Erzählverse: Der Hexameter (117)

Unüberschaubar groß ist die Anzahl der Hexameter-Beschreibungen, die sich in den Metriken, Poetiken, ästhetischen Schriften und allgemeinen Lexika des 19. Jahrhunderts finden. Trotzdem lohnt es, sie alle anzuschauen; irgendetwas besonderes weiß jede zu berichten. Johann Samuel Erschs „Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge“ zum Beispiel sagt in Bezug auf die Zäsur des Hexameters:

Je verschiedener die Teile des Hexameters durch die Einschnitte werden, desto schöner ist die Gliederung: darum verdient bei einer Zweiteilung der männliche Einschnitt vor dem weiblichen schon deshalb den Vorzug, weil er beide Teile auch im Schlusse verschieden macht.

Das erkennt sich vermutlich leichter an einem Beispiel?! Friedrich Hölderlin, der „Meister des männlichen Einschnitts“ (er hat sie fast ausschließlich benutzt), hat in „An den Äther“ diesen Hexameter:

Aber in- / des ich hin- / auf || in die / dämmernde / Ferne mich / sehne,

v v / v v / || v v / v v / v v  / v

Rein daktylisch, und so ist gut zu erkennen: Die erste Hälfte beginnt betont und schließt betont, die zweite Hälfte beginnt unbetont und schließt unbetont! Zudem sind die beiden Teile mit sieben beziehungsweise zehn Silben auch in der Länge deutlich verschieden.

Das kann man also unterschreiben, und es wird auch durchaus häufiger angemerkt. Dann aber folgt in der „Encyclopädie“ die Ergänzung, dass die alten Griechen einen Vers mit männlicher Zäsur, der eine lange Silbe folgt, und der sonst nur daktylische Wortfüße hat, „als sehr geschickt zum Waffentanze“ betrachtet haben. Aha?!

Hebet den / flüchtigen / Fuß || nun / schwebenden / Schrittes zum / Tanze!

v v / v v / || / v v / v v  / v

So sieht das gegebene Beispiel aus. Stimmt, da ist eine ganz eigene Bewegung zu spüren?! Wobei „nun“ jetzt keine sonderlich schwere Silbe ist … Am besten selbst versuchen, erst schreiben; und dann laut sprechen!

Triffst einen Fuß du beim Tanz, sag reuigen Blickes: „Verzeihung!“

Da bewegt sich der Hexameter sicherer (und schöner!) als der Tänzer, von dem er erzählt …

Erzählverse: Der Blankvers (68)

Emanuel Geibels „Pfarrhausidyll“ ist ein Text wie viele dieses Verfassers: Sicher geschrieben und dadurch unausweichlich von einiger Wirkung. Aber eben auch ein Text, der sich kaum etwas traut, und dem vielleicht gerade deswegen das Besondere fehlt.

Geibels sichere Handhabung des Blankverses lässt sich auf jeden Fall nicht leugnen, und sich zu vergewissern, auf welche Weise er welche Wirkung erzielt: Das lohnt allemal!

 

Der Samstagabend dämmert. Draußen flockt
Der Schnee herab. Im Zimmer dunkelt’s tief,
Und nur des Ofens Flackerschein umspielt
Den großen Schreibtisch und den Bücherschatz,
Der Band an Band sich an den Wänden reiht.
In seinem Armstuhl ruht zurückgelehnt
Der junge Prädikant und übersinnt
Den Text noch einmal, den er andern Tags
Erläutern soll. Die Predigt hat er schon
Vollendet in der Früh‘, und eben jetzt
Schwebt ihm der Übergang zum Amen vor,
Der Segensspruch, mit dem er schließen will,
Wie wohl ein Gärtner den gelungnen Strauß
Zuletzt noch krönt mit einer Lilie.
Bewegt in tiefster Seele findet er
Das rechte Wort, und hoch und höher trägt
Ihn des Gedankens Adlerflug hinan:
Da tritt sein junges Weib herein mit Licht.
Doch wie sie des geliebten Mannes Stirn
Vom Strahl des Geistes überleuchtet sieht,
Erscheint er plötzlich schöner ihr wie sonst,
Voll fremder Hoheit, fast wie ein Prophet,
Und zaudernd bleibt sie auf der Schwelle stehn.

