Erzählformen: Das Sonett (15)

In Georg Brittings „Gedichte 1940 – 1951“, erschienen 1957 in der Nymphenburger Verlagshandlung, finden sich zu Beginn, unter „Die Begegnung“, mehrere Dutzend Sonette, die den Tod zum Inhalt haben; darunter auch „Der zarte, kleine Herr“ (Seite 21):

 

Ein Engel, flammend, sollte vor mir stehn,
Mit goldnem Schwert, mit erzgetriebnem Schild –
Mein Auge würde sich vor diesem Bild
Entsetzen, und ein Sturmwind würde wehn

Von drüben her: So malte man dich wild!
In solchem Sturme würde ich vergehn!
Nun bist du anders, und ich darf dich mild
An meinem schweißgetränkten Lager sehn.

Bist dus denn, Tod? Der zarte, kleine Herr?
Und ungepanzert? Und in deiner Stimme
Ist nichts von eines Cherubs wildem Grimme?

Ach, Schwert und Panzer wären dir zu schwer!
Und so viel Aufwand wär auch fehl am Ort:
Brauchst nicht zu schrein! Ich hör dein leises Wort!

 

Da fielen mir schon einige Dinge ein, die nicht so ganz rund scheinen? Weniger der Kreuzreim des zweiten Quartetts – das stört nicht; aber die Verse dieses Quartetts scheinen unter dem Druck der Reime nicht ganz frei, in Inhalt und Bewegung …

Aber was soll’s! Insgesamt entwickelt sich der Inhalt in Übereinstimmung mit der grundlegenden Sonett-Architektur, und das reicht allemal, um überzeugend zu wirken.

Die Silbendauer

Jacob Minor stellt in seiner „Neuhochdeutschen Metrik“ fest:

Nicht für alle, aber für die Mehrzahl der Fälle kann man darum die folgende praktische Regel bei Untersuchungen und beim Versemachen im Auge behalten. In der Hebung kommt es hauptsächlich auf die Betonung oder den Akzent an; denn mit dem Akzent ist die Länge in den meisten Fällen gegeben. Bei der Senkung dagegen kommt in den Versarten, wo kein regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung herrscht, auch die Quantität für den Rhythmus in Betracht.

Was das genau heißt und wie Minor diese Feststellung begründet, lässt sich im Hinterzimmer des Verserzählers („Gesammeltes“) nachlesen: Die Bedeutung der Quantität für den Vers.

Erzählverse: Der Hexameter (144)

In Johann Heinrich Voß‘ berühmter Übersetzung aus dem Jahre 1793 lautet der Beginn von Homers „Ilias“ so:

 

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.

 

Einen näheren Blick ist dabei der fünfte Vers wert:

Und dem Ge- / gel um- / her. || So / ward Zeus / Wille voll- / endet:

— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || — / — — / — ◡ ◡ / — ◡

Ich weiß nicht, wie gut das als Übersetzung ist, aber in Bezug auf die Versbewegung ist es auffällig: Nach schnellem Beginn eine deutliche Verlangsamung in der Versmitte, im Besonderen nach der Zäsur! Vor kurzem habe ich eine Übersetzung dieses Beginns von Friedrich von Hardenberg, sprich: Novalis gelesen, die zeigt, man kann es noch weiter treiben:

 

Göttin! Besinge den Zorn des Peleiaden Achilleus,
Ha! Des Verderbers! Der Weh den Griechen die Fülle erregte,
Und dem Ais zu früh viel Seelen der mutigsten Helden
Sendete, aber die Leichen den Hunden zur Beute, den Vögeln
Aber zum Raub hinwarf (so ging Zeus Schluss in Erfüllung),
Seit sich trennten im Hader zuerst der König der Männer,
Atreus trefflicher Spross, und der göttliche Peleiade.

 

Diese Übersetzung hat Novalis 1789 mit 18 Jahren gemacht. „Ha!“ klingt zwar schwungvoll, aber nicht wirklich homerisch, doch hört man sich den fünften Vers genauer an, stellt man Erstaunliches fest:

Aber zum / Raub hin- / warf || (so / ging Zeus‘ / Schluss in Er- / füllung),

— ◡ ◡ / — — / — || — / — — / — ◡ ◡ / — ◡

Dieser Vers schafft es, noch langsamer und getragener zu klingen als der von Voß! Was ohne Frage an dem zusätzlichen „echten“ Spondeus im zweiten Fuß liegt. Und da auch die anderen zweisilbigen Füße eine sehr schwere zweite Silbe haben, entsteht eben ein lastender Eindruck von großer Nachdrücklichkeit?!

