Erzählformen: Das Distichon (28)

Wie eine Blume der Sturm hat Kummer das Herz mir entblättert,
Und das zerriss’ne Gefühl flattert nun irrend umher.

 

Vom gestern vorgestellten Text ist dieser durch die Form geschieden: Dort vier Hexameter, hier, wie es im Distichon sein muss, ein Hexameter und ein Pentameter (und damit, unausweichlich, eine festere Struktur, ein klarer vernehmbares Ein- und Absetzen). Trotzdem denke ich, die Gemeinsamkeiten überwiegen, denn da ist einmal der Name der Verfasserin: Adele Schopenhauer, die Schwester von Adolph Schopenhauer, dem berühmten Philosophen und Verfasser der vier Hexameter; und außerdem verwenden die Texte der Geschwister beide das Bild vom „Sturm“, wenn auch auf äußerst unterschiedliche Weise! (Es ist dies das erste Distichon eines längeren Gedichts, von dem ich aber glaube, es kann sehr gut für sich allein stehen.)

Erzählverse: Der Hexameter (140)

Sonnenstrahl durch Wolken, im Sturme

O wie ruhst du im Sturme, der alles beugt und zerstreuet,
Fest, unerschüttert und still, du Strahl der erheiternden Sonne!
Lächelnd wie du, wie du mild, wie du fest und in ewiger Klarheit
Ruhet der Weise im Sturm des jammer- und angstvollen Lebens.

 

– Wer so bildgewaltig den „Weisen“ besingt, muss ein Philosoph sein? Arthur Schopenhauer hatte ganz allgemein keine besonders hohe Meinung von seinen Versen, aber diese vier Hexameter sind nicht schlecht; vor allem der dritte mit seinen deutlich heraushörbaren Wortfüßen:

— ◡ ◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ —, ◡ ◡ — ◡ ◡, — ◡

Auffällig dagegen das „Sturme“ im ersten, das „Sturm“ im letzten Vers: Ist die Nutzung der unterschiedlichen Formen jetzt ein mehr an Vielfalt oder eine Verundeutlichung?! Metrische Gründe gibt es jedenfalls nicht, an beiden Stellen sind beide Formen möglich!

Erzählverse: Der Hexameter (139)

Oskar Loerke schreibt über den Rhythmus:

Er ist mir das drängende, suchende, abenteuerwillige Element. Er misst beharrlich die Gegensätze und Abstände in All, als entspränge er im Unendlichen und stapfte an uns vorbei und durch uns hindurch wiederum dorthin; was er auf seinem Wege findet, ist ihm Muster und Anlass, – alle Pulse, Schritte, Gezeiten, kalendarischen Erscheinungen. Und er gibt sich darin hin, wünscht fürder nicht ungesellig einsam zu bleiben.

– So zu lesen in Oskar Loerke, Sämtliche Gedichte, zweiter Band, erschienen 2010 bei Wallstein, auf Seite 964. Wer so etwas schreibt, ist dem Hexameter gegenüber sicher offen?! Nun ja: von den 24 Versen seines Gedichts „Die Verbannten“ (Seite 563) ist der erste ein Hexameter, und der letzte auch; was dazwischen steht, ist aber eine bunte Ansammlung von rhythmisch mal so, mal so, immer jedoch sehr hörenswert gestalteten Langversen! Die beiden Schlussverse:

 

Die Verbannten aber streiten empor wider der Finsternis Fürsten,
Mächtig schweben sie an wie gegen den Wind das Gewitter.

 

Der vorletzte Vers ist klar zäsuriert, vorne ein wenig anapästisch, hinten klar daktylisch in der Bewegung:

◡ ◡ — ◡ — ◡ — ◡ ◡ — || — ◡ ◡ — ◡ ◡ — ◡

Der letzte Vers ist dann ein Hexameter ohne Fehl und Tadel:

— ◡ / — ◡ ◡ / — || ◡ / — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡

Beide Verse passen gut zueinander; auch, weil sie in Bezug auf die Wortfüße den vom Hexameter gesetzten Rahmen nicht verlassen!

Erzählverse: Der Blankvers (81)

Napoleon und kein Ende: Nach der Schlacht von Waterloo, siehe (80), nun „Das Grab auf Sankt Helena“, eine Reihe von Fragmenten, geschrieben von Karl Immermann. Hier der Beginn des fünften Textes:

 

Nacht war’s. Der Mond ergoss sein fahles Licht,
Und zeichnete der Küste Felsen weit
Hinaus mit Riesenschatten in die See,
Die seltsam murmelnd zu den Schatten sprach.
Ich aber schlich sacht‘ aus der Hütte, wo
Die lärmenden Genossen zechten, schlich
Zum Strande, löste meinen Nachen, sprang
Hinein mit beiden Füßen, griff zum Ruder,
Und fuhr durchs Meer, das, wie erstaunt, emporrauscht‘.
Noch klang mir der Genossen Lied im Ohr,
Noch hinkte mir der Hütte Feuer nach;
Jetzt starb das Lied im Nachtbauch. Um den Vorsprung
Der Küste fuhr ich … und das Feuer schwand:
Ich war allein!
Allein mit mir, dem Ungetüm des Abgrunds,
Dem Schrecken und dem Grausen jetzt allein.

