Erzählverse: Der trochäische Vierheber (57)

Schöner alter Götterhimmel,
Der du einst herabgeblauet,
Lächelnd, auf das seel’ge Leben
Jener Jugendwelt der Menschheit –
Wie so frühlingswonnetrunken
Streckten selbst die starren Bäume
Ihre nackten schwarzen Äste
Sehnsuchtsvoll zu dir empor,
Als du heut‘ die ersten Wellen
Deiner süßen Frühlingslüfte
Aus dem endlos blauen Meere
ließest hin zur Erde schwellen!
Selbst die dürren toten Blätter
Zitterten, als ob sie lebten,
Da geküsst vom Frühlingshauche
Sich der Saft der Zweige regte.

 

Das steht, was nach der fortwährenden Erwähnung des Frühlings nicht mehr wundern kann, in einem Text namens „Römischer Frühling“, der, auch das wurdert dann nicht mehr, in Rom geschrieben wurde: 1846, Anfang Februar, von Adolf Sahr. Insgesamt keine irgendwie bemerkenswerten Verse; wäre da nicht dieser Reim, „Wellen – schwellen“, der unvermutet in den ungereimten, gereihten Vierhebern aufklingt und eine eigenartige Wirkung macht! (Achtlos gearbeitet hat Sahr hier allerdings sicher nicht – im übrigen Text finden sich noch einige Reime.)

Bücher zum Vers (97)

Peter Hess: Epigramm

1989 als 248. Band der „Sammlung Metzler“ bei Metzler erschienen, ist dieser Band trotz seines vergleichsweise geringen Umfangs eine schöne Einführung in eine heute, im Vergleich zu früheren Zeiten, eher weniger beachtete literarische Gattung.

Nach zwei kurzen Kapiteln zur Theorie des Epigramms und deren Geschichte widmet sich der restliche Text dem „Epigramm in der deutschen Literatur“, sowohl im allgemeinen wie auch anhand der Epigrammatiker Martin Opitz, georg Rudolph Weckherlin, Friedrich von Logau, Johannes Grob, Christian Wernicke, Daniel Czepko, Johannes Scheffler, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Franz Grillparzer, Eduard Mörike, Friedrich Hebbel und Bertolt Brecht.

Wenn euch einige dieser Männer eher Theoretiker des Epigramms waren als selbst schaffende Verfasser von Epigrammen, und wenn ich auch nicht recht einsehe, warum gerade Grillparzer so viel Raum gegönnt wird (der Wert seiner Epigramme zumindest erscheint mir gering): Die Auswahl ist gut und die Beschäftigung mit Gedanken und Werken der Genannten fördert und vertieft das eigene Verständnis der Gattung Epigramm ganz sicher!

Ein ganz kurzes Epigramm darf am Schluss nicht fehlen:

 

An die Leser

Leser, wie gefall ich dir?
Leser, wie gefällst du mir?

 

– Das stammt von Friedrich von Logau, einem wirklich wunderbaren Barock-Epigrammatiker!

Erzählformen: Das Madrigal (28)

Christian Morgenstern hat viele eigenartige Texte geschrieben. Einer davon ist „Verse beim Erwachen“:

 

An dieser Verse kleinen Gliedern hängt
noch Tau der Nacht.
Ich hab‘ sie aus dem stummen Born, darin
der Morgen seine Pferde tränkt,
heraufgebracht.
Sie frösteln noch, als eben erst erwacht.
Ihr Auge flackert noch, als ohne Sinn,
denn den der fremden, dunklen Macht,
die drunten in der Tiefe wohnt …

 

Da ist alles vorhanden, was ein Madrigal ausmacht: Die unterschiedliche Länge der Verse – hier sind es Zwei-, Vier- und Fünfheber – sowie das freie Reimschema, zu dem mit dem Schlussvers auch eine „Waise“ gehört, ein Vers ohne Reimpartner.

Das alles schafft einen Eindruch von Unbestimmtheit, der wunderbar zum verhandelten Inhalt passt!

Erzählformen: Das Distichon (47)

An Ludwig Tieck

Freund, sei stolz! Der Erhab’ne, der Genius spendet ein Lob dir!
Goethe bezeugt, du seist wirklich ein leidlicher Mensch.

 

Auf die eine oder andere Weise mussten und müssen sich die deutschen Dichter wohl an Goethe reiben?! Hier tut es August Wilhelm Schlegel, der eine Distichenserie geschrieben hat des Titels „Auf Veranlassung des Briefwechsels zwischen Goethe und Schiller“; und im hier vorgestellten Zweizeiler eine dort zu findende Stelle aufgreift, um eine spitze Bemerkung zu machen. Dafür ist ein Distichon ein sehr geeigneter Rahmen, und auch seine Gestaltung – die Gliederung, die Wahl der leichten und schweren Silben – ist Schlegel hier sehr gut gelungen!

