Erzählformen: Die alkäische Strophe (23)

In seiner sehr empfehlenswerten „Einführung in den neueren deutschen Vers“ (Metzler 1989) schreibt Alfred Behrmann auf Seite 79:

Wer die Sorgfalt für die einzelne Silbe, die das Dichten in strengen gräko-lateinischen Versen erzwingt, als subaltern empfindet, mag auf Bürger hören, der erklärte: „Ich verkündige allen denen, die es noch nicht wissen, ein großes und wahres Wort: Ohne die Silbenstecherei darf kein ästhetisches Werk auf Leben und Unsterblichkeit hoffen.“

Nun ist Bürgers Aussage eine sehr einseitige, damit angreifbare und auch oft angegriffene; aber das Beispiel, das Behrmann dann für die alkäische Ode angibt – Friedrich Hölderlins zweistrophige Ode „An unsre großen Dichter“ -, lässt doch sehr stark vermuten: Es ist etwas dran …

 

Des Ganges Ufer hörten des Freudengotts
Triumph, als allerobernd vom Indus her
Der junge Bacchus kam, mit heilgem
Weine vom Schlafe die Völker weckend.

O weckt, ihr Dichter! weckt sie vom Schlummer auch,
Die jetzt noch schlafen, gebt die Gesetze, gebt
Uns Leben, siegt, Heroën! ihr nur
Habt der Eroberung Recht, wie Bacchus.

 

Um eine Strophe so selbstverständlich, so überzeugend füllen zu können, muss man schon einiges an Arbeit aufwenden; und Erfahrung schadet ganz bestimmt auch nicht. Und selbst einer der großen Dichter sein, wahrscheinlich; Hölderlin eben.

Erzählverse: Der Hexameter (165)

Metrische Lehrbücher des 19. Jahrhunderts zeichnen sich auch aus durch, na, ich sage einmal: Meinungsfreudigkeit. Oft sind sie viel stärker vorschreibend als beschreibend, und was der Vorschrift dann nicht entspricht, hat halt Pech gehabt …

Ein Beispiel ist da Friedrich Schmitthenners „Ausführliche teutsche Sprachlehre“ aus dem Jahre 1828. Darin findet man Sätze wie diesen:

Die Geschichte des Hexameters unter den Teutschen ist zugleich eine der Verirrungen des Geschmackes; die hässlichsten Verse sind unter seinem Namen gebildet worden.

Dieses Urteil veranschaulichen sollen auch Verse von Wieland. „Die Güte des Herren“ schließt der einen Vers, um dann fortzufahren:

 

Ist die Mutter der Freude, des ruhigen Lächelns der Unschuld
Und der erhab’nen Entzückung, die bis zum Throne hinaufflammt.

 

Was hier Schmitthenners Zorn herbeiruft, wird nicht gesagt; ich denke, es sind vor allem die beiden zweisilbigen Versfüße „Ist die“ und „bis zum“ – schließlich schreibt Schmitthenner:

An den daktylischen Sechsfüßler ergehen die unnachlässlichen Forderungen:

1. Dass der Daktylus nirgends durch einen Trochäus vertreten werde, weil er verständigerweise nur den Spondeus, als einen Fuß von gleicher Dauer, zum Stellvertreter haben kann.

Das kann man so sehen – schade nur, dass man damit allen Hexametern Klopstocks, Goethes, Schillers und Hölderlins jeglichen Wert abspricht … Erfordert etwas Mut, sicherlich?! Vorsichtige Naturen beschränkten sich wahrscheinlich darauf, im zweisilbigen Fuß eine ausreichend starke Hebungssilbe anzumahnen; „Ist“ und „bis“ leisten das kaum, aber auch das ist nichts, was ein achtsamer Vortrag nicht ausgleichen könnte …

Die zweite dieser „unnachlässlichen Forderungen“ aber beindruckt zum einen durch ihre Gewissheit, die durch die Kargheit des Ausdrucks wunderbar deutlich wird; zum anderen dadurch, dass sie tatsächlich wahr ist:

2. Dass die Mittelruhe stattfinde.

Meint: Ein Hexameter ohne Zäsur ist keiner. Und das stimmt, ohne jedes Wenn und Aber.