Erzählverse: Der Hexameter (143)

Gründe, sich einzelne Verse aus Texten herauszuschreiben, gibt es viele: inhaltliche, aber auch solche des Versbaus.

 

Und der Gesang schwimmt hin in den Lärm irrplaudernder Bäche

 

Das ist ein Hexameter aus Rudolf Borchardts „Pathetischer Elegie“, von bemerkenswertem Inhalt und nicht weniger bemerkenswertem Bau:

Und der Ge- / sang schwimmt / hin || in den / Lärm irr- / plaudernder / che

— ◡ ◡ / — — / — || ◡ ◡ / — — / — ◡ ◡ / — ◡

– Die Senkungssilben in den dreisilbigen Füßen sind wirklich sehr „leicht“, die Senkungssilbe in den zweisibigen Füßen ist sehr „schwer“; der Vers bewegt sich klar und nachdrücklich! Auch die fünf Sinneinheiten (allesamt verschieden!) sind kraftvoll und gut vernehmbar:

— ◡ ◡ — | — — | ◡ ◡ — | — — ◡ ◡ | — ◡

Wobei Borchardts Verse ganz allgemein diese Kraft haben. Drei Distichen aus der Elegie als Beispiel:

 

Aber sie lebten, die so die Nacht und den Tag durch schweigen,
Und sie hatten vielleicht selber die Stimme von Zeus
Oder von Orpheus her, von dem die wehenden Bäume
Sehnsucht lernten, wie einst Tod und die Höhlen des Tods
Tief vergessend der Mund des Geheimnisvollen sie ausrief,
Als er allein dastand in der verfinsterten Welt.

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (3)

Auch in diesem Beitrag: Ein anakreontisches Gedicht. Wie auch nicht? Der Dreiheber ist vor allem und zuallererst mit dieser poetischen Richtung verbunden. Friedrich von Hagedorn stellt in „Anakreon“ ihren Begründer in den Mittelpunkt:

 

In Tejos und in Samos
Und in der Stadt Minervens
Sang ich von Wein und Liebe,
Von Rosen und vom Frühling,
Von Freundschaft und von Tänzen;
Doch höhnt ich nicht die Götter,
Auch nicht der Götter Diener,
Auch nicht der Götter Tempel,
Wie hieß ich sonst der Weise?
Ihr Dichter voller Jugend,
Wollt ihr bei froher Muße
Anakreontisch singen;
So singt von milden Reben,
Von rosenreichen Hecken,
Vom Frühling und von Tänzen,
Von Freundschaft und von Liebe;
Doch höhnet nicht der Gottheit,
Auch nicht der Gottheit Diener,
Auch nicht der Gottheit Tempel.
Verdienet, selbst im Scherzen,
Den Namen echter Weisen.

 

Das ganze Programm, ohne Furcht vor der Wiederholung, ohne Angst vor dem abgegriffenen Ausdruck; wodurch, auch heute noch, aber eher ein Eindruck von Leichtigkeit und Verspieltheit erzeugt wird, als dass so viel altbekanntes und wiederholtes langweilt.

Erzählformen: Die Chevy-Chase-Strophe (5)

Die Chevy-Chase-Strophe hat es in der deutschen Dichtung zu großer Beliebtheit gebracht. Das liegt sicher an ihren zahlreichen Vorzügen; trotzdem muss es jemanden gegeben haben, der sie eingeführt und als Beispiel vor die Verfasser und Leser gestellt hat!

Dieses Verdienst darf sich zu einem nicht geringen Teil Johann Wilhelm Ludwig Gleim zuschreiben, der die Strophe in seinen „Preussischen Kriegsliedern“ verwendtete, um die Schlachten Friedrichs des Großen zu besingen. Das „Herausfordrungslied vor der Schlacht bei Roßbach“:

 

Heraus aus deiner Wolfesgruft,
Furchtbares Heldenheer!
Heraus zum Streit in frische Luft,
Mit Mut und Schlachtgewehr!

Wir kleiner Haufe wachen schon,
Und singen Schlachtgesang,
Und wecken dich mit Kriegeston,
Mit Lärm und Waffenklang.

Was schlummerst du? Die träge Rast,
Schickt die für Helden sich?
Wenn du gerechte Sache hast,
Warum verkriechst du dich?