 

Hier tragen die vielen Wiederholungen zum Gesamteindruck genauso bei wie die überwiegend männlich schließenden Verse? Eine Verkürzung wie „emporrauscht'“ (statt „emporrauschte“) scheint mir dagegen ein Schwachpunkt zu sein. Ansonsten ein Text, der wie viele Blankvers-Texte im Vortrag sehr gewinnt!

Der Gang. Die Dinge

Sicheren Schritts, so gehst du, und quert den schäumenden Bergbach
Nur ein bescheidener Steg: sicheren Schritts! (Wie es kommt.)

Erzählverse: Der iambische Trimeter (22)

Noch einmal, wie in (21), ein Text Otto Erich Hartlebens, „Matrei“:

 

Es dunkelte schon im Tal. – Das Schloss am Berge stand
gespenstisch groß im gelben Abendsonnenschein.
Doch gegenüber auf dem Friedhof, der sich rings
mit weißer Mauer um die alte Kirche schloss,
ausbreitete still sich eine blaue, kühle Luft.

Und an den Gräbern gingen wir entlang. Sie zog
den Arm aus meinem Arm. – An jedem Kreuze hing
ein rostiges Becken voller Wasser und sie stieß
ein jedes Becken leise an und goss daraus
auf jedes Grab …

Dann sah sie mich mit einem ernsten Lächeln an
und sprach: „Die Stunde ist den armen Seelen lieb.“

 

Ganz ruhige Verse, die hier einmal eine doppelt besetzte Senkung haben, dort einmal die nicht so erwünschte Mittelzäsur, zahlreiche Zeilensprünge auch; aber all das schafft nur Abwechslung, keine Beunruhigung; auch der Kurzvers nicht. Und Unruhe wäre angesichts des Inhalts auch ein falsches Mittel der Darstellung?!

Erzählverse: Der Hexameter (138)

Als Vergil seine „Eklogen“ schrieb, tat er dies (auch) mit dem Vorbild Theokrit vor Augen und dessen 200 Jahre älteren Idyllen (Theokrits „Rinderhirten“ sind Gegenstand von Der Hexameter (51)!). Viel, viel später nahm sich dann Johann Peter Hebel Vergils siebte Ekloge zum Vorbild in „Kürze und Länge des Lebens“, wie die beiden antiken Texte ein Wechselgesang zweier Hirten. Der Anfang:

 

Dumpf ertönte vom hohen Turm das Trauergeläute
und der Leichengesang erscholl zum blumigen Hügel,
wo Bathyll und Damötas, noch beide blühend dem Leben,
beide kundig des Wechselgesanges, am Abhange saßen.
Dieser schaute jenen, der diesen schweigenden Blicks an,
bis im stillen Verein, unaufgefordert vom andern,
also Bathyll begann, und also Damötas ihm folgte.

Bathyll
Kurz ist dein Leben, o Mensch. In einem Jahrhundert beginnt es,
und im nämlichen fällts. – Einst sah dort die grünende Eiche
Gustav Adolfs Heer, sieht jetzt des gallischen Cäsars
fliegende Fahnen wehn, und harrt noch auf spätes Ereignis.

Damötas
Lang ist dein Leben, o Mensch. In einem lachenden Monat
ward die Blume des Hains; der nämliche Monat begräbt sie.
Kinder des lachenden Jahrs, buntfarbige Sylphen, die Ähre
keimt schon im zarten Gras, doch seht ihr nicht mehr die Ernte.

 

Nach der Einleitung, die eine etwas eigenartige Mischung herstellt (die aus der Antike herrührenden Hirten unter „Trauergeläute“), singt jeder der beiden vier Verse, der eine über die Kürze, der andere über die Länge des Lebens; dann tritt Euphronos auf und spricht eine Art Schlusswort (selbstverständlich ein vierversiges):

 

Also sangen die Freunde. Es rauscht in dem nahen Gebüsche.
Aus dem Gebüsche trat mit heiteren Blicken Euphronos.
Lieblich, wie das Wiegen der Wipfel im Hauche des Zephyrs,
war mir euer Gesang. Ja kurz, ja lang ist das Leben.
Söhne, genießet es nur! o Söhne, nützet es weise!
Der hat lange gelebt, der froh und weise gelebt hat.

 

– Und das ist dann in seiner Lehrhaftigkeit, seinem Belehrenwollen in der Unterhaltung doch sehr deutlich Hebel, und eben nicht mehr Theokrit oder Vergil?! Jedenfalls eine bedenkenswerte Möglichkeit, Texte, die durch viele Jahrhunderte hindurch ihre Wirkung hatten, für die eigene Zeit nutzbar zu machen … Hebels Hexameter ist dabei sicher und formbewusst; viel zahlreicher als seine hochdeutschen sind aber seine Dialekt-Hexameter, wie sie sich in den „alemannischen Gedichten“ finden!