Das versbewegte Ohr

In Wilhelm August Schlegels „Urteile, Gedanken und Einfälle über Literatur und Kunst“ aus dem Jahre 1798 findet sich ganz unterschiedliches; alles aber lesbar und oft eher anekdotisch und mit Sinn für die kleine Spitze nebenher als übermäßig tiefgründig. So schreibt Schlegel in Bezug auf die Kunsträubereien, die Napoleon 1796/1797 während seines italienischen Feldzugs betrieben hatte:

105. Gegen den Vorwurf, dass die eroberten italienischen Gemälde übel behandelt würden, hat sich der Säuberer derselben erboten, ein Bild von Carracci halb gereinigt und halb in seinem ursprünglichen Zustande aufzustellen. Ein artiger Einfall! So sieht man bei plötzlichen Lärm auf der Gasse manchmal ein halb rasiertes Gesicht zum Fenster herausgucken; und mit französischer Lebhaftigkeit und Ungeduld betrieben mag das Säuberungsgeschäft überhaupt viel von der Barbierkunst an sich haben.

Bei den kürzeren Einträgen, die schon ins Aphoristische gehen, regt sich aber auch der „Verssinn“, der gestaltete Sprache wittert und ein mögliches Epigramm ahnt!

50. Die Poesie ist Musik für das innere Ohr, und Malerei für das innere Auge: aber gedämpfte Musik, aber verschwebende Malerei.

Das Deutsche hat nicht viele anapästische Wörter, aber „Poesie“ und „Malerei“ gehören dazu; und „Musik“ ist auch ein „steigendes“ Wort! Kein Wunder also, dass die Suche in Richtung anapästischer Versmaße geht, und tatsächlich – unter Weglassung zweier (entbehrlicher) leichter Silben ergibt sich ein anapästischer Tetrameter!

Poesie / ist Musik / für das in– / nere Ohr, || Malerei / für das in– / nere Au– / ge.

◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡

Etwas eintönig vielleicht in der ausschließlichen Verwendung von Anapästen (ein hier und da eingestreuter „steigender Spondeus“ tut dem Vers ganz gut), aber metrisch überhaupt nicht zu beanstanden!

Go: Die alten Meister (70)

Die alten Meister sagen:
Wer kein Atari gibt,
Kann keine Steine schlagen.

 

(Atari: Ein Zug, nach dem gegnerische Steine nur noch einen Zug davon entfernt sind, geschlagen zu werden.)

Der Rheinfall im Vergleich

Wieder ein Gedicht zum „Rheinfall von Schaffhausen“ – er fand schon Erwähnung in Der Hexameter (53), Das Sonett (13), Ganz frei , Das Distichon (73) und Die Wogenpferde (und nicht zu vergessen Das Distichon (41) zum Zackenfall).

– Ich weiß, die Überschrift klingt leicht missverständlich … Es geht um die Beschreibung des Rheinfalls am Anfang von Friedrich Gottlieb Klopstocks Ode „Aganippe und Phiala“, bei der es aber gar nicht wirklich um den Rheinfall geht, sondern er als Vergleichsgegenstand herhalten muss, hier: des Gesangs! Womit Klopstock dann auch schon seinen eigenen meinte … Die ersten fünf Strophen:

 

Wie der Rhein im höheren Tal fern herkommt,
Rauschend, als käm Wald und Felsen mit ihm,
Hochwogig erhebt sich sein Strom,
Wie das Weltmeer die Gestade

Mit gehobner Woge bestürmt! Als donnr‘ er,
Rauschet der Strom, schäumt, fliegt, stürzt sich herab
Ins Blumengefild‘, und im Fall
Wird er Silber, das emporstäubt.

