Archiv für den Monat November 2017
Ohne Titel
Schreibst du die Welt, die du siehst? Die ich sehe (und andere anders).
Erzählverse: Der Blankvers (122)
Als 1771 Johann George Scheffners „Gedichte im Geschmack des Grécourt“ erschienen, war die Aufregung groß: Nach den Maßstäben der Zeit waren sie ungemein freizügig. Was sich dann zum Beispiel so las – das Ende von „Ein lehrreicher Traum“, in dem Amor einem schlafenden Mann erscheint und ihn anspricht:
„Dies ist“, hier wies er seinen kleinen Szepter,
„Der Heber, der die wundertät’gen Säfte
Wollüstig eintrinkt, und dann aus sich spritzt;
Leg ihn nur an den Rand der Nektarschale,
Er wird sich bald mit ihr vertraut vereinigen,
Und weißer Schaum wird ihn und sie umziehn.
Füll lang, beglückter Jüngling, Chloens Becher,
Er öffne sich, wenn du dich dürstig näherst,
Wie Rosen, wenn sich West und Sonne nah’n,
Und wenn du gnung aus diesem Kelch getrunken,
Dann küss zur Stärkung Chloens vollen Busen,
Und trinke Wein aus ihrer hohlen Hand.“
Heutzutage ist die Reaktion auf derlei vielleicht etwas unaufgeregter … Betrachtet man den Vers, so fällt auf, dass der fünfte Vers ein wenig unregelmäßig ist: „vereinigen“, was man aber einfach als „verein’gen“ lesen kann oder eben mit zweisilbig besetzter Schlusssenkung. In der erweiterten Ausgabe „Gedichte nach dem Leben“ (1792) ist auch dieser Gedichtschluss erweitert:
„Dies ist“, hier wies er seinen kleinen Szepter,
„Des Allgewalt die Schäferin und Fürstin
Erkennen, und der sie oft bis zur Ohnmacht rührt,
Dies ist der Heber, dessen wundertät’ges Druckwerk
Die Menschensaat zum Mutterschoße führt.
Leg ihn nur an den Rand der Nektarquelle,
Ihr mildes Nass wird ihm die Wege glätten
Und mischt sich gern mit ihrem Lebensöl.
Füll lang und fleißig Chloens Becher,
Er öffnet sich, wenn du dich durstig näherst,
Wie Rosen, wenn sich West und Sonne nahen;
Und wenn nach manchem Meisterzug aus ihm
Ein kleiner Müdheitsschau’r dich überfällt,
Dann küss zur Stärkung Chloens Schwanenbusen,
Schlürf etwas Wein aus ihrer Hand:
Doch wenn vom Wein und diesem Stärkungskusse
Die Lust zum Trunk aus meinem Lieblingsschälchen
Nicht wiederkehrt, dann leg dich hin und – schlaf.“
Erweitert ist dabei auch die Unregelmäßigkeit – V3 und V4 sind entweder sechshebig oder haben zwei doppelt / mehrfach besetzte Senkungen, zusätzlich stellt sich ein Reim ein (V3, V5)! Sehr eigenartig … Am Ende, im viertletzten Vers, ist dann noch ein Vers zu einem Vierheber verkürzt, wobei die lange Sprechpause aber den fehlenden Versfuß halbwegs ausgleicht?!
Inhaltlich läuft der Text nicht mehr einfach aus, sondern gönnt sich noch eine kleine Pointe; das tut ihm sicher gut.
Go: Die alten Meister (74)
Der alte Meister rügt sich
Für einen großen Plan,
Denkt kleiner und genügt sich.
Erzählformen: Das Madrigal (32)
Ludwig Rellstab kennt man wahrscheinlich am besten durch sein von Franz Schubert vertontes Ständchen (dem in dieser Form schwer zu entkommen ist). Sonst kennt man nicht viel von ihm – nicht ganz zu Unrecht, wohl. „Ihr Auge“ bietet immerhin bezüglich der Form Überraschendes:
Nimm einen Strahl der Sonne,
Vom Abendstern das Licht,
Die Feuerglut des Ätna,
Die aus der Lava bricht –
Du hast, was mich erhellt
Und mich erwärmt und mich verklärt, –
Und was mein inn’res Leben
Bis in den Tod verzehrt!
Der Anfang, die ersten vier Zeilen sind eine schlichte Brunnenstrophe, und man erwartet, dass es so weitergeht; stattdessen folgt aber ein männlicher Versschluss statt eines weiblichen, und dann sogar ein Vierheber anstelle des erwarteten Dreihebers, ehe die beiden Schlussverse das Muster der Brunnenstrophe wieder aufnehmen, als wäre nichts gewesen. Gereimt wird, aber nicht viel: gerade einmal zwei Halbreime verschaffen sich Gehör. Eigenartig, aber: nicht ohne Wirkung!