Erzählverse: Der iambische Siebenheber (4)

Starke Bande gibt es zwischen dem „iambischen Siebenheber“ und der beliebten „Chevy-Chase-Strophe“. Die sieht so aus:

x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X b

Wird diese Strophe nun nicht wie üblich und hier gezeigt kreuzgereimt – abab -, sondern nur im Halbreim xaxa, ist der Weg zum Siebenheber nicht mehr weit: Je zwei Kurz-Verse werden zu einem Lang-Vers zusammengefasst, der ehemalige Zeilenumbruch ist jetzt die Zäsur, der Reim ein Paarreim aa:

x X / x X / x X / x X || x X / x X / x X a
x X / x X / x X / x X || x X / x X / x X a

Welche Darstellung die bessere ist, muss sich von Fall zu Fall entscheiden …

Klopstock hat die Chevy-Chase-Strophe auch ganz ungereimt benutzt; Goethe ist ihm nachgefolgt in diesem kleinen Achtzeiler:

 

Monolog des Liebhabers

Was nützt die glühende Natur
Vor deinen Augen dir,
Was nützt dir das Gebildete
Der Kunst rings um dich her,
Wenn liebevolle Schöpfungskraft
Nicht deine Seele füllt,
Und in den Fingerspitzen dir
Nicht wieder bildend wird?

 

Auch das kann in iambische Siebenheber umgeformt werden:

 

Monolog des Liebhabers

Was nützt die glühende Natur vor deinen Augen dir,
Was nützt dir das Gebildete der Kunst rings um dich her,
Wenn liebevolle Schöpfungskraft nicht deine Seele füllt,
Und in den Fingerspitzen dir nicht wieder bildend wird?

 

Goethe wird mir nachsehen, wenn ich sage: Warum nicht! Je weniger sich die Reime bemerkbar machen als Kennzeichnungen der Versenden, desto leichter fließt die Sprache durch die neugebildeten Siebenheber! Allerdings müssen dann die Zäsuren aus der Satzführung erschließbar sein, da die in der strophischen Darstellung vorhandenen Zeilenumbrüche diese Aufgabe nicht mehr wahrnehmen können. Hier sind die Zäsuren, so gesehen, schwach; aber vielleicht gerade noch ausreichend vernehmbar?!

Erzählverse: Der iambische Siebenheber (3)

Friedrich von Logau war ein großartiger Epigrammtiker! Sicher, durch den zeitlichen Abstand lesen sich viele seiner Texte heute fremd, sie klingen im eigentlichen Sinne „barock“. Aber spannend sind sie trotzdem, und das nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt des Versmaßes – Logau verwendet viele, viele verschiedene Arten von Versen! Darunter auch, und nicht einmal selten: Der iambische Siebenheber.

 

Die Liebe

Was ist die Lieb‘? Es ist die Lust zu dem, das uns gefällt;
Das macht, dass mancher mit der Magd mehr als der Frau es hält.

 

Der Siebenheber hat bekanntlich eine Zäsur nach der vierten Hebung; die kommt hier nicht recht zur Geltung, da Logau die Satzeinschnitte und den Verseinschnitt auseinandertreten lässt:

Was ist / die Lieb‘? || Es ist / die Lust || zu dem, || das uns / gefällt;

Aber vorhanden ist der Verseinschnitt, das muss er als notwendiger Bestandteil des Verses; und im Vortrag hörbar gemacht werden muss er auch. Das ist gar nicht so schwierig – ein leichtes Absetzen, kürzer als bei den Satzeinschnitten, aber vernehmbar; und schon gliedert sich der Vers wie von selbst in angenehm zu sprechende Einheiten.

In zweiten Vers stellt sich die Frage, ob es nach der Zäsur eine versetzte Betonung gibt? Wenn eine solche auftaucht im Inneren eines iambischen Verses, dann fast immer nach dem Verseinschnitt!

Das macht, || dass man– / cher mit / der Magd || mehr als / der Frau / es hält.

Das passt in die Reihe der „M-Betonungen“, jedenfalls … und vom Sinn her auch. Logau lässt seine Verse eher selten langweilig „dahinklappern“ – dieses Epigramm ist ein ganz gutes Beispiel!

Bücher zum Vers (81)

Bernd Füllner / Karin Füllner (Hrsg.): Von Sommerträumen und Wintermärchen.

