Die Bewegungsschule (45)

Schaut man sich Pentameter an in Hinblick auf die dritte Hebung, dann stellt man fest, sie ist in der weit überwiegenden Zahl der Fälle von einem einsilbigen Wort besetzt, meist einem Dingwort oder einem Zeitwort; je nach Verfasser und Text sind es zwischen 70% und 80% (und manche Texte liegen sogar noch darüber – Goethes „Alexis und Dora“ bringt es auf 84%!). Das verwundert nicht – neben dem „TAM“ sind alle anderen in Frage kommenden Wörter im Deutschen vergleichsweise selten: „ta TAM“ (ist die Hebung nicht einsilbig besetzt, dann so gut wie immer von der betonten Silbe eines so gebauten Worts) / „ta ta TAM“ / „TAM ta ta TAM“ …

Einen näheren Blick sind dabei die Wörter der Form „TAM ta TAM“ wert. So jedenfalls kommen sie bei den Verfassern vor, die die Senkungen entweder mit einer oder zwei unbetonten Silben besetzen – die eher am antiken Vers sich ausrichtenden Verfasser ersetzten dagegen die zwei leichten Silben durch eine schwere Silbe, wodurch man beim „TAM TAM TAM“ landet. Und das ist, verglichen mit dem üblichen Einsilber an dieser Stelle, der besagten dritten Hebung: ein himmelweiter Unterschied in der Wirkung, sowohl bezogen auf die Bewegung als auch bezogen auf den Klang!

 

Dreh in der Mondscheinsnacht ihren gesonderten Tanz!

 

– Ein Pentameter von August von Platen, der auf die erwähnte Weise gebaut ist:

Dreh in der / Mondscheins- / nacht || ihren ge- / sonderten / Tanz!

TAM ta ta / TAM TAM / TAM || TAM ta ta / TAM ta ta / TAM

Noch stärker tritt die Wirkung eines solchen „TAM TAM TAM“ hervor, wenn der Satzeinschnitt nicht mit dem Verseinschnitt zusammenfällt. Wieder Platen:

 

Starbst du, des Unglücksstamms letzter, ein Dichter und Held!

 

Der Verseinschnitt liegt hinter „-stamms“, die Satzeinschnitte aber nach „du“ und nach „letzter“:

Starbst du, des / Unglücks- stamms || letzter, ein / Dichter und / Held!

– Und das klingt dann ganz anders als der durchschnittliche Pentameter! Für diese Wirkung genügt schon ein einzelner Satzeinschnitt:

 

Welcher an Gastfreundschaft glaubte, zu töten gewagt!

 

– Auch dieser Vers stammt von Platen. Aus den drei Beispielen mitnehmen für das eigene Schaffen kann man sicher dieses: Soll ein Pentameter anders klingen als sonst üblich, ungewöhnlich; dann empfiehlt es sich, die dritte Hebung mit einer Silbe zu besetzen, die zu einem drei- oder viersilbigen Wort gehört. Besonders stark ist die Wirkung, wenn es sich um ein Wort der Form „TAM TAM TAM“ handelt; und treten dann noch Satz- und Verseinschnitt auseinander, ist von der üblichen Pentameterbewegung kaum noch etwas vernehmbar!

Pfadfinder (7)

6 – Knochenschwund

Dringlichkeitssitzung

In Sotzens Werkstatt sitzen an dem Klapptisch
Sich gegenüber: Sotz und Heinrich, stumm,
Und zwischen ihnen liegt der Wabbelfrosch,
Den sehen sie mit müden Augen an
Und wissen doch, was immer sie versuchen!
Nicht im geringsten, was geschehen ist.
Da öffnet sich die Tür. Herein kommt Liese,
Ein Radio in der Hand, das leise brabbelt.
„Die Herren sind zurück – und fragen sich,
Was mit den Knochen meines Froschs geschah!“
„Woher …“, beginnt der Doktor, aber Liese
Hebt nur das Radio; und stellt es lauter.

Die Bewegungsschule (44)

In der Wiege und im Sarg ist niemand ein großer Mann.

 

Das ist kein Vers; es ist auch kein Aphorismus. Es ist ein ganz gewöhnlicher Satz aus einem Text, den Rudolf Alexander Schröder anlässlich Friedrich Hölderlins 100. Todestag geschrieben hat, also 1943, und der in seinen „Gesammelten Werken in fünf Bänden“ (erschienen 1952 bei Suhrkamp) zu finden ist: im zweiten Band auf Seite 702.

