Erzählverse: Der Blankvers (64)

Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das literarische Deutschland erbittert darum stritt, auf welche Weise die Epen Homers ins Deutsche übertragen werden sollten, stand Gottfried August Bürger zuerst auf Seiten derer, die eine Übersetzung in fünfhebige reimlose Iamben bevorzugten; Blankverse also! Der Hexameter, das Versmaß Homers, schien zu fremd, iambische Verse dagegen galten als das deutsche Gegenstück des Hexameters; als das dem Deutschen eigene epische Maß. Bürger, als Dichter von einiger Befähigung, machte sich sogleich daran, Proben einer solchen Verdeutschung anzufertigen. Der Beginn des dritten Gesangs der Ilias:

 

Als jeglich Heer, samt seinen Obersten,
Geordnet war, zog mit Gekreisch und Lärm,
Den Vögeln gleich, der Troer Schar einher.
So lärmet durch die Luft ein Kranichflug,
Von Schlackerwetter und Dezemberfrost
verscheucht, und lärmet übern Wogenstrom
Des dunklen Ozeans dahin und bringt
Herab von oben den Pygmäen Mord
Und Untergang durch schwere Fehd‘ im Land.
Doch die Achäer rückten schnell heran,
Mutschnaubend, und gefasst in ihrem Sinn,
Für einen Mann zu stehn. Wie wenn der Süd
Die Wipfel des Gebirgs in Nebel hüllt,
Verhasst dem Hirten, aber günstiger
Dem Dieb als Mitternacht; denn rings umher
Kann Steinwurfweite kaum das Aug erschaun;
So stieg, von ihrem Fußtritt aufgewühlt,
Der Staub in Wirbelwolken in die Luft;
Denn rasch durchwandelten sie das Gefild.

 

– Das liest sich gut?! Und auch über eine längere Strecke würde wahrscheinlich keine Langeweile, keine Gewöhnung aufkommen, denn Bürger sorgt innerhalb seiner Verse für viel Abwechslung in Bezug auf die Bewegungslinien; wobei sogar alle Verse „männlich“ enden und die dem Blankvers offenstehende Möglichkeit, auch „weibliche“ Versenden zu verwenden, gar nicht in Anspruch genommen wird!

Trotzdem ging damals der Hexameter als Gewinner aus dem Wettstreit hervor; vor allem die Übersetzung von Johann Heinrich Voss verdrängte bald alle anderen Versuche.

 

Aber nachdem sich geordnet ein jegliches Volk mit den Führern,
Zogen die Troer in Lärm und Geschrei einher, wie die Vögel;

 

Ohne die Frage „Welche Fassung ist besser?“ stellen oder gar beantworten zu wollen: Was für ein Unterschied! Und der rührt fast ausschließlich von den verwendeten Versmaßen her … Ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig die Entscheidung für dieses oder jenes Maß am Anfang der Text-Planung ist.

(„Schlackerwetter“, sagt duden.de, ist „Wetter mit viel Schlackerschnee“; „Schlackerschnee“ wiederum sei „nasser, im Tauen begriffener Schnee“. Soll mal einer sagen, epische Texte vergrößerten nicht den Wortschatz …)

Erzählverse: Der Hexameter (110)

Der Hexameter ist ein epischer, ein erzählender Vers. Worüber aber erzählt man mit ihm im 21. Jahrhundert? Über Helden und Heldentaten der Jetztzeit?! Das wäre nicht einfach, wie schon vor über 200 Jahren Daniel Jenisch erfahren musste, der 1794 mit „Borusssias“ ein Hexameter-Epos über den siebenjährigen Krieg und den erst wenige Jahre zuvor verstorbenen Friedrich den Großen vorlegte; die unmittelbare Nähe zur Zeitgeschichte hielt man durchaus für bedenklich! Jenisch hatte also einige Schwierigkeiten zu überwinden; aber da seine dichterische Kraft für so ein Riesenprojekt ohnehin nicht reichte, war das ganze eine ziemliche Pleite. Im Epilog schreibt er:

 

Kleinlich und tandverwöhnt ist Herrmanns Volk! Und dennoch
Sangst du, mein Geist, nicht kleinlich den Kleinlichen? Wagtest, o Kühner!
Unermuntert und unbelohnt, ein einsamer Verlassner,
Ihn zu wandeln, den Weg der unsterblichen Alten? Du wagtest
Tugend zu singen und Weisheit? Du wagtest, die Blumen des Tandes
Zu verschmähen? Du hast’s gewagt; – Es richten die Musen!