 

Das klingt heutzutage fremd; aber die Eignung der Strophe für dieses zupackende, aufrüttelnde „Wecken“ ist immer noch spürbar, und Gleims Zeitgenossen spürten das erst recht!

Erzählformen: Die Chevy-Chase-Strophe (4)

Zweisilbig besetzte Senkungsstellen machen sich immer bemerkbar, allerdings besonders, wenn die den Vers beginnende, erste Senkung so gestaltet ist! Theodor Fontanes „Frühling“ ist keine Ballade, nutzt aber auch die Chevy-Chase-Strophe:

 

Nun ist er endlich kommen doch
In grünem Knospenschuh;
„Er kam, er kam ja immer noch“,
Die Bäume nicken sich’s zu.

Sie konnten ihn all erwarten kaum,
Nun treiben sie Schuss auf Schuss;
Im Garten der alte Apfelbaum,
Er sträubt sich, aber er muss.

Wohl zögert auch das alte Herz
Und atmet noch nicht frei;
Es bangt und sorgt: „Es ist erst März,
Und März ist noch nicht Mai.“

O schüttle ab den schweren Traum
Und die lange Winterruh:
Es wagt es der alte Apfelbaum,
Herze, wag’s auch du.

 

Die erste Strophe ist ein wenig aufgelockert, die zweite stark, die dritte, dem zögerlichen Inhalt angemessen, gar nicht; aufschlussreich ist aber der Blick auf die vierte Strophe, deren V2 eine doppelt besetzte Eingangssenkung aufweist: „Und die“! Das sticht für’s Ohr wirklich besonders hervor?! In V4 dann noch eine seltene Abweichung: die Eingangssenkung ist überhaupt nicht besetzt, der Vers beginnt dadurch betont! Aber auch das kann man als Möglichkeit sehen, das „Abschütteln der langen Winterruh“ mit den Mitteln der Form zu verdeutlichen; als deutlichen Gegensatz zur Einförmigkeit der dritten Strophe.

Erzählformen: Die Chevy-Chase-Strophe (3)

Will man die Grundform der Strophe abwandeln, stehen die üblichen Möglichkeiten zur Verfügung, zuallererst die gelegentliche Besetzung der Senkungsstellen mit zwei unbetonten Silben. Ein Beispiel dafür ist  Moritz Graf von Strachwitz‘ „Ein anderer Orpheus“, eine etwas eigenwillige Fassung des nordischen Sagenstoffs aus Atli- bzw. Nibelungenlied!

Gudrun schlägt bei Strachwitz Gunnar die die Harfe haltenden Hände ab, ehe sie ihn in den Schlangenturm werfen lässt. Der trägt seinen Namen nicht umsonst:

 

Und aus den Ritzen rechts und links
Vorkams und krochs und quolls,
Und zischend um den Ritter rings
Zehntausendstimmig scholls.

 

– Das ist die Grundform, alle Senkungen sind einsilbig besetzt! Gudrun ruft Gunnar in seiner misslichen Lage zu:

 

„Das ist ein guter Harfner traun,
Der in des Todes Weh,
Wenn man die Finger ihm abgehaun,
Noch harft mit seiner Zeh‘!“

 

Hier ist in V3 eine Senkung mit zwei unbetonten Silben besetzt, und die Wirkung ist deutlich: Eine Auflockerung des strengen Auf und Ab, und eine Beschleunigung der Versbewegung! Gunnar nimmt den wunderlichen Ratschlag an und spielt die Harfe mit den Füßen, was dieses Ergebnis zeitigt:

 

Drei Tage erscholl der Harfe Stimm‘,
Drei Nächte stark und gut,
Und ringsum horchte trotz Hunger und Grimm
Die funkeläugige Brut.

 

– Da sind dann schon drei Verse mit solchen doppelt besetzten Senkungen versehen, in V3 stehen sogar gleich zwei davon; die Grundform ist als Bezugsgröße ein wenig verloren gegangen und teilt sich dem Hörer nur noch schwach mit. Aber in ihrer abwechslungreichen Bewegung ist die Strophe trotzdem wirksam; und wahrscheinlich auch ein Hinweis darauf, dass, sollte jemand auf den Gedanken kommen, heute noch in dieser Strophe zu schreiben, er es besser in dieser (leicht) aufgelockerten Form tut – das klappernd-eintönige Auf und Ab der strengen Alternation wirkt doch recht altbacken!