„Versepen im Vormärz“ lautet der Untertitel dieses Bandes, der 2007 bei Aistesis erschienen ist. Der Titel verweist stark auf Heine, der in der Tat eine wichtige Rolle spielt; aber auch Lenau, Pyrker, Byron, Puschkin, Frankl und Wieland werden von den verschiedenen Verfassern verhandelt.

Mir war Wulf Wülfings Text „Deutschunübertreffliche Gutmüthigkeit“. Zur Rhetorik von Karl Immermanns „Tulifäntchen“ am wertvollsten – es wird der Karriere des kleinen Epos‘ (das hier auch schon beim Verserzähler Erwähnung fand) als erfolgreicher Vortragstext nachgespürt und zu ergründen versucht, welche Eigenschaften ihm diesen Erfolg ermöglichen.

Das geschieht zum Beispiel beim Blick auf diese Verse des Epos, in dem ein „Künstler“ aus dem technisch fortschrittlichen England auftritt:

 

Und aus richtigem Erwägen,
Welch Unheil ein Weib oft stiftet,
So aus Fleisch und Bein gebaut ward,
Wie viel Ärger das Gesinde
Zeugt, das Mensch ist, gleich der Herrschaft,
Hatt‘ er einen Dampfbedienten
Sich gemacht, und eine Dampffrau,
Die ihm förmlich angetraut war.
Dampfbedienter, Dampfgemahlin
Taten ganz dieselben Dienste
Wie zwei Menschen simplen Schlages.

Jener Gentleman sprach denkend
Zu der dampfmaschinenschwangern
Hebel-räderträcht’gen Seele:

 

Anhand dieser Verse macht Wülfing „Neologismen“ – Dampfbedienten, Dampffrau, Dampfgemahlin – als eine kennzeichnende Eigenschaft des „Tulifäntchens“ aus. Es gibt derer noch mehrere, und es lohnt sich nicht nur darum, einmal selbst in das kleine Epos hineinzuschauen – und es, wenn möglich, einmal vorzulesen!

Dichterkniff

Schlafen willst du, da stürmt auf dich los ein Haufen Geschichten,
Mehr als gewaltigen Schwungs?! Bleib stehen, bis sie ganz nah sind,
Tritt dann zur Seite, jetzt! – und sie stolpern verwunderten Blickes
An dir vorbei; und verschwinden im Nichts.

Erzählformen: Das Distichon (15)

Darf man Verse aus längeren Texten herauslösen und als eigenständige Texte vorstellen?! Hm … Ich mache das gelegentlich; ein Beispiel ist ein Distichon aus Friedrich Hölderlins „Der Wanderer“. Von diesem längeren Gedicht gibt es zwei Fassungen, und in der ersten ist besagtes Distichon noch, na ja, unscheinbar:

 

Nichts zu erzeugen und nichts zu pflegen in sorgender Liebe,
Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehn, ist der Tod.

 

Ein wenig spannungsarm?! Ein Eindruck, der auch durch den nicht recht unterteilten Hexameter zustande kommt. In der zweiten Fassung hat Hölderlin diese Schwäche behoben!

 

Nichts zu erzeugen ist ja und nichts zu pflegen in Liebe,
Alternd im Kinde sich nicht wieder zu sehn, wie der Tod.

 

Wunderbar! Durch das Einfügen des „ist ja“ bekommt der Hexameter eine schöne Zäsur; und das ganze Verspaar eine schöne Spannung durch das Auseinanderstellen  des „ist ja … wie der Tod“. Dafür musste das „sorgender“ weichen, aber das ist ohnehin eines dieser Adjektive, die eher schaden als nutzen.

Mit dieser zweiten Fassung gewinnt das Distichon auch eigenständigen Charakter, finde ich; es wird epigrammtauglich. Epigrammtische Distichen sind im allgemeinen klarer, schärfer im Aufbau im Vergleich zu elegischen Distichen – hier ist es das elegische Distichon auch; im zweiten Versuch.

Darum, denke ich, kann es auch für sich stehen, ohne den Bezug auf den restlichen „Wanderer“. Den zu lesen aber trotzdem lohnt – es sind viele wunderbare Verse drin. Die sich herauslösen lassen; auch einzelne Hexameter aus der Distichoneinheit, zum Beispiel.

 

Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos

 

Ein herrlicher Vers auch das!