 

Tja. Wer heute „den Weg der unsterblichen Alten wandelt“, sprich: Hexameter-Epen schreibt, könnte sich durchaus auch „unermuntert und unbelohnt“ finden – jedenfalls, solange er nicht bessere Verse abliefert als Jenisch. Und eine weniger hohe Meinung von sich zu haben, schadet sicher auch nichts! „Gerichtet“ haben jedenfalls nicht nur die Musen, sondern auch Friedrich Schiller in einem Distichon:

 

Borussias

Sieben Jahre nur währte der Krieg, von welchem du singest?
Sieben Jahrhunderte, Freund, währt mir dein Heldengedicht.

 

Was Schiller allerdings nicht daran gehindert hat, Teile des Epos zu veröffentlichen. Aber das sind die, in denen  Ewald von Kleist seinen Auftritt hat, ein wirklicher Dichter, der als Offizier im siebenjährigen Krieg starb – und so zu einer Rolle in Jenischs Epos kam …

Die Bewegungsschule (41)

Irgendwo im Hinterkopf gibt es Bereiche, in denen sich Gedanken lange heimlich herumtreiben, ehe sie irgendwann doch einmal an die Stirn klopfen. Bei mir tat das eben einer, der, wie es scheint, noch mit dem vorletzten Eintrag der Bewegungsschule zusammenhängt:

Wenn sich Sinneinheiten / Wortfüße der Form „ta TAM ta“ – Amphibrachen – leicht und unaufgefordert im Vers einfinden und wenn das auch mit der großen Menge der „TAM ta“-Wörter im Deutschen zu tun hat; heißt das dann nicht, dass eine kleine Anzahl von „TAM ta“-Wörtern ein Zeichen für eine bewusste Hexameter-Gestaltung ist, weil durch die Vermeidung von zu vielen Amphibrachen ein Grundmerkmal des Hexameters, die Abwechslung (hier: die der Wortfüße) überhaupt erst möglich wird?!

Eine Annahme, bei der es gleich an mehreren Stellen im Gebälk knirscht, aber man kann ja mal schauen … Goethes Versepen weisen, so heißt es allgemein, eine unterschiedliche Strenge in der Versbehandlung auf; „Reineke Fuchs“ pflegt einen sehr nachlässigen, weiträumigen Hexameter, „Hermann und Dorothea“ weist bewusster gebaute Hexameter auf, und die Achilleis ist, dem Gegenstand entsprechend, sehr klassisch-streng mit ihren Hexametern.

Ich habe schnell die jeweils ersten dreißig  Verse dieser (und aller folgenden) Werke angeschaut und die „TAM ta“-Wörter ausgezählt, unter Ausschluss von „TAM TAM“-Wörtern wie „Blitzstrahl“.

Goethe, Reineke Fuchs: 93 / 3,10
Goethe, Hermann und Dorothea: 85 / 2,83
Goethe, Achilleis: 61 / 2,03

Mit Verfasser, Werk: Zahl „TAM ta“ insgesamt / Zahl „TAM ta“ je Vers. Na, das entspricht doch schon ganz gut der Vermutung?! Einen Schritt weiter gedacht müssten dann die Verfasser, die ihre Hexameter sehr bewusst „gebaut“ haben, vergleichsweise wenig „TAM ta“-Wörter haben. Die üblichen Verdächtigen sind da Platen und Voss; und siehe da:

Goethe, Reineke Fuchs: 93 / 3,10
Goethe, Hermann und Dorothea: 85 / 2,83
Goethe, Achilleis: 61 / 2,03
Voss, Orientalische Idylle: 58 / 1,93
Voss, Luise: 54 / 1,80
Platen, Amalfi: 52 / 1,73
Platen, Die Fischer auf Capri: 45 / 1,50

Passt auch … Also frisch weiter vermutet: Hölderlins Hexameter sind sehr ausgeglichen, da ist ein Mittelwert zu erwarten; ebenso Mörikes. Goethes andere Hexameterwerke – Episteln, Lehrgedichte – sollten gleichfalls in der Mitte liegen.