So ertönt, so strömt der Gesang; Thuiskon,
Deines Geschlechts. Tief lags, Vater, und lang
In säumendem Schlaf, unerweckt
Von dem Aufschwung und dem Tonfall

Des Apollo, wenn, der Hellenen Dichter,
Phöbus Apoll Lorbeern, und dem Eurot
Gesänge des höheren Flugs
In dem Lautmaß der Natur sang,

Und den Hain sie lehrt‘, und den Strom. Weitrauschend
Halltest du’s ihm, Strom, nach, Lorbeer, und du
Gelinde mit lispelndem Wehn,
Wie der Nachhall des Eurotas.

 

Dazu ließe sich jetzt manches sagen, aber ich denke, für die heutige Zeit ist das doch deutlich zu verschwurbelt und inhaltlich ohnehin nicht mehr verständlich?! Aber immerhin, die zweite Strophe, die mit dem Rheinfall: die ist gut! (Auch wenn Klopstock, wie alle anderen, die den Rheinfall besungen haben, nicht ohne das „donnern“ auskommt.)

Wer metrische Tüftelarbeit liebt, kann ja einmal versuchen, der Strophe auf die Schliche zu kommen, die Klopstock hier verwendet hat; aber Vorsicht! Es ist eine seiner Eigenentwicklungen, und daher ziemlich ungewöhnlich. Aber darum geht es ja der ganzen Ode – um genau diese Art von „Gesang“ …

Erzählverse: Der Blankvers (110)

Der Blankvers kann eigentlich alles; auch „Überzeugungsrede“. In Heinrich von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“ sagt zum Beispiel Natalie zum Kurfürsten, der gegenüber einer Begnadigung Bedenken in Bezug auf das „große Ganze“ hat, hier in Gestalt des Vaterlands:

 

O Herr! Was sorgst du doch? Dies Vaterland!
Das wird, um dieser Regung deiner Gnade,
Nicht gleich, zerschellt in Trümmern, untergehn.
Vielmehr, was du, im Lager auferzogen,
Unordnung nennst, die Tat, den Spruch der Richter,
In diesem Fall, willkürlich zu zerreißen,
Erscheint mir als die schönste Ordnung erst:
Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen,
Jedoch die lieblichen Gefühle auch.
Das Vaterland, das du uns gründetest,
Steht, eine feste Burg, mein edler Ohm:
Das wird ganz andre Stürme noch ertragen,
Fürwahr, als diesen unberufnen Sieg;
Das wird sich ausbaun herrlich, in der Zukunft,
Erweitern, unter Enkels Hand, verschönern,
Mit Zinnen, üppig, feenhaft, zur Wonne
Der Freunde, und zum Schrecken aller Feinde:
Das braucht nicht dieser Bindung, kalt und öd,
Aus eines Freundes Blut, um Onkels Herbst,
Den friedlich prächtigen, zu überleben.

 

Der ganz eigene Kleist-Ton ist da; und die überzeugende Wirkung deutlich zu spüren. Was ich nie richtig verstanden habe, ist das „feenhaft“; aber es ist ja erst einmal ein „Mehr und immer mehr“, und da ist es vielleicht auch nicht ganz so wichtig …

Erzählformen: Das Distichon (96)

Weither kracht von dem Meer, hülfrufend, der Schlag des Geschützes,
Durch die empörte Natur schreitet Entsetzen und Tod.

 

Siegfried August Mahlmann hat dieses Distichon in seinem Gedicht „Die Sturmnacht“ – ein Gegenstand, der sich mit den rhythmischen Möglichkeiten des Distichons sicher gut verträgt!

Die metrische Form:

Weither / kracht von dem / Meer, || hülf- / rufend, der / Schlag des Ge- / schützes,
Durch die em- / pörte Na- / tur || schreitet Ent- / setzen und / Tod.

— — / — ◡ ◡ / — || — / — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡
— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

„-Her“ (schwere Senkungssilbe) und „Meer“ (Hebungssilbe) bilden einen unschönen, weil hörbaren Gleichklang?!

Das Königreich von Sede (107)

Schemel am Graben

Auf, weiter hinauf, alle Saiten empor
Schickst, Narr, du die Finger; erneut; da gewahrst
Du im Augenwinkel ein anderes Auf,
Schaust hoch – und es mahnt
Aus des springenden Froschs Was-War-Ich-Gesicht
Gutmütiger Spott dich der Vorzeit.