Geschichte des deutschen Hexameters
Die Geschichte des deutschen Hexameters haben Wackernagel und Weichelt geschrieben. Die ältesten gehören dem Mittelalter an und sind den gereimten lateinischen Hexametern (leonischen Hexametern), in denen Zäsur und Versschluss reimen, nachgebildet. Sie werden zuerst in Übersetzungen aus dem Lateinischen, dann in Haushaltungsregeln, Vocabularien und dergleichen angewendet und mischen meistens lateinische Wörter unter die deutschen. Der natürliche Akzent wird beachtet, nicht aber die natürliche Quantität, trotzdem die damals noch kurzen Stammvokale die Nachbildung der antiken Kürzen in der Senkung erleichtert hätten.
Nach hundertjähriger Pause unternimmt es der Humanismus unter schwierigen Verhältnissen (die betonten Stammsilben waren inzwischen lang geworden), Hexameter nach antiken Grundsätzen, das heißt mit Berücksichtigung der natürlichen Quantität bis auf die Position und ohne Rücksicht auf den natürlichen Akzent zu bauen. Konrad Gessners schwerfällige Hexameter (1555) bestehen aus lauter Spondeen außer einem Daktylus im fünften Fuße und beobachten die Quantität bis auf die Position; Fischardts Hexameter streben nach daktylischem Rhythmus und nehmen die Quantität einmal leichter, dann wieder schwerer.
Wie früher in der lateinisch-deutschen Mischpoesie wird der Hexameter jetzt in der makaronischen Poesie verwendet. Sowohl der Grammatiker Clajus (1578) als Eisenbeck in seiner Bearbeitung des CIV. Psalms (1617) bleiben der Quantität treu und man begreift, dass die Poetiken des XVII. Jahrhunderts von solchen, den Akzent vergewaltigenden Versen nichts wissen wollten. Die Versuche blieben vereinzelt und ohne Folge: fast jeder dieser Dichter hält sich für den Erfinder der Hexameter, er weiß nichts von seinen Vorgängern.
Im opitzischen Zeitalter trat auch hier der natürliche Akzent wieder in seine Rechte; auf ihn hat zuerst Birken in seiner Rede- Bind- und Dichtkunst (1679) in der Übersetzung eines lateinischen Hexameters Rücksicht genommen. Während aber Schottel und Morhof solche Verse als Zwang wider die „Eigenschaft“ der Sprache betrachten (wobei sie offenbar an die „quantitierenden“ Versuche des XVI. Jahrhunderts denken), spotten Weise und Hunold über die mühelose Kunst solcher Verse. Erst der Hofdichter Heräus hat es gewagt, in einer Elegie auf die Geburtstagsfeier Karls VI. (1713) das antike Distichon, also zugleich den Hexameter und den Pentameter, in einer ernsten Dichtung bei feierlicher Gegelgenheit anzuwenden. Aber auch er, so gut wie Birken, Weise und Hunold, glaubt dem antiken Versmaß den Schmuck des Reimes nicht vorenthalten zu dürfen, ohne den damals noch immer eine Dichtung aufhörte, ein Gedicht zu sein.
Ungereimte Verse hat bekanntlich anfangs auch Gottsched in seiner Kritischen Dichtkunst begünstigt; unter den reimlosen Metren, die er in der zweiten Auflage (1737) zur Nachahmung empfiehlt, ist auch der Hexameter, in dem er den Eingang der Ilias übersetzt. Bald darauf ist Uz in dem Streben, die antike Quantität bis auf die Position zu beobachten, ganz unbewusst auf den Hexameter mit Auftakt geführt worden, indem er je zwei Iamben (eigentlich aufsteigende Spondeen) mit einem reinen Anapäst zweimal abwechslen ließ: das ist der erste Vers seiner Frühlingsode (Schwabes Belustigungen 1743):
Ich will, | vom Wei | ne berauscht, | die Lust | der Er | de besingen
Uz scheint gar nicht bemerkt zu haben, dass er hier einen Hexameter gebaut habe; sein Freund Gleim ist erst sechs Jahre später zufällig darauf aufmerksam geworden. Dass der uzische Vers gleich eine so starke Nachfolge fand, liegt aber nicht in seinem Zusammenhang mit dem Hexameter, sondern in seinem Zusammenhang mit dem Alexandriner begründet: man konnte ihn ebensogut als einen Alexandriner mit Anapästen im dritten und im sechsten Fuß betrachten, wie ja sogar zwischen dem echten Hexameter ohne Auftakt und dem Alexandriner Übergänge möglich sind, vergleiche den Vers aus dem Faust:
Trau nur dem | alten | Spruch und | meiner | Muhme der | Schlange
Nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis bildet also der uzische Vers den Übergang vom Alexandriner zum Hexameter. Denn an ihn knüpft, wiederum unbewusst, E. von Kleist in seinem Frühling an, dessen Hexameter mit Vorschlagsilbe mit dem uzischen Vers, wie schon die Zeitgenossen erkannt haben, so oft (ungefähr 340 mal unter 540 Versen) zusammentrifft, dass die Abhängigkeit kaum bezweifelt werden kann.
