Alles Käse

Käse! Vorsichtig, sehr vorsichtig setzte die Maus einen Fuß auf die Falle. Vergebliche Mühe: ein lautes „Schnapp!“ nahm einige ihrer Zehen in Haft. Der herbeieilende Besitzer der Falle sah, was geschehen war, und stimmte einen Jubelgesang an:

Tritt ein Mäusebein
In die Falle rein,
Nennt man das ein Reinbein!

Die Maus zog und zerrte und spürte, wie sie freikam. Sie verbannte allen Schmerz aus ihrer Stimme und sang, derweil sie in Sicherheit huschte, stolz zurück:

Kommt jedoch die Maus
Aus der Falle raus,
Nennt man das die Rausmaus!

Der verblüffte Fallensteller aber kehrte mit einem unterdrückten Fluch und den Worten „Na gut, Unentschieden für diesmal“ zu seinem Fernsehsessel zurück.

Erzählverse: Der Blankvers (44)

Noch einmal Carl Spitteler, diesmal mit einem „literarischen Gleichnis“; so ist der Teil seiner gesammelten Werke benannt, in dem sich „Zwischen Ilias und Odyssee“ findet. Das ist ein, für heutige Ohren und Augen, einigermaßen eigenartiger Text:

 

„Hier dieser Ausdruck lügt. Ich will die Wahrheit.“
Die Muse sprach es, und Homer gehorchte.
Dann stand sie auf. „Ist’s möglich? Fertig?“ „Fertig“,
Bejahte sie, „und schön und groß und ewig.“
„Und ich bin frei?“ „Du sagst es: frei und ledig.“

Da sprang er jäh empor: „Unmenschliche,
Wohlan, vernimm mein Urteil: Jeder Gott
Ist gnädig, jedes Menschenherz spürt Mitleid,
Und seines Knechtes misst und schont
Selbst der Tyrann. Nur du fühlst kein Erbarmen:
Stündlich Gewissenssorgen Tag und Nacht
Und selbst im Traume keine Seelenrast.
Von neuen Bildern stets mein Auge voll
Und deine Hand erhoben zur Vernichtung.
Drum höre meinen Spruch: wir sind geschieden.“

Nach diesen Worten eilt er freiheitsdurstig
Hinunter in die Stadt, ein Stündchen Freundschaft
Zu gönnen sich zur Feier der Vollendung.

Doch wie er spät am Abend in sein Zimmer
Kehrte zurück, da schaut er trüb und traurig
Zwei lange Stunden auf das ewige, große,
Vollbrachte Werk. „Und innen auch verwaist,
Verwaist und öd und leer und einsam. Nirgends
Mühsal zum Trost und Pein und harte Arbeit.“

„Ich bins“, erwiderte die Muse flüsternd,
Und als er neuerdings den heiligen Schwur
Auf seinen Knien tat und seine Tränen
Benetzten ihre Hände: „Freund, du zagst?“
Fragte sie gnadenvoll. „Ich zage nicht.
Vergib, ich meins nicht, wie ichs weine. Komm,
Lass uns beginnen. Du bist mild und gut.“

 

So geht das heute nicht mehr – auch wenn mit Spitteler hier ein gestandener Nobelpreisträger Vorbild ist. Aber sein ganz eigener Ton ist schon ein Hinhören wert, seine Verse bewegen sich auf eine spröde und doch recht anziehende Weise?!

Herbstbekanntschaft

Ich will euch
Vom Sommer erzählen,
Sagte das Blatt,
Vom Wind, von der Wärme.
Wir kennen den Sommer,
Rief da das Gras,
Den Wind und die Wärme –
Vom Fallen erzähl uns! Erzähl uns
Vom Fallen.

Erzählverse: Der Hexameter (71)

Henry Wadsworth Longfellows „Evangeline“ (2)

Longfellows englischsprachiges Hexameterepos (das in Hexameter 13 schon einmal aufgetaucht ist beim Verserzähler) beschreibt seine Titelheldin unter anderem mit diesen Versen:

 

Fair was she to behold, the maiden of seventeen summers.
Black were her eyes as the berry that grows on the thorn by the wayside,
Black, yet how softly they gleamed beneath the brown shade of her tresses!
Sweet was her breath as the breath of kine that feed in the meadows.

