Die Bewegungsschule (16)

Da der letzte „Bücher zum Vers“-Eintrag von Klopstocks Eislaufoden handelte, ist es vielleicht ein brauchbarer Gedanke, einmal eine dieser Oden vorzustellen?!

Ich nehme gleich die erste, „Der Eislauf“ aus dem Jahre 1764; deren metrischer Aufbau schließt nämlich an das an, was zuletzt hier in der Bewegungsschule verhandelt wurde:

ta TAM ta TAM ta TAM ta ta TAM
ta ta TAM ta TAM ta TAM ta ta TAM
TAM ta TAM / TAM ta ta TAM / TAM ta TAM
TAM ta ta TAM / TAM ta ta TAM

Die ersten beiden Verse bieten nichts besonderes – solche Bewegungslinien gibt es sehr häufig. Vers vier ist derselbe Vers, der schon kurz Gegenstand war hier in der Bewegungsschule: das doppelte TAMtataTAM.  Der dritte Vers bietet aber etwas wirklich neues: Wieder ein TAMtataTAM, aber diesmal eingerahmt von zwei TAMtaTAM!Eine strenge Spiegelbildlichkeit, bei der durch die zahlreichen schweren Silben, die aufeinander folgen (nicht nur im jeweiligen Vers, auch im Übergang von V2 auf V3 und V3 auf V4), sich die Bewegung deutlich staut; langsamer wird.

Wie sieht das nun im wirklichen Gedicht aus? Ich zeige dazu die siebte Strophe:

 

Sein Licht hat er in Düfte gehüllt,
Wie erhellt des Winters werdender Tag
Sanft den See! Glänzenden Reif, Sternen gleich,
Streute die Nacht über ihn aus!

 

Sein Licht hat er in Düfte gehüllt,
Wie erhellt des Winters werdender Tag
Sanft den See! / Glänzenden Reif, / Sternen gleich,
Streute die Nacht / über ihn aus!

Keine Frage: Die letzten beiden Verse bewegen sich auf eine besondere Weise. Wie aber hört sich das im wirklichen Vortrag an? Hier eine Lesung von Clemens von Ramin (und auch der Text der Ode):

Der Eislauf

Für  diese Strophe entspricht der Vortrag dem zugrundeliegenden Aufbau. Im Vergleich mit anderen Strophen zeigt sich aber, dass dies der großen Stärke der Silben geschuldet ist, die die „schweren“ Planstellen besetzen; da gibt es einfach keine andere Möglichkeit. Sind aber diese Stellen nur ein wenig schwächer besetzt, liest von Ramin die entsprechenden Silben „leicht“ – vierte Strophe:

 

Unsterblich ist mein Name dereinst!
Ich erfinde noch dem schlüpfenden Stahl
Seinen Tanz! Leichteres Schwungs fliegt er hin,
Kreiset umher, schöner zu sehn.

 

– Das „seinen“ wird nahezu ohne Betonung gelesen. Vielleicht kann man das so machen, auch im Rest der Ode; aber ich finde es doch schade, dass auf diese Weise einmal die Bewegung an sich nicht so gut herauskommt, zum anderen aber auch die deutliche Trennung zwischen erster und zweiter Strophenhälfte verwischt wird (von dem Unstand, dass ein stärker betontes „Sei-“ auch den Sinn etwas verschiebt, nicht zu reden). Ganz besonders heftig geschieht dies in der letzten Strophe:

 

Den ungehörten Wogen entströmt,
Dem geheimen Quell entrieselt der Tod!
Glittst du auch leicht, wie dieß Laub, ach dorthin;
Sänkest du doch, Jüngling, und stürbst!

