Vorweg

Vorworte und Vorreden von Gedichtbänden sind manchmal lesenswert und manchmal weniger lesenswert; und manchmal sogar lesenswerter als die eigentliche Gedichtsammlung …

Johann Jakob Jägle beginnt seine „Gedichte“ mit einer kurzen, gerade einmal einseitigen Vorrede, die so schließt:

Wer billig ist, legt nicht jedes Wort auf die Waage und weiß Scherz und Laune vom Ernste zu unterscheiden. Wohl gibt es Abderiten, für die keine Nieswurz wächst, und die können mich ungelesen lassen.  Gehabt euch wohl, meine lieben Leser, und ihr, furchtbare Geisel des armen Poeten, liebenswürdige Nachdrucker! nehmt gute, seltene Bücher der Vorzeit unter die Presse und lasst mir meine Arbeit ungehudelt!

Das klingt zumindest … anders?! „Abderiten“ waren der Antike das, was heute die Schildbürger sind – dumme Mensche, Narren und Schelme; Christoph Martin Wieland hat über sie seine wunderbare und sehr empfehlenswerte „Geschichte der Abderiten“ geschrieben. „Nieswurz“ galt derselben Antike als Mittel gegen alle Arten von Geisteskrankheiten. Und die etwas unerwartet auftretenden „Nachdrucker“ waren vielleicht einige Jahre aus dem Geschäft, sind aber im Zeitalter des Internets, leicht anders gewandet, vermutlich nicht weniger tätig als zu Jägles Zeiten.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (73)

Andreas Schumacher erzählt in „Der Brillenschleifer von Antwerpen“ von einem Juden, der inmitten der christlichen Festtagsstimmung des Johannistags versucht, Brillen zu verkaufen, als ihm vor der Kirche eine alte Frau begegnet:

 

„Mutter, kauft von meinen Brillen!“
Doch den Stab erhebt die Alte,
Und den eingeschrumpften Körper
Mit der Kraft nicht ihrer Jahre,
Sondern ihres Zornes streckend,
Schlägt sie mit des welken Armes
Ganzem Grimm des Juden Antlitz.
„Hast du Gott ans Kreuz geschlagen,
Und du gönnst ihm, schlechter Jude,
Nicht die Ruh‘ des heil’gen Tages?
Ahasver! Den Heiland willst du
Ruh’n nicht lassen vor dem Hause!
Steinigt den verfluchten Schacher,
Schlagt in Scherben seine Brillen,
Die, als Satanswerk, für alles
Sehend machen, nur für Gott nicht!“

 

Nun hat die Frau nicht Ahasver vor sich, und der Brillenhändler entkommt den Steinwürfen nur mit knapper Not …

Vom Vers her ist das ganze Stück ein wenig arg prosanah, der Vers als Einheit und Bezugsgröße wird nicht überall erfahrbar; aber in diesen Beispielversen dann doch, denke ich.

Erzählverse: Der Blankvers (116)

Friedrich Kind lässt seine „Sterbende Äbtissin“ eine Art Lebensbeichte ablegen vor ihren Mitschwestern. Ziemlich an deren Anfang heißt es:

 

Euch ist bekannt, dass ich von hohem Stamme
Entsprossen und der Alten einz’ge Hoffnung.
Ein Jüngling edlen Blutes, edler Sitten
Hat, eh‘ mir noch der Kindheit Lenz verblühte,
Mit heißer Glut sich liebend mir ergeben.
Als Sieger stets bei Schlachten, in den Schranken,
Legt‘ er den Preis entzückt zu meinen Füßen;
Mein Sklave war der freiste aller Ritter!
Und kaum war ich herangereift zur Jungfrau,
Kaum ahnte ich im jugendlichen Busen,
Was Blumenknospen öffnet, Nachtigallen
Befeuert zu der Sehnsucht süßen Liedern;
Da widerstand ich nicht der stillen Bitte
In Guidos Augen, nicht dem eig’nen Herzen.
Im dunklen Hain, bei ferner Blitze Leuchten,
Und fordernd sie zu Zeugen und zu Rächern,
Erwiedert‘ ich den Schwur, dass nichts uns scheide.

 

– Und man ahnt: Das geht nicht gut aus. Vom Versbau her beachtenswert ist die durchgängige Nutzung von weilblichen, also unbetonten Versschlüssen; wenn der Blankvers seinen zufälligen Wechsel von betonten und unbetonten Versschlüssen zu einer Seite hin vereinheitlicht, dass meist zu ausschließlich betonten hin; hier ist das anders und hat auch eine andere Wirkung!