Im Zusammenhang wirkt dieser Satz nicht sonderlich auffällig – der Text beginnt so:

Es ist eine eigentümliche Sitte, die uns den Geburtstag oder den Todestag großer Männer feiern lässt. In der Wiege und im Sarg ist niemand ein großer Mann. Aber da Seelengröße und die aus ihr geborene Leistung inkalkulable Faktoren sind und man in keinem gelebten Leben den Punkt bestimmen kann, auf dem sie am strahlendsten oder am entscheidensten hervortreten, so ist es wenigstens eine leidliche Auskunft, wenn man sich an die Grenzdaten eines für die Nation oder für die Welt wichtigen Lebens hält, um seiner feiernd zu gedenken.

Aber wer sich ein Ohr hat wachsen lassen für die  die Bewegungslinien der Sprache, dem fällt der Satz auch „im Gedränge“ auf:

In der Wiege / und im Sarg / ist niemand / ein großer Mann.

ta ta TAM ta / ta ta TAM / ta TAM ta / ta TAM ta TAM

Nach Sinneinheiten, sprich: Wortfüßen abgeteilt zeigt sich, der Satz bewegt sich recht anziehend! Er hat vier ähnliche, aber nicht gleiche Wortfüße, was den beiden Grundgrößen der gestalteten Sprache entspricht, Wiederholung und Abwandlung. Auch lautlich wirkt der Satz geschlossen. Alles in allem also doch eine Art Vers?!

Bücher zum Vers (80)

Klaus Weissenberger: Formen der Elegie von Goethe bis Celan

Erschienen 1969 bei Franke ist dieser Band – wie schon Friedrich Beissners Geschichte der Elegie – sehr lesenswert. Ganz gleich, ob es um „die Struktur des Distichons“ geht oder um Goethes „Euphrosyne“, ob abhand von Hölderlins „Archipelagus“ die Hexameter-Elegie verhandelt wird oder am Beispiel von Rilkes „achter Duineser Elegie“ die Blankvers-Elegie vorgestellt: Immer gibt es etwas Nachdenkenswertes zu erfahren, auch wenn die einzelnen Abschnitte oft nur wenige Seiten lang sind. Auch und gerade die zahlreichen Beispiele für „Elegien in freien Rhythmen“ – von Mörike, George, Trakl, Stadler, Werfel, Benn, Rilke, Krolow, Bachmann, Sachs, Celan – lassen den Begriff „Elegie“ in einem sehr umfassenden Sinn verständlich werden! Manchmal behauptet Weissenberger metrisch gesehen eigenartige Dinge, aber nicht oft; und es tut der Wirkung seines Buches auch keinen Abbruch.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (46)

Wie in (45), so auch diesmal: Ein Beispiel für „Wie man aus nichts etwas macht“. August Kopisch wählt als Gegenstand Amor und als Vorgehensweise einmal den Gegensatz, einmal die Reihung; und schon schnurrt das Gedicht los und auf sein Ende zu, nur kurz abgebremst durch eine Frage, die verhindert, dass ein zu eintönigiger Eindruck entsteht; und unaufdringlich gestaltet und geformt vom reimlosen trochäischen Vierheber.

 

An Amor

Amor, sag, wie bist du Knabe
Anders stets und doch derselbe,
Traurig heut und morgen fröhlich,
Sinnend ernst, dann leicht hinflatternd,
Erst unleidlich, dann behaglich,
Bald vertraut, bald wieder fremde,
Neckend und dann sanft und schmachtend,
Stark und wieder ganz ermattet,
Lautaufjauchzend, tot und düster,
Dumm und klug, und falsch und ehrlich –
Bist du Alles denn und Jedes,
Wunderbarer, lieblicher Knabe?
Ach, du lächelst, Schöner, Holder,
Während aus den Augen Tränen
Süßer Schmerzen niederfallen!

 

Wer mag, versuche derlei selber – aus einem kleinen Gedanken-Keim auf diese Weise ein ganzes Gedicht aufwachsen zu lassen, ist vergnügliches Tun; und wer immer mal wieder Verwendung für ein schnellgemachtes und doch vorzeigbares Gelegenheitsgedicht hat, kann auf diese Weise leicht zu einem solchen kommen.

