Wieder einmal steht die Kanzonenform im Blickpunkt: Erster Stollen (zwei Verse), zweiter Stollen (zwei Verse), Abgesang (drei Verse); der Abgesang dabei mit neuen Reimen. Jedenfalls in den allermeisten Fällen! In Mascha Kalékos „Wiedersehen mit Berlin“ (zu finden zum Beispiel in „Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte“, erschienen bei dtv, auf Seite 83) sind die ersten beiden Strophen siebenzeilig und nach den Kanzonengrundsätzen gebaut – bis auf die Reime, denn die sind beim Abgesang dieselben wie in den Stollen! Die erste Strophe:
Berlin im März. Die erste Deutschlandreise,
Seit man vor tausend Jahren mich verbannt.
Ich seh die Stadt auf eine neue Weise,
So mit dem Fremdenführer in der Hand.
Der Himmel blaut. Die Föhren rauschen leise.
In Steglitz sprach mich gestern eine Meise
Im Schlosspark an. Die hatte mich erkannt.
Und es ist schon erstaunlich, wie stark dieser Verzicht auf frische Reime die Kanzonenform verwischt, fast unkenntlich werden lässt …