Archiv für den Monat November 2015
Erzählformen: Das Distichon (19)
Im Sommer dieses Jahres ist bei Klöpfer & Meyer „Haydns Papagei“ erschienen, ein Gedichtband von Susanne Stephan. In dem lyriktypisch dünnen, schön gemachten und sehr lesbaren Buch findet sich auf Seite 22 „Discount“, ein Text, der zusätzlich mit der Kennzeichnung „Elegie“ versehen ist; was zumindest einen Anfangsverdacht in Bezug auf das Distichon zulässt! Und tatsächlich ist gleich der erste Vers ein schöner Hexameter:
Siebenundzwanzig wie Trakl, wie Joplin, Hendrix, verunglückt,
– Danach folgt aber kein wirklicher Pentameter, und auch die folgenden Verse erinnern eher von fern ans „elegische Maß“, bis:
…
Siebenundzwanzig, Amy, und diese gewaltige Stimme,
die mich findet und greift, Lied aus dunklem Gewölk
nahe den Instant-Suppen, dem luftdicht einzeln Foliertem,
die zu groß ist für uns, unsere Körper und treibt,
fegt hier alle und alles hinaus nur wohin aus der Halle
…
Zweieinhalb sehr saubere, sehr schöne Distichen von feiner Bewegung, nach denen der Text sich dann wieder mit Anklängen an die Bewegungswelt des Distichons begnügt. Aber auch so: Ein schönes Beispiel dafür, wie Distichen im Jahre 2015 aussehen können, und welche Wirkungen mit ihnen zu erzielen sind! („Foliertem“ steht so im Text, seltsamerweise.)
Das Königreich von Sede (78)
Schemel schaut auf seine Hände,
Schaut auf seine leeren Hände:
Keine Laute, drauf zu spielen,
Keine Schrift, darin zu lesen,
Teller nicht und Flasche nicht –
Nur die alten Narrenhände,
Blaugeädert, dürr und knochig,
Unbeschäftigt ihm im Schoß.
Schemel lächelt und erhebt sich,
Geht zum Schlosstor und durchschreitet’s,
Kommt zum Graben, wo die Frösche
Springen auf der Jagd nach Fliegen,
Nützlich sind die Glieder ihnen,
Nimmermüde Arm wie Bein …
Schemel späht nach einer Fliege,
Und, wie er’s in ferner Jugend
Gerne tat, mit beiden Händen
Unversehrt sie zu umfangen
Sucht er, und gelingt’s, zum Ohr hin
Sie zu heben, und jetzt hört er
Wütendes Gebrumm: Ich bin!
Erzählformen: Das Distichon (18)
Im zweiten Vers eines Distichons, dem Pentameter, treffen im ursprünglichen, griechischen Vers in der Mitte zwei lange Silben aufeinander. Im Deutschen werden diese beiden Silben meist durch zwei benachbarte betonte Silben nachgebildet, womit dann sehr häufig auch ein tieferer inhaltlicher Einschnitt einhergeht – eine der beiden betonten Silben gehört nach hüben, eine nach drüben:
Feuer und Nebel im Blick – Himmel und Roma vor mir!
Ein Beispiel von Wilhelm Waiblinger, aus seiner Elegie „St. Onofrio“. Einige Jahre zuvor hatte Waiblinger aber schon gezeigt, dass dieser Sinneinschnitt keineswegs Gesetz ist!
Der Geizige
Nach Lucillius Epigr. 103
Harpax verlor unlängst eine Summe Geldes im Traume;
Grimmig erwacht‘ er, und sprang auf, und erhängte sich selber.
Die beiden „langen“ (griechisch betrachtet) beziehungsweise „betonten“ (deutsch betrachtet) Silben sind „sprang“ und „auf“; aber von einem Einschnitt zwischen ihnen kann überhaupt keine Rede sein, vielmehr reißt es den Satz mit der rhythmisch nachdrücklichen Sinneinheit ◡ — —, „und sprang auf“, geradezu hinweg über die Versmitte; und der Pentameter zeigt dabei einmal eine gut zum Inhalt passende, dann aber auch eine sehr anziehende Bewegung!
Go: Die alten Meister (37)
Die alten Meister sehen,
Was ihnen nützt, voraus;
Und lassen es geschehen.
Erzählformen: Das Distichon (17)
Adolf Stahr hat selbstredend auch vorzeigbare Verse geschrieben. Seine Distichen zum Beispiel sind meistens gut lesbar! Die folgenden drei stammen aus dem „Buch der Freundschaft“ überschriebenen Teil seiner gesammelten Gedichte, der „Gelegenheitsgedichte an Personen“ enthält. „An Adolf Jerichan und Elisabeth Baumann“ richtet er dabei aus Rom folgende drei Distichen:
Was sich der Knabe geträumt im Märchentraume der Kindheit,
Was dem Jünglinge dann höher den Busen geschwellt,
Was der reisende Mann als Krone des irdischen Daseins
Oft in stillem Gebet heiß von den Göttern erfleht –
Endlich ward es gewährt: mit dürstenden Augen zu schauen
Himmel und Erde und Meer, die sich die Schönheit geweiht.
