Erzählformen: Das Distichon (18)

Im zweiten Vers eines Distichons, dem Pentameter, treffen im ursprünglichen, griechischen Vers in der Mitte zwei lange Silben aufeinander. Im Deutschen werden diese beiden Silben meist durch zwei benachbarte betonte Silben nachgebildet, womit dann sehr häufig auch ein tieferer inhaltlicher Einschnitt einhergeht – eine der beiden betonten Silben gehört nach hüben, eine nach drüben:

Feuer und Nebel im Blick – Himmel und Roma vor mir!

Ein Beispiel von Wilhelm Waiblinger, aus seiner Elegie „St. Onofrio“. Einige Jahre zuvor hatte Waiblinger aber schon gezeigt, dass dieser Sinneinschnitt keineswegs Gesetz ist!

 

Der Geizige
Nach Lucillius Epigr. 103

Harpax verlor unlängst eine Summe Geldes im Traume;
Grimmig erwacht‘ er, und sprang auf, und erhängte sich selber.

 

Die beiden „langen“ (griechisch betrachtet) beziehungsweise „betonten“ (deutsch betrachtet) Silben sind „sprang“ und „auf“; aber von einem Einschnitt zwischen ihnen kann überhaupt keine Rede sein, vielmehr reißt es den Satz mit der rhythmisch nachdrücklichen Sinneinheit ◡ — —, „und sprang auf“, geradezu hinweg über die Versmitte; und der Pentameter zeigt dabei einmal eine gut zum Inhalt passende, dann aber auch eine sehr anziehende Bewegung!

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