 

Nun ist „Evangeline“ einige Male ins Deutsche übersetzt worden, und mit dem letzten Vers hatten die Übersetzer so ihre Schwierigkeiten. Nicht vom Versbau her, der ist übertragbar; mehr vom Inhalt her. „Süß wie der Atem des Viehs“? Wie jetzt … In Klaus Martens „Die ausgewanderte Evangeline. Longfellows epische Idylle im übersetzerischen Transfer“ (Schöningh 1989) findet sich eine Liste der verschiedenen Übersetzungen dieses Verses, wobei das in vielen Fällen eher freie Übertragungen sind.

 

Und der Hauch ihrer Lippen glich Blumendüften im Lenze

 

ist der Versuch von Friedemann (1919), der eigentlich jede inhaltliche Übereinstimmung mit dem Urtext vermeidet! Bis auf, vielleicht, de „Hauch ihrer Lippen“ – da ist dann doch ein Anklang. Und wirklich, irgendeine Verbindung gibt es immer, etwa bei Meyer (1898):

 

Sanft war ihr Herz, wie das Lamm auf der Weide geduldig und gütig.

 

Hier ist der Übersetzer mit „Weide“ Longfellow nah?! Sogar mit „Flur“ und „Herden“, aber immer noch gänzlich frei überträgt Knortz (1874):

 

Gleich den Herden der Flur war still und lieblich ihr Dasein.

 

Aber es gibt neben solchen sehr freien Übertragungen auch Versuche, den „Viehatem“ etwas überzeugender zu vermeiden.

 

Herrlich duftet ihr Odem, wie rinderernährende Matten.

 

Gasda (1863) hat alles: die Wiesen, das Vieh, das Fressen; nur den Atem des Viehs nicht, verglichen wird, etwas versteckt, wieder mit Kräutern und Blumen.

Schließlich sind da noch die Übersetzer, die es gewagt haben, den Mädchenatem und den Viehatem  zu vergleichen. Aber so ganz getraut hat sich auch Herlth (1870) nicht:

 

Und ihr Atem so süß wie der Hauch flurgrasender Kälblein.

 

Das wirkt im 21. Jahrhundert schon unfreiwillig komisch in seiner Niedlichkeit?!

Oder, wenn schon der Atemvergleich, dann nicht über das „süß“:

 

Und ihr Atem war sanft wie der Atem der weidenden Färsen

 

ist der Versuch von Hauser (1908). Und immer so weiter … Schon erstaunlich, jedenfalls von heute aus gesehen, wo gegen

 

Süß war ihr Atem, so süß wie der Atem der weidenden Kühe

 

wahrscheinlich niemand etwas einzuwenden hätte. Oder doch? Zu abwegig, der Vergleich? Zu weit an der eigentlichen, nicht-wörtlichen Bedeutung vorbei?! Jetzt müsste man des Englischen mächtig sein …

Na ja, sicherhaltshalber schließe ich mit einem Vers, der das Vorübergehen von Evangeline beschreibt, oder besser, den Moment danach:

 

When she had passed, it seemed like the ceasing of exquisite music.

 

Das ist einmal an sich ein starker Vers, und zum anderen denke ich, ohne die einzelnen Übersetzungen gesehen zu haben, dass sich die allermeisten Übersetzer hier wohl und zu Hause gefühlt haben!

Ohne Titel

Über der Wiese öffnet die Lerche den Schnabel; ein Blöken
Steigt auf; unten, im Gras, lächelt zufrieden das Schaf.

Erzählformen: Das Reimpaar (9)

In (8) war zu sehen und zu hören, wie auch der iambische Vierheber, als Bestandteil eines Reimpaares, durch kleine Abweichungen aufgelockert werden kann. Wie weit man dabei gehen kann, ohne dass der Vers seine Wiedererkennbarkeit verliert, ist eine spannende Frage! Ich stelle drei Auschnitte aus Gedichten Heinrich Heines vor, zuerst den Anfang von „Babylonische Sorgen“:

 

Mich ruft der Tod – Es wär’ noch besser,
Müsst’ ich auf hohem Seegewässer
Verlassen dich, mein Weib, mein Kind,
Wenn gleich der tolle Nordpol-Wind
Dort peitscht die Wellen, und aus den Tiefen
Die Ungetüme, die dort schliefen,
Haifisch’ und Krokodile, kommen
Mit offnem Rachen emporgeschwommen –
Glaub’ mir, mein Kind, mein Weib, Mathilde,
Nicht so gefährlich ist das wilde,
Erzürnte Meer und der trotzige Wald,
Als unser jetziger Aufenthalt!