Erzählformen: Das Distichon (105)
Ziemlich am Anfang von Anton Woldgans‘ „Panischer Elegie“ finden sich diese Distichen (das „Ich“ steigt an einem schönen Septembertag zum Hochwald auf):
Stille, ein Häher nur schreit, und tiefer dring‘ ich ins Dickicht:
Da, ein gefallener Stamm sperrt mir den spärlichen Weg.
Aus dem Erdreich gerissen, die Eingeweide des Wachstums
Haften mit Fasergewirr noch in der Wunde des Grunds.
Morsch ist der Riese, vom Blitze gespalten, die Stümpfe der Äste
Weißlich mit Flechte und Moos wie mit Verwesung bedeckt.
Weiter, Gerölle hinan! Und wieder gigantische Wurzeln,
Gleichend Urweltgetiers Resten, verknorrt und versteint,
Gleichend gewaltigen Knochen von sagenhaften Organen,
Fängen und Rüsseln, dereinst furchtbar mit Schuppen bewehrt.
Sehr bildsichere Verse von der Fülle, die Langversen wie Hexa- und Pentameter schlicht unverzichtbar ist! Manche Versfüße sind etwas uneben, zum Beispiel „Erdreich ge-„; aber so klangen Hexameter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eben, vom ganz klassischen Gleichmaß eines Hölderlins sind sie schon ein gutes Stück entfernt und haben einen raueren Klang.
Ohne Titel
Weiß ein Gedicht? Es weiß. Doch was (sind zwei Fragen in einer)?
Bücher zum Vers (115)
Friedrich Maurer, Hein Rupp (Hrsg.): Deutsche Wortgeschichte (2)
Dieser zweite Band der Deutschen Wortgeschichte deckt den Zeitraum „Vom Barock bis zur Gegenwart“ ab, meint bis 1974, als die neubearbeitete 3. Auflage bei de Gruyter erschienen ist. Seine 700 Seiten enthalten Unmengen an Wissenswertem – nicht nur, welchen Zeiten aufgrund welcher Vorstellungen welche Wörter wichtig waren, sondern auch, wie sich Vorstellungen und Wörter bei den einzelnen Verfassern verwirklicht haben. Dazu schärft sich der Blick für die unzähligen Bedeutungsveränderungen, die viele Wörter zum Beispiel seit Goethes Zeiten erfahren haben und ohne deren Kenntnis die Texte des „Dichterfürsten“ an manchen Stellen missverständlich sind; und auch über das Zustandekommen manch seltsamer Wortbildung wird der Leser unterrichtet. So schreibt Friedrich Kainz zum Beispiel in „Klassik und Romantik“ (S. 291-292):
Schillers Reifen zum Klassiker ist gleichfalls durch das Aufgeben der Spracheigentümlichkeiten der Geniezeit und des Sturms und Drangs – vorab der burschikosen, unflätig-zynischen Kraftwörter -gekennzeichnet, ferner durch bewusste Abkehr von schwäbischen Mundartausdrücken, dann aber auch durch Verbesserung derselben mit Hilfe hyperkorrekter (hyperhochdeutscher) Formen, wofür das auch bei Hölderlin zu findende „zernichten“ („vernichten“) und das gleichfalls bei Uhland anzutreffende „zerschieden“ („verschieden“) bekannte Beispiele sind. (…) Wenn der junge Schiller sowie sein Landsmann Uhland von „zerschiedenen Szenen“, „zerschiedenen Eigenschaften“, „zerschiedenen Edelsteinen“ sprechen, so geht das auf den Umstand zurück, dass in ihrer Mundart die Vorsilbe „zer-“ fehlt und durch „ver-“ ersetzt wird (Kleider werden „verrisse“, Töpfe „verschlage“), ebenso ist das „bezauberte Schloss“ in Schillers „Geisterseher“ eine hyperkorrekte Überkompensation seiner schwäbischen Unsicherheit in Bezug auf die Vorsilbe „ver-„; dennoch ist nicht jedes „zer-“ bei Schiller die Verschlimmbesserung eines schwäbischen „ver-„, sondern im Sinne einer perfektivierend-intensivierenden Ausdruckssteigerung direkt erstrebtes Wirkungsmittel: so etwa, wenn sich in „Wallensteins Tod“, einem Werk der Reifezeit Schillers, das Verb „zergrämen“ findet.
Aha! Das muss einem Nicht- Schwaben ja auch erst einmal jemand erklären …
Der größte Genuss und Gewinn liegt aber in den umfangreichen Beispiellisten, aus denen schöne, kluge, und durchaus heute noch brauchbare Wörter in großer Menge sich dem Leser bekanntmachen!
Bild & Wort (256)
Ohne Titel
Wo man Gedichte verwahrt? In Büchern (und kann sie vergessen).