Der Hexameter mit Auftakt ist im Deutschen wegen des im Satz vorherrschenden iambischen Rhythmus viel leichter zu haben als der eigentliche Hexameter; man darf aber nicht übersehen, dass bei freiem Enjambement durch das Zusammentreffen zweier Senkungen im Versschluss und im Versanfang der sonst regelmäßig wiederkehrende zweisilbige Takt fehlt, dass also die Integrität des Verses nur durch einen Sinnabschnitt gesichert werden kann.
Ungefähr gleichzeitig mit Uz‘ Frühlingsode korrespondierten auch König und Bodmer miteinander über die Möglichkeit deutscher Hexameter. Nach Cramer hätte Klopstock bloß Gessners und Heräus‘ Versuche gekannt, als er sich, bekanntlich erst in Leipzig, also unter Gottscheds Augen, entschloss, den Messias in Hexametern zu dichten, die er immer als „das neue Sibenmaß“ bezeichnet. Klopstock hat den Verdienst, den spielenden Versuchen ein Ende gemacht und den Vers für unsere Dichtung dauernd gewonnen zu haben, indem er ihn in einem großen Werk zur Anwendung brachte.
Über den klopstockischen Vers haben Strauss, Hamel, Munker und M. Ettlinger Untersuchungen angestellt. Durch Klopstock sind auch die holprigen Zürcher Hexameter Bodmers und der übrigen Patriachadendichter angeregt; Bodmer ist auch der erste, der den Hexameter im Drama zur Anwendung gebracht hat und zwar nur einmal, in den aus Epen hervorgegangenen biblischen Schauspielen Der erkannte Josef und Der keusche Josef (1754); später (1772) ist ihm der Wiener Dramatiker Weidmann in seiner Merope mit „leichtfließenden Hexametern“ gefolgt.
Nach Klopstocks auftreten bedauerte Gottsched in den späteren Auflagen der Kritischen Dichtkunst, den Hexameter empfohlen zu haben, der bei den Deutschen so rau und hart klänge; später empfahl er wiederum den Hexameter zu reimen und er gab selbst die Probe einer Übersetzung der Aeneide in gereimten Hexametern. Die Zürcher Hexameter nahmen Lessing gegen den deutschen Hexameter überhaupt ein: er mochte dieses Versmaßes wegen die Götzische Mädcheninsel nicht leiden und spottete gelegentlich, dass ihn bei Mangel an Zeit, seine Briefe in Prosa abzufassen, zuweilen die Lust anwandle, sie in Hexametern zu schreiben.
Friedrich der Große war es, der in seiner Schrift über die deutsche Literatur die Versart der götzischen Mädcheninsel für die unserem Idiom an meisten entsprechende und namentlich dem gereimten Vers weit vorzuziehende erklärte. Sind Goethes Versuche (seit 1781) wirklich auf diese Anregung, und nicht vielmehr auf Toblers und Herders Nachbildungen von Gedichten der griechischen Anthologie zurückzuführen?
Seit Vossens Odyssee und den epischen und elegischen Dichtungen Goethes und Schillers bildet der Hexameter einen unverlierbaren Besitz unserer Dichtung, den uns weder mehr die engherzigen Anforderungen der Vertreter der strikten Observanz (Voss, A. W. Schlegel, Wolf), noch die Angriffe der Anhänger der nationalen Metrik haben entwenden können, die schon 1820 in Wachters Dialogen teutonischer Jünglinge und Jungfrauen über die „Unanwendbarkeit des Hexameters und der ihm verwandten Versarten in der deutschen Sprache“ (Jena) ihren Anfang nehmen und einem Übersetzer Homers die Nibelungenstrophe empfehlen, während acht Jahre vorher Bothe die Nibelungen in Hexameter übersetzt hatte.
Der Hexameter wird in XIX. Jahrhundert nicht bloß von Kunstdichtern wie Pyrker, Hamerling und anderen gebraucht, sondern auch von Dialektdichtern wie Hebel, Groth, Stelzhamer, Misson, Rosegger, Nagl; doch hat schon vor Klopstock auch Donalitius seine litauischen Idyllen in Hexametern gedichtet. Schon daraus ergibt sich, dass er kein unvolkstümliches Versmaß ist.
Das man Hexameter bloß nach dem Gehör, ohne Kenntnis des antiken Schemas bauen kann, dafür gibt uns Bissing im Leben der Dichterin Imhoff-Helwig ein wertvolles Zeugnis. Diese hatte in ihren Schwestern von Lesbos Hexameter geschrieben, ohne zu wissen, was ein Hexameter ist; Goethe sagte: „Ich verstehe; das Kind hat die Hexameter gemacht, wie der Rosenstock die Rosen trägt!“ Und in Bierbaums Irrgarten der Liebe (1901, S. 36) haben auch moderne Leser an Distichen, die sich in Form der vierzeiligen Strophe vorstellen, sicher keinen Anstoß genommen.