 

Von Ramin ergänzt eine Silbe – aus „glittst“ wird „glittest“ – und liest ausschließlich die Satzteilung:

Glittest du auch leicht, wie dies Laub, ach dorthin;

– wodurch sich eine höchst unübliche Einheit ergibt, „TAM ta ta ta TAM„, „Glittest du auch leicht„! Der ganze Vers klingt dabei gar nicht schlecht:

TAM ta ta ta TAM / ta ta TAM / TAM ta TAM

Ich bezweifle allerdings, dass dies Klopstocks Absichten entspricht …

Aber am Ende muss sicherlich jeder Vortragende seine eigenen Vorstellungen umsetzen. Und solange bei der Ausbildung derselben das Nachdenken über die Bewegung – gerade für Klopstock-Texte sehr wichtig – nicht zu kurz kommt, steht am Ende ziemlich sicher ein Vortrag, der nicht immer gefallen wird, aber doch, meistens: nachvollziehbar ist.

Das Ein-Vers-Gedicht (7)

Ein handelsüblicher Endreim verknüpft zwei Verse mit einem Gleichklang. Was aber, wenn nur ein Vers vorhanden ist wie im Einvers-Gedicht?! Dann müssen sich wohl oder übel die Bereiche dieses einen Verses reimen – zum Beispiel der Anfang und das Ende:

 

Töpfe sind auch Kunstgeschöpfe.

 

– Sagt Wilhelm Busch in seinen „Sprüchen“. Das sind zwar eher Prosa-Texte, aber sei’s drum: Die Verbindung von Versanfang und -ende ist eine bedenkenswerte Gestaltungsmöglichkeit! Das kann auch durch anderes als den Reim geschehen:

 

Schinkenessen ist indirektes Schweineschlachten.

 

Wieder von Busch, wieder Prosa, diesmal aber aus einem seiner Briefe; vorne und hinten steht gestaltend und einen Rahmen setzend jeweils ein Dingwort der Form und Bewegung „X x X x“!

Anagramm-Geplauder (1)

„Distichen“. Kein Wort, von dem man auf den ersten Blick annehmen würde, es bietet viele spannende Anagramme; aber einige lassen sich doch finden!

„Identisch“ zum Beispiel – was aber inhaltlich nicht so wirklich passt, denn zwei Distichen sind ja aufgrund der verwendeten Verse, Hexameter und Pentameter, eben nicht „identisch“, sondern höchst verschieden voneinander; jedenfalls verschiedener als so gut wie alle anderen Formen.

Also vielleicht „Ich-Dienst“? Das gilt für alle anderen Gedichte mindestens genauso – auch nicht sehr überzeugend …

Allemal sinnvoll sind dagegen die möglichen „Aufforderungs-Anagramme“:

„Distichen? Dicht eins!“

„Dicht es in Distichen!“

Dem komme ich selbstredend nach. Aber welcher Gegenstand soll verhandelt werden? Die Versbewegung bietet sich an. Womit anfangen? Da hilft wieder ein Anagramm – ich wähle mir „Seid nicht“:

 

Den Freunden der Dichtung

Seid nicht nur Auge; seid Ohr, seid redende Zunge, damit ihr,
Wenn sich ein Vers bewegt, diese Bewegung auch spürt!

 

Wer nun selbst ein Distichon dieser Art versuchen möchte – Anagramm-Anfänge sind noch einige verfügbar. Wo „Seid nicht“ ist, ist auch „Nicht dies“, und andere mehr. Schlechter dagegen sieht es mit Ding-Wörten aus, da bietet die Anagramm-Liste nicht viel an. Eine der wenigen Möglichkeiten ist „Neid-Stich“, ein Gefühl und eine Erfahrung, die zumindest menschlich wären beim Betrachten der meisterhaften Distichen, die unsere Dichtergrößen erschaffen.

Der junge Tod

Ich habe meinen Tod gesehen,
Heut Nacht, im Schlaf;
Ganz klein sah ich ihn liegen,
In einer jener Wiegen,
Wie sie in allen Häusern stehen –
Doch diese war tiefschwarz.
Ich habe ihn erschreckt:
Nach einer Sense, die im Schatten stand,
Hat er die kleine Knochenhand
Verlangend ausgestreckt,
Und hat geweint, als er sie nicht erreichte,
In einem Ton, der meine Seele traf.