Über diese Art zu schreiben ist die Zeit hinweggegangen; aber die Sprache bewegt sich trotzdem sicher und fest im Rahmen der Verse, und das Lesen und Sprechen ist daher eine keinesfalls unangenehme Beschäftigung!
Die Vorratskammer
Adolf Stahr (1805 – 1876) war zu seiner Zeit ein auf vielen Gebieten tätiger Schriftsteller und dabei durchaus nicht erfolglos. Seine Gedichte allerdings, durch die ich mich gerade lese, sind … nicht so überzeugend. Eines schließt mit diesem Vers:
Mein Herz an dem Deinen aus Winter und Nacht
Wird da dem Herzen des / der Angeredeten bescheinigt, „aus Winter und Nacht“ zu bestehen? Das kitzelt das Ohr schon ein wenig! – Leider nicht; die gesamte zweite und letzte Strophe von „Frühlingshoffnung“ (ein Titel, der gedichtlich eher wenig Hoffnung macht) liest sich so:
Die Sonne geht unter, die Sonne geht auf
In des Daseins ewig hinkreisendem Lauf,
Durch ihre Macht
Zum Leben erwacht
Mein Herz an dem Deinen aus Winter und Nacht.
Öhöm. Aber man soll ja nichts verkommen lassen; ich nehme mir also den letzten Vers und packe ihn in meine dichterische Vorratskammer; da bleibt er liegen, bis ich bei Gelegenheit ein Cento schreibe oder einen anderen Text, in den ein solcher Vers passt – da wird er dann mit Verfasserangabe erscheinen, aber unter willentlichem Verschweigen der restlichen vier Verse …
(Für sich alleine, außerhalb des Rahmens einer Reimgedicht-Strophe: kann man diesen Vers als Vertreter der „Bewegungsschulen-Verses“ verstehen, wie ihn die hauseigene „Bewegungsschule“ nennt; außerhalb derer er allerdings als „Anapästischer Dimeter“ geführt wird.)
Erzählformen: Das Madrigal (22)
aus Friedrich Rückerts „Liedertagebüchern“ (je mehr ich in ihnen lese, desto mehr schätze ich sie), hier dem des Jahres 1855:
Gedichte dichten, die nur wieder Dichter lesen;
Kessel zu flicken, Besen
Zu binden, wäre verdienstlicher gewesen.
Hm. Zumindest das Kesselflicken und das Besenbinden sind heutzutage außer Gebrauch gekommen …
Ob meine Einordnung dieses Textes in die „Madrigal-Schublade“ wirklich zutrifft – wer weiß. Unterschiedliche Verslängen sind da, aber eben auch nur drei Verse und nur ein Reim. Dazu kommen die auflockernden doppelt besetzten Senkungen. Aber unter welchem Namen auch immer: Mir gefällt das Werklein!
Erzählformen: Das Distichon (16)
Wie bewegt sich die Sprache in einem Prosa-Text, wie in einem Vers-Text? Gut zu vergleichen ist das in Texten, die zuerst in Prosa geschrieben wurden, um anschließend „versifiziert“ zu werden! Ein Beispiel dafür gibt Friedrich Hebbel, in dessen Tagebüchern sich diese geistreiche Frage findet:
Wenn man montags grüne Blätter zu sich nimmt, dienstags Essig und mittwochs Öl: kann man dann Donnerstag sagen, man habe Salat gegessen?
Später hat Hebbel diese Frage in ein Distichon umgewandelt, das sich schließlich in seinen gesammelten Werken wiederfindet und so liest:
Rätsel
Montags verzehrt er die Blätter, und dienstags trinkt er den Essig,
Mittwochs genießt er das Öl; sagt mir nun, aß er Salat?
Die Prosa-Fassung, keine Frage: liest sich gut. In der Versfassung sind die drei Glieder der Aufzählung auf die ersten drei Halbverse verteilt, was sicher nachdrücklicher wirkt; dafür musste das eigentlich sehr wirkungsvoll eingesetzte „Donnerstag“ weichen, für das es im letzten Halbvers keinen Platz mehr gab! Der Wechsel vom „Man“ zum „Er“ und die Anspreche des Lesers / der Leser ist wirkungsvoll; auf der anderen Seite kommt das „und“ vor dem zweiten Glied der Aufzählung zu stehen (da die zweite Hälfte des Hexameters unbetont einsetzen muss) statt, wie zu erwarten wäre, vor dem dritten (wo es aber nur störte, da der Pentamter betont einsetzen muss). Dann ist da noch das etwas blasse „zu sich nehmen“ der Prosa, das in der Vers-Fassung dem Dreiklang „verzehren – trinken – genießen“ gewichen ist; was wieder für die Versfassung spricht. Tja, schwierig; aber ich finde, die Versifikation ist Hebbel gelungen und schätze das Distichon aufgrund seiner Geschlossenheit und Nachdrücklichkeit höher ein als die Prosa-Fassung dieses hübschen Gedankens …