In der Wiege und im Sarg ist niemand ein großer Mann.
Das ist kein Vers; es ist auch kein Aphorismus. Es ist ein ganz gewöhnlicher Satz aus einem Text, den Rudolf Alexander Schröder anlässlich Friedrich Hölderlins 100. Todestag geschrieben hat, also 1943, und der in seinen „Gesammelten Werken in fünf Bänden“ (erschienen 1952 bei Suhrkamp) zu finden ist: im zweiten Band auf Seite 702.
Im Zusammenhang wirkt dieser Satz nicht sonderlich auffällig – der Text beginnt so:
Es ist eine eigentümliche Sitte, die uns den Geburtstag oder den Todestag großer Männer feiern lässt. In der Wiege und im Sarg ist niemand ein großer Mann. Aber da Seelengröße und die aus ihr geborene Leistung inkalkulable Faktoren sind und man in keinem gelebten Leben den Punkt bestimmen kann, auf dem sie am strahlendsten oder am entscheidensten hervortreten, so ist es wenigstens eine leidliche Auskunft, wenn man sich an die Grenzdaten eines für die Nation oder für die Welt wichtigen Lebens hält, um seiner feiernd zu gedenken.
Aber wer sich ein Ohr hat wachsen lassen für die die Bewegungslinien der Sprache, dem fällt der Satz auch „im Gedränge“ auf:
In der Wiege / und im Sarg / ist niemand / ein großer Mann.
ta ta TAM ta / ta ta TAM / ta TAM ta / ta TAM ta TAM
Nach Sinneinheiten, sprich: Wortfüßen abgeteilt zeigt sich, der Satz bewegt sich recht anziehend! Er hat vier ähnliche, aber nicht gleiche Wortfüße, was den beiden Grundgrößen der gestalteten Sprache entspricht, Wiederholung und Abwandlung. Auch lautlich wirkt der Satz geschlossen. Alles in allem also doch eine Art Vers?!