Archiv für den Monat Juni 2015
Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (8)
Carl Spittelers „Das Orakel“ erzählt so schnörkellos, wie man es von Spitteler gewohnt ist, und wirkt dabei doch unzweifelhaft „versisch“. Das liegt sicher auch an den vielen, teils (aufgrund nachfolgenden Vokals) verkürzten einsilbigen Versformen am Versbeginn, die den Satzbau verbiegen? Derlei kennt man eher aus den – kürzeren – vierhebigen Trochäen; hier tut es auch im längeren Vers seinen Dienst …
Saß am Goldfischweiher das Prinzesschen,
Schaut‘ ihr lachend Ebenbild im Spiegel,
Warf ein Ringlein in den Teich und summte:
„Holla! Wasserspiegel, Zauberspiegel,
Tu ein Zeichen, deute mir die Zukunft.“
Sieh da, aus dem blauen Wasserhimmel
Taucht‘ ein Rosenwölklein auf zur Linken;
Doch von rechts her kam ein schwarz Gewitter,
Wuchs und schwoll und fraß das Rosenwölklein.
Auf die Füße sprang das kleine Fräulein,
Rührt‘ ein Stöckchen zornig durch das Wasser,
Das den Spiegel heftige Wellen trübten,
Hüpft‘ alsdann und tanzte durch den Garten:
„Ist doch alles Trug und Teufelsblendwerk!
Ich bin jung und schön, das ist die Wahrheit.“
– Wobei diese Verbformen am Versanfang im zweiten Teil viel geringere Auswirkungen haben?! Sonst ist noch das „Sieh da“ bedenkenswert, weil es (nur) auf der ersten Silbe betont falsch klingt; und die einzige doppelt besetzte Senkung an passender Stelle, „heftige“.
Der Schlussvers ist … beachtlichen Inhalts.
Ohne Titel
Wenn Frösche, die im Wasser schwimmen, sterben
(Nicht fremdverschuldet, jemand will sie fressen,
Nein, einfach so, zack! tritt der Tod sie an):
Versinken sie, und es wird um sie dunkler,
Und ist das Wasser tief, noch immer dunkler,
Sie sinken und was dann geschieht, wer weiß?
Das Wasser, sicher; und die Dunkelheit.
Erzählverse: Der Hexameter (106)
In August von Platens gesammelten Werken findet sich der folgende, 1820 entstandene Text „Die Antiken“ unter „Gelegenheitsgedichte“:
Lasst uns ledig, und öffnet sogleich Rüstkammer und Wandschrank!
Nicht am dumpfigen Ort in Gewölben zu wohnen geziemt uns:
Denkt doch, was wir und wo wir gewesen, und schenket uns Mitleid!
Dies uralte Gefäß war einst der ägyptischen Gärten
Zier, und Kleopatra selbst ließ füllen mit Myrtengezweig es;
Dieser geschnittene Stein, ein doppeltgeschichteter Onyx,
Zierte des jungen Antinous Hand, als köstlichen Ringschmuck
Trug ihn der schöne, doch ach! zu frühe vergötterte Jüngling;
Ich, als Hermes, stand in der Halle des Caesar Augustus,
Wo mich ein Lorbeergewächs mit südlichem Duft anhauchte.
Und nun habt ihr uns hier aufeinandergehäuft und geordnet,
Eins das andre verdrängend, und dies durch jenes verdunkelt,
Keins am schicklichen Ort, in belebendem Schimmer der Sonne.
Selbst das gelehrte Gesicht des begaffenden Kenners ermüdend,
Liegen geschichtet wir hier, gleich traurigen Knochen im Beinhaus,
Und in empfänglicher Brust aufregen wir schmerzliche Sehnsucht
Nach den Tagen, in denen wir fast wie Lebendige prangten.
Zieht nicht Rosen auch ihr, frischblühende Flechte zu winden
Um den etrurischen Krug und die Scheitel der Büste von Marmor?
Habt nicht Tempel auch ihr, nicht schattige Gartenarkaden,
Dass ihr uns dorthin pflanzt, in die Nähe des ewigen Himmels,
Jedem Beschauer zur Lust, uns selbst zur süßen Gewohnheit?
Hm. Für ein „Gelegenheitsgedicht“ nicht so übel?! Schaut man sich Platens Vers an, erkennt man die üblichen Anzeichen des eher „antikisierenden“ Hexameterstils, allen voran die „geschleiften Spondäen“, die hier nicht Besonderheit sind, sondern metrischer Alltag – los geht es gleich im ersten Vers:
Lasst uns / ledig, und / öffnet so- / gleich || Rüst- / kammer und / Wandschrank!
So finden einige Wörter der Form „Rüstkammer“, die als Daktylen nicht taugen, als geschleifte Spondäen doch ihren Weg in den Text: „uralte“, „aufregen“, „frischblühende“, und sogar in Verbindung mit einem zweisilbigen fünften Fuß: „anhauchte“. Auch eine Kenngröße sind die Wörter der Form „Wandschrank“, die Platen hier ausschließlich an den Versschluss setzt: „Mitleid“, Ringschmuck“, „Beinhaus“, „Sehnsucht“.
Alles in allem eine deutliche Gestaltung, die aber im Vortrag gut hörbargemacht werden kann und so einen ausdruckstarken Text hervorbringt!