Goethe, Reineke Fuchs: 93 / 3,10
Goethe, Hermann und Dorothea: 85 / 2,83
Goethe, Erste Epistel: 78 / 2,60
Goethe, Metamorphose der Tiere: 76 / 2,53
Mörike, Idylle vom Bodensee: 76 /2,53
Hölderlin, Archipelagus: 73 / 2,43
Hölderlin, An den Äther: 70 / 2,33
Goethe, Achilleis: 61 / 2,03
Mörike, Sichrer Mann: 58 / 1,93
Voss, Orientalische Idylle: 58 / 1,93
Voss, Luise: 54 / 1,80
Platen, Amalfi: 52 / 1,73
Platen, Die Fischer auf Capri: 45 / 1,50

Huch! Stimmt auch, nur bei Mörike lag die Vermutung daneben; jedenfalls beim „Märchen vom sichren Mann“! Was nichts heißen muss, da alle diese Werte auf wenig zuverlässige Art zustande gekommen sind – alleine die viel zu kleine Anzahl von 30 betrachteten Versen sollte bedenklich stimmen, mitternächtliche Schnellzählfehler gar nicht erwähnt … Trotzdem: Da ist mal wieder ein genauerer Blick auf den „Sichren Mann“ fällig; was angesichts der Güte seiner Hexameter aber ohnehin immer lohnt!

(Bleibt eine letzte Vermutung: die nach der „TAM ta“-Dichte der eigenen Hexameter. Näher bei Voss, wahrscheinlich?! Nun bin ich nicht so übermütig, mich in dieselbe Tabelle einzusortieren wie Goethe und Hölderlin; aber hier, in der Schluss-Klammer, sei es mir nachgesehen … Wasser entstürzt den Wolken: 55 / 1,83. Passt!)

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (10)

Allzu viele Versepen hat das 20. Jahrhundert nicht hervorgebracht; aber einige eben doch, und darunter durchaus beachtliche! Im Insel-Verlag ist zum Beispiel 1924 Albrecht Schaeffers „Parzival“ erschienen, eine über 600 Seiten starke Nach- und Neuerzählung des Parzival-Stoffes, geschrieben in fünfhebigen Trochäen! Ein kurzer Ausschnitt ganz vom Anfang, also aus Parzivals früher Jugend:

 

Doch entlief der Knabe nach dem Walde,
Voller Wissbegier, durch Stämme, angstvoll,
Stillehaltend, atmend in der Wärme,
In der Dämmrung unter Buchenkuppeln
Grünen Scheins, durchsprengt von goldnen Lichtern –
Und die Stille tönte da unsäglich,
– So als zwitscherten die goldnen Flecken –
Unablässig, nah und ferne, jubelnd,
Rufend, jauchzend, flötend, triumphierend:
Überzog ihm da sein ganzes Innres
Eine goldne Heiterkeit und flößt‘ ihm
Solch ein Prickeln in das Herz und Auge,
Dass er lachte, und so lernt‘ er dieses.

 

– So zu lesen auf Seite 18. Ich glaube, das ist eine Art des Erzählens, die der Verserzählung eigen ist?! Ich kann mir eine derartige Auflösung des Satzbaus ohne ein Auffangen durch den metrisch geregelten Vers jedenfalls nur schwer vorstellen!

Nächtens

Nächtliche Stille, in der, ich weiß es! Dinge geschehen –
Blind ist mein Auge, mein Ohr taub, die Gedanken: sind frei.

Bücher zum Vers (78)

Christian Wagenknecht: Metrica minora. Aufsätze, Vorträge, Glossen zur deutschen Poesie.