Die innere Form

Metrisch geregelte Formen haben eine „innere Form“; dieser Begriff meint die Art, wie sich die Sprache innerhalb des vorgegebenen Musters aus betonten und unbetonten Silben (der „äußeren Form“) bewegt – wo liegen bevorzugt die Grenzen der Sinneinheiten, wo die der Sätze, wo liegt der Haupteinschnitt, der den Inhalt in (zum Beispiel)  Frage und Antwort, in Versprechen und Einlösung, Erwartung und Erfüllung gliedert? Einen solchen Einschnitt haben schon einzelne Verse, wenn sie länger sind – das bekannteste Beispiel ist der Hexameter; aber auch kurze Strophen weisen ihn auf.

Als Beispiel nehme ich die vom Verserzähler schon einmal vorgestellte Lindenschmidt-Strophe, die Adelbert von Chamisso in seinem „Frühlingslied“ unter weitreichender Verwendung von zweisilbig besetzten Senkungen gestaltet hat. Zwei Strophen aus der Mitte des Textes:

 

Ich liebe den Frühling, des Waldes Grün,
Der Vögel Gesang, der Bienen Bemüh’n,
Der Blumen Farben und Düfte,
Den Strahl der Sonne, des Himmels Blau,
Den Hauch der wärmeren Lüfte.

Sieh‘ dort am Tor, was die Schwalben tun,
Wie emsig sie fliegen, sie werden nicht ruh’n,
Bis fertig ihr Nestchen sie schauen;
Ich sang, wie die Vögel, mein munteres Lied,
Vergaß ein Nest mir zu bauen.

 

Die erste der beiden Strophen hat, da sie eine schlichte Aufzählung füllt, gar keine innere Einteilung – und das tun ihr nicht besonders gut! Der Inhalt wirkt ein wenig unförmig, er stürzt als Masse und ungebremst auf den Leser ein.

Die zweite der beiden Strophen ist dagegen gegliedert: Nach dem dritten Vers liegt ein tiefer Einschnitt, der die Inhalte der ersten drei Verse vom dem der letzten beiden trennt. Das formt die Strophe nachdrücklich und einprägsam und ist daher auch die Hauptgliederung der Lindenschmidt-Strophe – Chamisso nutzt sie in den allermeisten Strophen seines „Frühlingslieds“!

Ohne Titel

Dunkel, vom Dunkel verschlungen und neugeboren vom Dunkel,
Schwarzverschlungenem Pfad (folgt der Lebendige (Mut)).

Erzählformen: Das Distichon (46)

Unglückliche Liebe

Nicht an den Königen liegt’s – die Könige lieben die Freiheit:
Aber die Freiheit liebt leider die Könige nicht!

 

Ein Epigramm, das vorbildlich  das macht, was ein Epigramm auszeichnet: Einen sinnreichen Einfall überzeugend in Verse zu gießen – hier in ein einzelnes Distichon. Sein Verfasser Georg Herwegh war ein sehr politischer Dichter, der Inhalt kann da nicht überraschen …

Erzählformen: Das Distichon (45)

Die Rosen des Nords

Rosen-Entblätterer Nord, zum Ersatz auf die Wangen des Mädchens
Hauchst du nun frische – der West, traun, bringt schönere kaum!

 

Das ist inhaltlich nett, und vielleicht auch für ein Schmunzeln gut; sonst aber vollkommen belanglos. Die Art, wie Robert Hamerling sein Distichon formal gestaltet hat, ist dagegen bemerkenswert: Er verstößt gegen eine eiserne Grundregel des Pentameters, indem er eine der beiden Senkungsstellen der zweiten Vershälfte nicht mit zwei leichten Silben besetzt – und erfüllt gleichzeitig die strengen Anforderungen, die die „antikisierende“ Nachbildung von Hexa- und Pentameter an den Verfasser stellt, indem er im zweisilbigen Versfuß eine sehr schwere Silbe in die Senkung stellt, so dass eine bestmögliche Nachbildung des antiken „Spondeus“ entsteht!

Hauchst du nun / frische – der / West, || traun, bringt / schönere / kaum!
— ◡ ◡ / — ◡◡ / — || — — / — ◡ ◡ / —

Zufall ist das also nicht, wirklich erklärbar allerdings auch nicht …

Das „traun“ war schon zu Hamerlings Zeiten ziemlich aus der Mode, „fürwahr“! Heute muss man wohl statt beidem „In der Tat“ sagen oder ähnliches.