Bild & Wort (142)
Das Ein-Vers-Gedicht (17)
Zum Abschluss der kleinen Aphorismen-Reihe noch ein Blick in „Deutsche Aphorismen“, herausgegeben von Klaus von Welser und erschienen 1988 in der Serie Piper. Ein Band, der sich ganz auf die großen Namen verlässt, wie schon die Verfasser der Aphorismen auf der ersten Seite zeigen: Jean Paul, Goethe (zweimal!), Nietzsche, Lichtenberg. Dazwischen eins von Eschmann; aber das ist dann eben über Goethe …
Auch in diesem Band sind viele der Aphorismen Verse. Ich wähle statt eines Hexameters diesmal einen iambischen Siebenheber, er findet sich auf Seite 69:
Gib nichts auf keines Menschen Wort; das ist die höchste Freiheit.
– Sagt (der nicht ganz so bekannte) Wilhelm Heinse. Im Silbenbild:
Gib nichts / auf kei– / nes Men– / schen Wort; || das ist / die höch– / ste Frei– / heit.
Eine schöne Bewegung unter Einschluss des für den Siebenheber kennzeichnenden, festen Einschnitts nach der achten Silbe! Mithin: Ein Ein-Vers-Gedicht.
Das Ein-Vers-Gedicht (16)
Ein Gegenstück zum im gestrigen Beitrag vorgestellten Band, in dem Aphorismen „von heute“ versammelt sind, ist der schöne Band: „Abgerissene Einfälle. Deutsche Aphorismen des 18. Jahrhunderts“, herausgegeben von Harald Fricke und Urs Meyer, und erschienen 1998 bei Beck. Vergleicht man die Sammlungen, stellt man fest: die heutigen Aphorismen sind, verglichen mit den 200 bis 300 Jahre älteren, deutlich kürzer! Aber „unbeabsichtige Verse“, sprich: Hexameter finden sich selbstredend auch unter diesen älteren Stücken.
Mäßigkeit erleichtert die Übung der Tugend sehr merklich.
– Schreibt Johann Georg Heinzmann, und wie das Silbenbild lehrt:
Mäßig- / keit er- / leichtert || die / Übung der / Tugend sehr / merklich.
Ein metrisch einwandfreier Hexameter! Er bewegt sich vielleicht etwas einförmig; aber da sein Schöpfer vermutlich gar keinen Hexameter schreiben wollte, kann man das eigentlich weder Vers noch Verfasser zum Vorwurf machen …
Das Ein-Vers-Gedicht (15)
„Neue deutsche Aphorismen“ heißt eine Anthologie, die, herausgegeben von Tobias Grüterich, Alexander Eilers und Eva Annabelle Blume, 2010 in der Edition Azur erschienen ist (und inzwischen auch schon eine stark überarbeitete zweite Auflage erlebt hat). Eine schöne Sammlung von Aphorismen der Jetzt-Zeit, lesenswert an sich und für alle Verseschreiber, die sich gelegentlich auch als Epigrammatiker versuchen, eigentlich Pflicht!
Wobei einige der vorgestellten Aphorismen, wie könnte es anders sein, schon Verse sind – unabsichtliche, aller Wahrscheinlichkeit nach; aber Verse! Zum Beispiel dieser Aphorismus von André Brie, zu finden auf Seite 138:
Geh deinen eigenen Weg. Jeder andere führt nach Canossa.
Ein einwandfreier Hexameter …
Geh deinen / eigenen / Weg. || Jeder / andere / führt nach Ca- / nossa.
… und damit ein Ein-Vers-Gedicht!
Vom Wohlklang der Reime
Wieder ein neuer Text im Hinterzimmer des Verserzählers: Vom Wohlklang der Reime.
Er enthält einen Teil einer Reimlehre Gottfried August Bürgers. Das liest sich sicherlich alles etwas altertümlich, hat aber auch Vorteile – da spricht jemand, der auch selbst ein Dichter war, über etwas, das unverzichtbarer Bestandteil seines Dichtens war, und das gibt dem Inhalt einen ganz anderen Klang als ihn modernere Reimlehren haben, die meist etwas leb- und geistlos wirken auf mich!
Reime von einfachen oder verdoppelten gleichen Konsonanten sind in männlichen sowohl als weiblichen Wörtern wohlklingend. Zum Beispiel gab, Bad, klar, empor, Natur, Stier, Gabe, Gnade, ziere, geboren, Fluren, Stamm, Lamm, Flamme, Kette, Affe und weitere.
Von gleichem, ja vielleicht noch vorzüglicherem Wohlklang sind auch die Wörter, in denen die flüssigen Konsonanten l, m, n, r sich vor andere stellen, weil sie sich mit dem folgenden sehr leicht vermählen, und dem Wort noch mehr Metallklang geben. Zum Beispiel Wald, Gestalten, stammte, Falbe, Stunde, warb, Garben, Sturme.
Wenn die flüssigen untereinander selbst sich gatten, so entstehen dadurch die schönsten, tönendsten Reime, zum Beispiel Halme, Palme; lerne, ferne; Zorne, Dorne; Harme, erbarme; und weitere.
– Als kleiner Ausschnitt. Das kann man nun für sich selbst annehmen oder ablehnen; aber alleine über das, was einer der berühmteren Reimer deutscher Sprache über den Wohlklang von Reimen schreibt, nachgedacht zu haben, bringt die meisten heutigen Reimfreunde (vor allem die am Anfang ihrer Bemühungen) einen nicht kleinen Schritt weiter, denke ich! Und sei es nur durch die Schärfung des Bewusstseins dafür, dass Reime nicht stumm auf dem Papier stehen, sondern gesprochener Klang sind und als solcher beurteilt werden wollen (und müssen).
Ohne Titel
Sich freundlich grüßend
Wandern am Felsen vorbei:
Mondlicht und Schatten.