 

Der etwas verwunderliche „Wald“ wird in den vohergehenden Versen verhandelt … Jedenfalls ist der Text zwar aufgelockert – versetzte Betonungen und eine schwebende Betonung am Versanfang, wiederholte zweisilbig besetzte Senkungen (aber nur einmal zwei davon im selben Vers) -, doch der Vers ist immer noch gut als iambischer Vierheber zu erkennen:

x X / x X / x X / x X / (x)

Der zweite Abschnitt stammt aus „Rückschau“ (= Lazarus III):

 

Ein Lorbeerkranz umschloss die Stirn,
Er duftete Träume mir ins Gehirn,
Träume von Rosen und ewigem Mai –
Es ward mir so selig zu Sinne dabei,
So dämmersüchtig, so sterbefaul –
Mir flogen gebratne Tauben ins Maul,
Und Englein kamen, und aus den Taschen
Sie zogen hervor Champagnerflaschen –
Das waren Visionen, Seifenblasen –
Sie platzten – Jetzt lieg ich auf feuchtem Rasen,
Die Glieder sind mir rheumatisch gelähmt,
Und meine Seele ist tief beschämt.

 

Hier hört sich die Sache anders an?! Der erste Vers ist zwar ein fester iambischer Vierheber, aber schon der zweite und der dritte weisen zwei doppelt besetzte Senkungen auf, und im vierten sind gleich alle drei Senkungen im Versinnern doppelt besetzt!

Es ward / mir so se– / lig zu Sin– / ne dabei,

x X / x x X / x x X / x x X

Und wenn auch die folgenden Verse diesen Wert nicht mehr erreichen, ohne doppelt besetzte Senkung kommt keiner aus. Das ist, denke ich, schon kein iambischer Vierheber mehr, sondern ein freierer Vers, den man so darstellen kann:

x X / x (x) X / x (x) X / x (x) X / (x)

(Mit X = betonte Silbe, x = unbetonte Silbe, (x) = unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht muss.)

– Und der iambische Vierheber ist dann eine Möglichkeit unter vielen, die dieser (schöne!) Vers zur Verfügung hat bezüglich seiner Bewegunglinie!

Ich habe ihn auch schon einmal kurz vorgestellt hier beim Verserzähler – in Der Knittel (5). Dort mit dem Hinweis, es sei ein „mäßig freier Vers“. Eben ein Vers in der Mitte, genau zwischem dem sehr strengen Auf und Ab des iambischen Vierhebers und der unüberschaubaren Bewegungsvielfalt des Knittels!

Der dritte Abschnitt ist die erste Hälfte von „Leib und Seele“:

 

Die arme Seele spricht zum Leibe:
Ich lass nicht ab von dir, ich bleibe
Bei dir – Ich will mit dir versinken
In Tod und Nacht, Vernichtung trinken!
Du warst ja stets mein zweites Ich,
Das liebevoll umschlungen mich,
Als wie ein Festkleid von Satin,
Gefüttert weich mit Hermelin –
Weh mir! jetzt soll ich gleichsam nackt,
Ganz ohne Körper, ganz abstrakt,
Hinlungern als ein sel’ges Nichts
Dort oben in dem Reich des Lichts,
In jenen kalten Himmelshallen,
Wo schweigend die Ewigkeiten wallen
Und mich angähnen – sie klappern dabei
Langweilig mit ihren Pantoffeln von Blei.
O das ist grauenhaft; o bleib’,
Bleib’ bei mir, du geliebter Leib!

 

Viele gleichmäßige Reimpaare zu Beginn, ehe dann mit „Wo schweigend …“ drei bewegtere Verse einsetzen, deren letzter dann wieder die drei doppelt besetzten Senkungen aufweist! Aber hier ist es eben Ausnahme, nicht Regel, und das „Blei“ gleichsam Programm: Im abschließenden Reimpaar kehrt die Bewegung übergangslos zum strengen, schweren Auf und Ab zurück. Ein recht heftiger Wechsel, der aber den Unterschied in der Bewegung gut hörbar macht?!

