Das versbewegte Ohr

In Wilhelm August Schlegels „Urteile, Gedanken und Einfälle über Literatur und Kunst“ aus dem Jahre 1798 findet sich ganz unterschiedliches; alles aber lesbar und oft eher anekdotisch und mit Sinn für die kleine Spitze nebenher als übermäßig tiefgründig. So schreibt Schlegel in Bezug auf die Kunsträubereien, die Napoleon 1796/1797 während seines italienischen Feldzugs betrieben hatte:

105. Gegen den Vorwurf, dass die eroberten italienischen Gemälde übel behandelt würden, hat sich der Säuberer derselben erboten, ein Bild von Carracci halb gereinigt und halb in seinem ursprünglichen Zustande aufzustellen. Ein artiger Einfall! So sieht man bei plötzlichen Lärm auf der Gasse manchmal ein halb rasiertes Gesicht zum Fenster herausgucken; und mit französischer Lebhaftigkeit und Ungeduld betrieben mag das Säuberungsgeschäft überhaupt viel von der Barbierkunst an sich haben.

Bei den kürzeren Einträgen, die schon ins Aphoristische gehen, regt sich aber auch der „Verssinn“, der gestaltete Sprache wittert und ein mögliches Epigramm ahnt!

50. Die Poesie ist Musik für das innere Ohr, und Malerei für das innere Auge: aber gedämpfte Musik, aber verschwebende Malerei.

Das Deutsche hat nicht viele anapästische Wörter, aber „Poesie“ und „Malerei“ gehören dazu; und „Musik“ ist auch ein „steigendes“ Wort! Kein Wunder also, dass die Suche in Richtung anapästischer Versmaße geht, und tatsächlich – unter Weglassung zweier (entbehrlicher) leichter Silben ergibt sich ein anapästischer Tetrameter!

Poesie / ist Musik / für das in– / nere Ohr, || Malerei / für das in– / nere Au– / ge.

◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — || ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡ ◡ — / ◡

Etwas eintönig vielleicht in der ausschließlichen Verwendung von Anapästen (ein hier und da eingestreuter „steigender Spondeus“ tut dem Vers ganz gut), aber metrisch überhaupt nicht zu beanstanden!

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