? —
Ich flüstre, singe, spiele
Von Liebe meiner Schönen
Schon viele, viele Tage;
Sie aber will die Hülle
Der harten spröden Knospe,
Die ihres Herzens Rose
Vor meinem Blick umschließet,
Noch immer nicht zerreißen.

 

Und trotzdem ist das ein Gedicht, das sich entwickelt und lebt, und dessen Vers genau der Vers ist, den diese Entwicklung benötigt …

Ohne Titel

In einer lauen Frühlingsnacht
Hat sich der Mond davongemacht.
Er möchte nicht mehr scheinen
Und lächelt, kommt man ihm mit Pflicht:
Er ist mit sich im Reinen.

Erzählformen: Die Stanze (5)

Im Deutschen kam die Stanze mit Wilhelm Heinse in Schwung, der 1774 im Anhang seines „Laidion“ eine kürzere Erzählung in Stanzen veröffentlichte. Ende 1773 hatte er einen Großteil dieser Stanzen an seinen Freund und Förderer Christoph Martin Wieland geschickt in einem Brief, der ganz wunderbar ist …

Nach dem eigentlichen Gedicht lässt sich Heinse über die Stanze an sich aus:

Der Bau der Stanze. Ich las in der Vorrede zu Ihrem Idris: „Die Schwierigkeiten würden unendlich gewesen sein, wenn ich mir in der Länge und Kürze der Zeilen nicht eine Freiheit erlaubt hätte, welche die Natur unserer Sprache zu erfordern schien.“ Ich antworte hierauf: Richtig ist es, dass die regelmäßige italienische Stanze wenigstens hundert Mal schwerer ist als die freie Stanze im Idris; ob diese aber die Natur unserer Sprache zu erfordern scheint – müsste wahrscheinlich durch die geringere Anzahl unserer weiblichen dreifachen Reime entscheiden werden, denn an Wörtern fehlt’s uns nicht hauptsächlich; nun wollt‘ ich aber behaupten, dass sich der weiblichen Reime selbst im Idris wenigstens eine Anzahl zu zehn Gesängen findet, ohne das dadurch die geringste Monotonie entstehen sollte.

Hm. So richtig klug ist es wohl nicht, dem Mann, der die eigene Dichtung drucken soll – in diesem Brief bietet sie Heinse Wieland für dessen Zeitschrift „Merkur“ an -, zu sagen, dass er selbst es sich zu leicht gemacht hat, noch dazu aus nicht stichhaltigen Gründen? Aber das ficht Heinse auch im Weiteren nicht an:

Ferner sagen Sie, dass diese Freiheit eine Quelle von musikalischen Schönheiten geworden ist. Ich geb‘ es zu, Ihrem tranzendalistischen Genius in Ihrem bezaubernden Idris; aber lassen Sie uns andere Erdensöhne uns eben dieser Freiheit bedienen, was wird da herauskommen? 

Damit wechselt er aber endlich zu seinen eigenen Versen:

Ich habe also in meiner Stanze lauter fünffüßige Jamben genommen; und damit sie meine Enkel singen mögen, wie die Gondolieri die Stanzen des Ariosto – lächeln Sie nur immer über meine närrische Grille! Sie kann mir doch mehr nützen als schaden – immer die Reime auf einerlei Art abwechseln lassen.

Das klingt nun endgültig so, als sei Heinse schlicht besoffen vom Glück einer vollendeten Dichtung … Aber er überbietet das noch locker:

Dabei werd‘ ich mir es zum Gestz machen, keine einzige Stelle, wissentlich. aus allen epischen Dichtern nachzuahmen, geschweige zu übersetzen; warum soilt‘ ich das noch einmal sagen, was schon vor mir vortefflich gesagt wurde? Warum sollt‘ ich von hundert Stanzen des Ariosto eine für mich abzunagen mir die beschwerliche Mühe machen, da och leichter zehn andere während der Zeit erseinnen kann, die vielleicht ebenso gut sind?

Selbstvertrauen ist … da. Und Ariost, hier und an noch mehr Stellen dieses Briefs; er ist ohne Frage für alle diese Dichter und Dichtungsdenker eine ganz wichtige Bezugsgröße!

Übrigens haben mich diese 40 Stanzen nicht zuviel Mühe gekostet, in zwo Nächten, ich beteur‘ es Ihnen beim Apoll und den Musen! hab‘ ich sie an meinem Klavier aus der Seele gesungen,  um …

Ich lasse es mal dabei – der Brief ist zwar noch um einiges wunderlicher, aber das hat nichts mehr mit der Form als solcher zu tun. Im nächsten Eintrag folgt dann der Blick auf die Stanzen selbst! Mit denen, das will Heinse im wesentlichen sagen, die „Hauptform der deutschen Stanze“ ihren beachtlichen ersten Auftritt hatte.

Erzählformen: Der Zweiheber (32)

Ernst Schulze hat eine Zeitlang ein Poetisches Tagebuch geführt; da kam es dann schon einmal vor, dass ein Gedicht nur ein Datum als Titel hatte!

 

Am 27. Oktober 1814

Ertönet, ihr Saiten,
In nächtlicher Ruh‘
Und führet von weiten
Die Träume mir zu!
Schon hör‘ ich sie schallen
Im schwellenden Klang;
Sie füllen die Hallen
Mit Liebesgesang
Und wiegen und tragen
Den sinkenden Mut
Durch stürmisches Zagen
Auf tönender Flut.

Die nimmer erklangen
Für Fürsten und Gold,
Jetzt sind sie gefangen
Um bitteren Sold
Und geben mit Freuden
Um kargen Gewinn
Und reichliche Leiden
Ihr Köstlichstes hin.
Doch trifft auch die Lieder
Manch finsterer Blick,
Stets kehren sie wieder
Zur Herrin zurück.

O könnt‘ ich’s ersingen,
Das goldene Ziel!
O könnt‘ ich’s erringen
Im Schlachtengewühl!
Vergebens begegnen
Sich Leier und Schwert;
Sie hält den Verwegnen,
Den Milden nicht wert.
Und gäb‘ ich für Liebe
Das Leben auch gern,
Stets bleibt er mir trübe,
Der freundliche Stern.

 

Un noch zwei solcher zwölfzeiligen Strophen (die aber auch als drei vierzeilige stehen könnten) mehr. Auf eine Art wirkliche Tagebuchlyrik, auf der formalen Seite aber mit Schwung in der Bewegung und sinnvoll gestalteter Klangwirkung, also schon ein Beispiel, was man mit Zweihebern anstellen kann!

Bücher zum Vers (116)

Walther Killy: Schreibweisen – Leseweisen

Die in diesem Band vorgelegten Untersuchungen gelten der Kunst des Lesens, die sich an verschiedenen Schreibweisen bewähren muss. – So beginnt der Text auf der Rückseite dieses 1982 bei Beck erschienenen Buchs, dessen Kapitel sich keineswegs immer mit Gedichten beschäftigen; aber selbst diejenigen, die es nicht tun, sind immer auch auf die Dichtung beziehbar, so dass eigentlich alles mit Gewinn gelesen werden kann. Über viele der eher grundsätzlichen Aussagen lohnt auch ein weiteres Nachdenken: Die zur Schrift gewordene Vergangenheit ist nicht mehr, wie in den hinter uns liegenden Jahrhunderten, ein Versprechen für die Zukunft, heißt es auf Seite 19 etwa; was aber dann, heute, weitere 36 Jahre später?!