Ein Sammelband, erschienen 2006 bei Mentis. Auf über 280 Seiten sind Wagenknechts kürzere & verstreute Texte versammelt: „Abhandlungen vornehmlich zur Verstheorie“ (darunter zum Beispiel elf Seiten über Permutationsgedichte sowie sechs Seiten über Monosticha), „Studien zur Geschichte der deutschen Poesie (Mit elf Seiten zum Spiel der Metren im Helena-Akt des Faust), „Miszellaneen zur Theorie und Geschichte der Verskunst“ (mit zwei Seiten zu Goethes Blankvers).

Alle Inhalte, genannte wie ungenannte, sind in irgendeiner Form wissenswert und aufschlussreich, „Metrica minora“ daher ein durchaus empfehlenswertes Buch! Wer die Gelegenheit hat, sollte einen bis zwei Blicke hineinwerfen.

Erzählverse: Der Hexameter (109)

Jakob Michael Reinhold Lenz war gerade einmal 18 Jahre alt, als er 1769 seine 1500 Hexameter umfassenden „Landplagen“ schrieb; eine wüste Aneinanderreihung von Grausamkeiten und Schrecknissen, eine Szene immer noch schlimmer als die davor! Aus dem zweiten Buch, „Hungersnot“:

 

Und ich gucke durchs äußere Gitter. – Entsetzliches Schauspiel!
Würdig die Hölle zu zieren! Vom schröcklichsten Dunkel beschattet,
Schlachtet ein wütendes Weib ihr Kind. Umsonst fällt es nieder,
Dreimal nieder aufs Antlitz und flehet mit heißen Tränen
Mit erblasstem Gesicht und lautem Zittern und Schluchsen
Um sein jugendlich Leben; vergeblich schlingt es die Ärmchen
Um die stampfenden Füße der Mutter. Oft zwar empöret
Sich das Muttergefühl, es schwillt der abscheuliche Busen,
Der das unschuldige Opfer genährt, von erschütterndem Schmerze,
Und der ausgestreckete Arm weicht kraftlos zurücke;
Aber ihn lenket die Macht der Höll‘, er vollführt, er vollführet,
Er vollführet den schröcklichsten Streich. Sie schreit, sie mordet und knirschet,
Rauft ihr Haar mit der Linken, und tötet ihr Kind mit der Rechten.

 

Ja. Schröcklich fürwahr … Nun gibt es die Geschichte bei Lenz auch „andersrum“ – die Mutter versagt sich jedes Essen, um es ihren Kindern zu geben, und stirbt. Aber die Frage ist doch mehr: Wie erzählt man so was? So wie es Lenz getan hat, eher nicht; zumindest heute nicht mehr. Obwohl man dem Ganzen eine gewisse Wirkung nicht absprechen kann – die Probe darauf ist, wie immer, das laute Lesen! Bemerkenswert dabei die über das Versmaß verwirklichte stimmliche Steigerung  beim dreimaligen „vollführt“:

Aber ihn / lenket die / Macht der / Höll‚, || er voll- / führt, er voll- / führet,
Er voll- / führet den / schröcklichsten / Streich. || Sie / schreit, sie mordet und / knirschet,

Bei der ersten Widerholung kommt eine unbetonte Silbe hinzu, bei der zweiten Wiederholung rutscht dann noch zusätzlich das „Er“ auf die Hebungsstelle, wird also betont, was, scheint mir auch das „voll-“ noch anhebt und einen eindrücklichen Gipfel auftürmt, von dem aus das Geschehen sich dann schwungvoll herabwerfen kann?!

Insgesamt sind Lenz‘ Hexameter schlecht – es macht keine wirkliche Freude, die „Landplagen“ zu lesen. Aber so hier und da, wie immer, wenn ein wirkungsvolles Maß und ein zumindest ansatzweise begabter Dichter zusammenkommen: gibt es doch feine Verse.

Das Königreich von Sede (73)

Schemel singt den Fröschen kurze Lieder,
Schlichten Inhalts, auch; er lässt die Finger
Auf den Saiten seiner Laute wandeln,
Altbekannte Wege erst, und einsam,
Ehe sie des Narren Sang begleitet …
Und er singt den Fröschen dicke Fliegen,
Schwergewichtig kreisend, tiefen Brummens,
Fern dem Maul, der Zunge unerreichbar,
Noch; und singt den Hunger leerer Mägen,
Nichts darin, das vorhält, nur: die Hoffnung.