Bücher zum Vers (27)

Mark Emanuel Amtstätter: Beseelte Töne.
Die Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden.

Klopstock war bis ins hohe Alter begeisterter Schlittschuhläufer und hat diese Tätigkeit auch besungen; und schon selbst Verbindungen gezogen zwischen dem „Tanz auf dem Eis“ und dem „Tanz der Silben“. Amtstätter macht also eigentlich dasselbe wie Hellmuth in der schon vorgestellten „Metrischen Erfindung“, nur von einem etwas anderen Standpunkt aus, das Schwergewicht liegt hier eben auf Klopstocks Eislaufoden, die bei Hellmuth gleichwertig mit anderem behandelt werden. Ein lesenswertes Buch, nicht nur, wenn man KLopstock auf die Schliche kommen will! Erschienen 2005 bei De Gruyter.

Das Königreich von Sede (43)

Vor Schemels Tür liegt heut ein Kieselstein.
Woher der stammt, vermag er nicht zu sagen.
Hat ihn zur Nacht ein Wandrer hergetragen,
Der schließlich, irritiert von Schmerz und Pein,

Den Schuh bei einer Kerze schwachem Schein
Durchsuchte und den Grund für seine Klagen
Dort fand? Und fortwarf, ohne sich der Fragen,
Die solches Handeln schafft, bewusst zu sein?

Vielleicht ist’s so geschehen.
Doch Schemel weiß es nicht – es zu erfahren,
Fehlt ihm das detektivische Gespür.

Er kann nur eines sehen:
Zum ersten Mal in fünfzig Lebensjahren
Liegt heut ein Kieselstein vor seiner Tür.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (20)

Wenn Wilhelm Müller nicht gerade an seinen bekannteren Versen gefeilt hat („Am Brunnen vor dem Tore / Da steht ein Lindenbaum“), flossen ihm schon einmal Gedichte wie dieses aus der Feder:

 

Das Versteck der Liebesgötter

Kleine Liebesgötter sitzen
Dir in jedem Lockenringe,
Und aus diesem Hinterhalte
Schießen sie nach mir mit Pfeilen.
Pfeile sind die goldnen Strahlen,
Die aus deinen Haaren leuchten,
Und sie legen sie zum Zielen
Auf die Bogen deiner Augen.

 

Es fällt leicht, diese Verse schlecht zu finden, und ich werde sicherlich niemandem widersprechen, der das tut. Ein anspruchsloses Maß, wie es der Vierheber nun einmal ist, genutzt, um mit schon zu Müllers Zeiten altmodischen Versatzstücken Platitüden unter die Leute zu bringen – ein unpersönliches, schematisches Wortgeklingel. Trotzdem möchte ich solche Texte schreiben können, angepasst ans 21. Jahrhundert, und glaube, dass die Schreibenden etwas verloren haben, wenn sie sich derlei nicht mehr gestatten; man sehe mir diese Wunderlichkeit nach, und auch, dass ich sogar noch einen zweiten derartigen Text anhänge, den Müller wie den ersten und weitere unter „Berenice. Ein erotischer Spaziergang“ versammelt hat:

 

Amors Schere

Amor schleicht mit einer Schere
Um dein Lockenhaupt verstohlen.
Nimm in acht dich vor dem Gotte,
Denn er will das Haar dir scheren,
Weil er sieht, dass alle Herzen
Nur in deinen Locken hängen.
Will er für ein andres Plätzchen
Auch einmal ein Herzchen haben,
Muss er es aus deinen Locken
Erst mit List und Mühe lösen.

 

Offengelegt das Wenige, auserklärt, kein Weg, der irgendwohin führt von hier aus; auch das ein Wert. Wie der Vierheber, der dazu aufs vorzüglichste passt.

Ohne Titel

nox nemini amica,
die nacht ist niemandes freund
nun ja:
der katzen, machmal;
und manchmal der mäuse.