Die innere Form

Metrisch geregelte Formen haben eine „innere Form“; dieser Begriff meint die Art, wie sich die Sprache innerhalb des vorgegebenen Musters aus betonten und unbetonten Silben (der „äußeren Form“) bewegt – wo liegen bevorzugt die Grenzen der Sinneinheiten, wo die der Sätze, wo liegt der Haupteinschnitt, der den Inhalt in (zum Beispiel)  Frage und Antwort, in Versprechen und Einlösung, Erwartung und Erfüllung gliedert? Einen solchen Einschnitt haben schon einzelne Verse, wenn sie länger sind – das bekannteste Beispiel ist der Hexameter; aber auch kurze Strophen weisen ihn auf.

Als Beispiel nehme ich die vom Verserzähler schon einmal vorgestellte Lindenschmidt-Strophe, die Adelbert von Chamisso in seinem „Frühlingslied“ unter weitreichender Verwendung von zweisilbig besetzten Senkungen gestaltet hat. Zwei Strophen aus der Mitte des Textes:

 

Ich liebe den Frühling, des Waldes Grün,
Der Vögel Gesang, der Bienen Bemüh’n,
Der Blumen Farben und Düfte,
Den Strahl der Sonne, des Himmels Blau,
Den Hauch der wärmeren Lüfte.

Sieh‘ dort am Tor, was die Schwalben tun,
Wie emsig sie fliegen, sie werden nicht ruh’n,
Bis fertig ihr Nestchen sie schauen;
Ich sang, wie die Vögel, mein munteres Lied,
Vergaß ein Nest mir zu bauen.

 

Die erste der beiden Strophen hat, da sie eine schlichte Aufzählung füllt, gar keine innere Einteilung – und das tun ihr nicht besonders gut! Der Inhalt wirkt ein wenig unförmig, er stürzt als Masse und ungebremst auf den Leser ein.

Die zweite der beiden Strophen ist dagegen gegliedert: Nach dem dritten Vers liegt ein tiefer Einschnitt, der die Inhalte der ersten drei Verse vom dem der letzten beiden trennt. Das formt die Strophe nachdrücklich und einprägsam und ist daher auch die Hauptgliederung der Lindenschmidt-Strophe – Chamisso nutzt sie in den allermeisten Strophen seines „Frühlingslieds“!

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