Wer sich mit dem Hexameter beschäftigt, stellt bald fest, dass es Dutzende von Dingen gibt, die beachtet werden wollen; und wer versucht, allen diesen Dingen auf einmal gerecht zu werden, verzweifelt leicht an der Unmöglichkeit dieser Aufgabe. Dies hat dieser Eintrag im Auge, und darauf bezogen ist sein etwas rüder Titel!
„Scheiß was drauf!“, das heißt: So gut und richtig und wichtig alles ist, was, nicht zuletzt in diesem Lexikon!, über den Hexameter gesagt wird: Es muss nicht alles davon in jedem einzelnen Vers umgesetzt werden. In der Gesamtheit sollte ein Hexameter-Text diesen Bedingungen genügen, da er nur dann als Hexameter-Text erfahrbar wird und die Wirkung, die aus all den fein aufeinander abgestimmten rhythmischen und klanglichen Gestaltungsmöglichkeiten hervorgeht, sich entfalten kann; ein einzelner Vers dagegen kann gegen all diese Bedingungen bedenkenlos verstoßen. Warum auch nicht?! Der Hörerleser hat die Regel im Kopf, er nimmt den Verstoß wahr; und ordnet ihn ein in Bezug auf die Regel. So gesehen ist auch das nur eine weitere Möglichkeit, die Vielgestaltigkeit des Hexameters zu befördern! Gefährlich wird es erst, wenn derlei Verstöße so häufig werden, dass der Hörerleser darüber die Regel vergisst, sich nicht mehr bewusst ist, was einen Hexameter eigentlich ausmacht; dann hört der Text auf, ein Hexameter-Text zu sein und zerfällt zu etwas, das zwar als rhythmisch gestaltete Sprache erkennbar ist, aber nur noch wenig „hexametrische Wirkungkraft“ erzeugen kann. Insgesamt aber gilt:
Der einzelne Vers darf alles!
Und „alles“ meint hier wirklich: was immer er will. Ich gebe ein Beispiel aus der Feder Friedrich Rückerts:
Hast du versäumt, dein Bäumchen im zarten Alter nach deinem
Willen zu ziehn, jetzt lass das erwachsene wachsen nach seinem.
Dieses Verspaar macht gleich drei Dinge, vor denen auch hier im Lexikon ernst gewarnt wird.
(1) Zweisilbige Versfüße werden mit Pronomen besetzt: „deinem“, „seinem“. (→ Zweisilbiger Fuß)
(2) Es gibt einen Zeilensprung zwischen Pronomen und Nomen: „deinem // Willen“. (→ Zeilensprung)
(3) Die beiden Hexameter reimen. (→ Reim)
Dazu kommen Dinge, die auch nicht wirklich gerne gesehen werden, wie etwa das Verkürzen des „ziehen“ zu „ziehn“ oder Gleichklänge, sei es einer mit hässlichen Zischlauten, „lass das“, sei es das „erwachsene wachsen“. Und was ist eigentlich mit dem Satzbau? Müsste es nicht zu Anfang „Du hast“ heißen, oder, wahlweise, statt des „jetzt“ ein „dann“ stehen?!
Manche Bedenklichkeit also; und trotzdem ist das ein lebendiges und wirksames Epigramm!
Daher noch einmal, und nur mit einem einzigen, auf das Kleingedruckte verweisenden Sternchen:
Scheiß was drauf! Der einzelne Vers darf alles. *
* Solange der Bezugsrahmen nicht verlorengeht.