Gefühlt

Künden will er vom Sturm, von den rasch sich nahenden Fluten:
Gummistiefelbewehrt tritt auf die Lippen ein Kuss.

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (9)

Otto Ludwigs Gedichte sind keine ganz große Dichtung, und seine Jugendgedichte schon gar nicht;  aber vielleicht lohnt gerade darum ein Blick auf den folgenden kleinen Vierzeiler aus dieser frühen Zeit?!

 

Der Lenz bringt neue Blumen,
Der Himmel neue Röten,
Die Fern‘ bringt neue Lüfte,
Ich bring‘ mein altes Herz.

 

Drei wie auch immer gebaute, weiblich (also unbetont) schließende Verse, denen ein vierter männlich (also betont) schließender Vers folgt – das war schon immer ein guter Bauplan für eine Strophe, oder, wie hier, einen vollständigen Text!

x X / x X / x X / x
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X

Die Endsilben der ersten drei Verse lassen die Sprache fließen und heben gleichzeitig den Versschluss heraus durch das Aufeinandertreffen zweier unbetonter Silben;  die betonte Endsilbe des letzten Verses schließt den Text kräftig und nachdrücklich.

Ansonsten ist wieder einmal hübsch zu sehen, wie wenig es im Aufbau braucht: ein wenig Aufzählung, ein wenig Gegensatz – und fertig …

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (22)

Johann Wolfgang von Goethes „Pandora“ ist eine wahre Fundgrube von Versformen. Auch der trochäische Fünfheber kommt vor, zum Beispiel, als Epimeleia Prometheus und Epimetheus erklärt, wie es zu dem Missverständnis zwischen ihr und ihrem Liebsten Phileros kommen konnte:

 

Angelehnt war ihm die Gartenpforte,
Das gesteh‘ ich, warum sollt‘ ichs leugnen?
Unheil überwältigt Scham. – Ein Hirte
Stößt die Tür an, stößt sie auf, und forschend,
Still verwegen, tritt er in den Garten,
Findet mich, die Harrende, ergreift mich,
Und im Augenblick ergreift ihn jener,
Auf dem Fuß ihm folgend. Dieser lässt mich,
Wehrt sich erst und flüchtet, bald verfolgt nun,
Ob getroffen oder nicht? Was weiß ich!
Dann auf mich gewandt, mit Schäumen, Schelten,
Dringt nun Phileros; ich stürze flüchtend
Über Blumen und Gesträuch, der Zaun hält
Mich zuletzt, doch hebet mich befitticht
Angst empor, ich bin im Freien, gleich drauf
Stürzt auch er heran; das andre wisst ihr.

 

Ein sehr lebendiger Bericht, sicher auch durch die Entscheidung, in der Gegenwart zu erzählen! Erstaunlich auch, wie klar jeder Vers als Einheit erkenn- und hörbar wird, obwohl die Sätze doch unter zahllosen Zeilensprüngen durch  die Verse fließen; kaum einmal , dass Vers und Satz zusammen schließen!

Erzählformen: Siebenzeiler (6)

Wieder einmal steht die Kanzonenform im Blickpunkt: Erster Stollen (zwei Verse), zweiter Stollen (zwei Verse), Abgesang (drei Verse); der Abgesang dabei mit neuen Reimen. Jedenfalls in den allermeisten Fällen! In Mascha Kalékos „Wiedersehen mit Berlin“ (zu finden zum Beispiel in „Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte“, erschienen bei dtv,  auf Seite 83) sind die ersten beiden Strophen siebenzeilig und nach den Kanzonengrundsätzen gebaut – bis auf die Reime, denn die sind beim Abgesang  dieselben wie in den Stollen! Die erste Strophe:

 

Berlin im März. Die erste Deutschlandreise,
Seit man vor tausend Jahren mich verbannt.
Ich seh die Stadt auf eine neue Weise,
So mit dem Fremdenführer in der Hand.
Der Himmel blaut. Die Föhren rauschen leise.
In Steglitz sprach mich gestern eine Meise
Im Schlosspark an. Die hatte mich erkannt.

 

Und es ist schon erstaunlich, wie stark dieser Verzicht auf frische Reime die Kanzonenform verwischt, fast unkenntlich werden lässt …