Pfadfinder (6)

5 – Götterspeise

Knochenschwund

„Nun, es befindet sich in ihrer Hand;
Sie haben kurz zuvor den toten Frosch
Ergriffen; also muss das Wabbelding
Der Frosch sein – aber was ist ihm geschehen?!“
„Es sieht so aus“, sagt Doktor Sotz und stupst
Den Klumpen an, der wackelt, wundersam,
„Als ob bei unserm … überstürzten Aufbruch
Des Froschs Skelett zurückgeblieben ist;
Und ungestützte Biomasse – wabbelt …“
„Zurückgeblieben? Das Skelett?! Wie soll
Das gehen!“ „Keine Ahnung – lassen Sie uns
Nach Hause gehen und den Fall bedenken.“

7 – Dringlichkeitssitzung

Mit Versen erzählen!? (4)

Wie verbindet sich nun der Vers mit dem, was in (3) grundsätzliches zum Epos gesagt wurde?! Zum einen über die genannte Grundannahme, den „Rhapsoden“ und seinen mündlichen Vortrag, gerichtet an einen Kreis von Zuhörern. Dazu schrieb Hans Steckner 1927:

„Um echte epische Form zu begreifen, müssen wir uns den rhapsodischen Vortrag anschaulich vorstellen: stilisierten, musikalisch-rhythmischen, mehr oder weniger feierlichen Vortrag als eine öffentliche Angelegenheit.“

Und:

„Das strenge künstlerische Symbol dafür ist der Vers, die rhythmische Gebundenheit.“

Damit sind Vers und Epos verknüpft. Aus dieser Verbindung ergibt sich dann eine Wirkung, die sich mit dem deckt, was in (3) Schlegel über das Wesen des Epos angemerkt hat. Steckner:

„Der strengen rhythmischen – stichischen oder strophischen – Gebundenheit des Epos entspricht eine mehr oder minder förmliche Schwere, ja Schwerfälligkeit des sprachlichen Gefüges, eine mehr oder minder zeremonielle Zucht des Ausdrucks, ein klingendes festliches Pathos der Stimme, ein verhältnismäßig ausgeglichenes Tempo, eine ruhigere, harmonischere, sozusagen umständlichere Führung der inneren Linien. Das ungeheure Gleichmaß des Verses, sei es der kraftvolle Bogenschwung unzähliger Strophen, seien es die unzertrennbaren Kettenglieder der Terzine oder der ruhig rollende Wellenschlag des Hexameters, diese großartig feierliche Einförmigkeit wirkt auf den gesamten Stil und breitet sich kühlend, klärend, distanzierend, als ein ornamentaler Zwang über die Welt der epischen Stoffe.“

Kühlend, klärend, distanzierend – das scheint mir entscheidende  Wirkung des Verses in Bezug auf das Epos?! Man erinnere sich: „Das Epos ist die Darstellung des rein Objektiven“, sagte Schlegel.

Während Steckner hier einige Möglichkeiten der Versgestaltung anführt, sind die Dinge für Schlegel diesbezüglich eindeutiger. Er schreibt in „Vom Epos“:

„Das epische Silbenmaß ist der Hexameter, der durch seine gleiche Taktart der Ruhe, durch seinen zwischen Fall und Schwung gleich gemessenen Rhythmus der unbestimmten Richtung,  durch seinen unerschöpflichen Wechsel dem Umfange, und durch seine leichten und immer wieder verschiedenen Übergänge aus einem Verse in den anderen der Grenzenlosigkeit des Epos entspricht. Er ist schwebend, stetig, zwischen Verweilen und Fortschreiten gleich gewogen, und kann deswegen, ohne zu ermüden, den Hörer auf einer mittleren Höhe in ungemessene Weiten forttragen.“

Und damit sind Epos und Hexameter verknüpft …

Pfadfinder (5)

4 – Verschwinden

Götterspeise

Und zieht vorüber. Heinrich, Dr. Sotz,
Der Frosch – der Frosch als letzter in der Kette
Gerät noch in die Bahn, wird noch gestreift,
Doch in die Büsche, von der Lichtung fort,
In Zweige ohne Zahl und Nebelreste
Werfen die Drei sich, fort, nur fort, und kommen
Zur Parkbank, wo die Welt ist, wie sie ist …
Die Hände auf den Knien, außer Atem
Fragt Heinrich: „Was zum Teufel war das, Doktor?!“
Doch Sotz hält ihm die Hand hin, darauf wabbelt
Grün-Braun ein Klumpen ohne Halt und Form:
„Ja, was? Und was zum Teufel, Heinrich, ist das?!“

6 – Knochenschwund