Erzählverse: Der Blankvers (43)

Das erste Drittel, in etwa, von Carl Spittelers „Schwalbenschwanz (I)“ liest sich so:

 

Ein kleiner Hof, von Mauern rings umschlossen. –
Über den Mauern rote Dächer. Jenseits
Ein grüner Hügel. Längs dem grünen Hügel
Ein Taubenflug, verschwindend in der Ferne.

Im offnen Holzschopf sitzt auf einer Schaukel,
Das Seil umklammernd und mit Stirn und Wange
An seine rechte Hand geschmiegt, ein Knabe.
Mit trägen Schwüngen steigt die Schaukel windschief
Vorwärts und rückwärts; oben, unterm Pfosten,
Beim Rückweg girrt die Angel, sanft und singend.

Über das Mauerdächlein, rechts, vom Pfarrhof,
Flog eine Iriskugel, grün und golden
Von funkelndem Smaragd, spiegelnd den Weltball
Und träumerisch ihn hold verschönend. Dann
Ihr folgend eine veilchenblaue, glitzernd
Von Silberseen und Fenstern; in den Fenstern
Die Pfarrerkinder, schauend durch den Purpur.
Und also fort. Und wenn ein Irisweltball
Zersprang, so hinterließ er Hauch und Reinheit.

 

– Mehr Beschreibung als Erzählung, schön langsam und verhalten?

Aus Versbausicht vielleicht recht bemerkenswert Spittelers „versetzte Betonungen“ … Die stehen, für gewöhnlich, am Anfang des Verses, so wie hier zum Beispiel in diesem Vers:

Über / das Mau– / erdäch– / lein, || rechts, / vom Pfarr– / hof,

X x / x X / x X / x || X / x X / x

Sie können aber auch im Versinneren stehen, und zwar, wenn der Vers eine kräftige Zäsur hat; dann ist der Neueinsatz nach der Zäsur sehr ähnlich dem Neueinsatz am Versbeginn! Spittler hat das in diesem Vers so gehandhabt:

Von funk– / elndem / Smaragd, || spiegelnd / den Welt– / ball

x X / x X / x X || X x / x  X / x

Eigentlich belastet eine solche versetzte Betonung den Vers mehr als eine am Versanfang, auch, weil der Vers dann kaum noch in die eigentliche Bewegung zurückfindet – „spiegelnd den Weltball“, „X x x / X x“, ist ja die Schlussformel eines Hexameters und hat am Ende eines Blankverses nicht so viel verloren! Aber als Ausnahme kann man sowas immer machen als Verfasser, und es ist eine der vielen Möglichkeiten, den Blankvers aufzulockern und damit das Ohr neugierig zu erhalten.

Bücher zum Vers (49)

Janos Riesz: Die Sestine

Sestinen sind recht umfangreiche Gedichte, sie haben 39 Verse; und im Aufbau sehr ungewöhnlich. Daher sind sie seit dem Mittelalter zwar immer wieder geschrieben worden, aber nie in übermäßig großer Zahl, und im Deutschen noch seltener als in anderen europäischen Sprachen und Literaturen.

Eine neuere Sestine von Oskar Pastior (der ein ganzes, durchaus lesenswertes Büchlein mit Seistinen gefüllt hat) gibt es auf lyrikline zu lesen und zu hören:

fortschreitender metabolismus in einer sestine

– Aber wie das so ist mit Pastiors Texten – sie sind gewöhnungsbedürftig. Ein besseres Beispiel ist also vielleicht diese Sestine von Elizabeth Bishop:

A miracle for breakfast

Wenn man aber nun wissen will, woher die Sestine kommt, wer sie in den letzten achthundert Jahren geschrieben hat, welche Form sie im Deutsche, Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen angenommen hat, welche Inhalte in ihr umgesetzt worden sind: Dann ist man im Buch von Riesz gut aufgehoben. Erschienen 1971 bei Fink verhandelt es auf über 300 Seiten all das und noch mehr.

Vor allem, wenn man selbst (deutsche) Sestinen versuchen möchte, lohnt ein Blick in diesen Band also auf jeden Fall!

Ohne Titel

Es gießt seit Stunden. Ilse hat Schutz gefunden unter einer kleinen Brücke, doch der Bach schwillt an, und ihre Füße werden nass.