Archiv für den Monat Oktober 2015
Die Bewegungsschule (47)
In (10) habe ich vorgeschlagen, die Möglichkeiten von „Vollvers“ und „Schlussvers“ durch das Schreiben von Verspaaren auszuloten, die aus je einem dieser Verse bestehen. Es gibt dafür allerdings noch eine andere Möglichkeit – den „großen Bruder“ sozusagen, einen Langvers, zusammengesetzt aus einem Voll- und einem Schlussvers:
ta ta TAM / ta ta TAM | ta ta TAM / ta ta TAM || ta ta TAM / ta ta TAM / ta ta TAM / ta
Es gibt also eine feste Zäsur nach dem „Vollvers“, dessen ihm eigene Zäsur meist auch zumindest durch ein Wortende hörbar gemacht wird; und die ersten sechs „tata“ dürfen durch ein „TAM“ ersetzt werden, lediglich das siebte bleibt immer erhalten! Dafür kann aber das schließende „ta“ auch ein „TAM“ sein.
Schon 423 vor Christus hat Aristophanes diesen Vers in seinen „Wolken“ benutzt, und Johann Jacob Christian Donner hat ihn in seiner 1861 entstandenen Übersetzung nachgebildet:
Drum sangen sie wohl von des nassen Gewölks blitzleuchtendem grimmigen Sturmdrang,
Drum san– / gen sie wohl | von des nas– / sen Gewölks || blitzleuch– / tendem grim– /migen Sturm– / drang,
TAM TAM / ta ta TAM | ta ta TAM / ta ta TAM || TAM TAM / ta ta TAM / ta ta TAM / TAM
Wahrlich ein Langvers; und einer von starker, eindrücklicher Bewegung noch dazu! Lässt man alle „tata“ stehen und ersetzt keines von ihnen durch ein „TAM“, wird der Vers rasend schnell:
Und die rührende Kunst, die beschwatzende Kunst und den blendenden Zauber des Wortes.
Das, gar mehrere Verse nacheinander, ist schwer auszuhalten? Daher sehen die Verse in der Gruppe auch eher so aus:
Voll Andacht ziemt es zu schweigen dem Greis, und fromm dem Gebete zu lauschen.
Allherrschender Gott, unermessliche Luft, die den Erdball schwebend emporhält,
Und Äther im Glanz, und o Göttinnen hehr, ihr blitzhelldonnernden Wolken,
Steigt auf und dem sinnenden Forscher erscheint, ehrwürdige Frau’n, in den Lüften!
Wer mag, kann sich ja die entsprechenden Silbenbilder erarbeiten; insgesamt ist es ein sehr schöner Vers, den zu schreiben Spaß macht und der die Beschäftigung mit ihm allemal lohnt!
Herbst-Sestine
Das Land der Griechen mit der Seele suchend –
Ich wage es, mir diesen Vers zu borgen,
Denn es ist Herbst und einer jener Tage,
An denen ich mir selber nicht vergebe:
Ich seh ins Buch und seh des vielgeliebten
Poeten Verse – und sie sind mir fremd.
Was ist geschehn? Ein solcher Vers, mir fremd?
Das Land der Griechen mit der Seele suchend …
Wie kommt es überhaupt, dass, was wir liebten,
Uns plötzlich fremd ist? Wirkte heut verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe
Im Wissen um die Trübsal dieser Tage?
Ich les der Verse viel an diesem Tage,
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe …
Das Land der Griechen mit der Seele suchend …
So will ich gehn und mir Verstehen borgen
Bei dem geschätzten Vers für die geliebten,
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
mit Herbstgrau voll und voller trüber Tage,
Und ihr geheimer Sinn bleibt mir verborgen –
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe.
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend …
Am Ende aber tritt der Sinn zu Tage!
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen –
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.
Verborgen bleibt der Liebe Sinn Verliebten;
Ich gebe mich geschlagen und vertage
Die Sache, fremd der Welt und weitersuchend …
Neues vom Anapäst
Im „Hinterzimmer“ des Verserzählers tut sich immer mal wieder etwas; in letzter Zeit sind einige kleinere Texte hinzugekommen unter Anapästische Verse, als allerletztes eine kurze Wesensbestimmung des Anapästs von Carl Seidel, gefunden in seinem „Charinomos“ (zweiter Band, 1828). Der kann man zustimmen oder auch nicht (mir scheint sie zwar im wesentlichen richtig, aber zu einschränkend), ein hilfreicher Fingerzeig ist sie allemal!
Als einen der Beispieltexte führt Seidel, wie fast alle anderen Metriker auch, Schillers „Taucher“ an. Der schließt so:
Wohl hört man die Brandung, wohl kehrt sie zurück,
Sie verkündet der donnernde Schall;
Da bückt’s sich hinunter mit liebendem Blick;
Es kommen, es kommen die Wasser all;
Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder,
Den Jüngling bringt keines wieder.
Seidel merkt an:
Diese letzte Stanze ist wegen des hinsinkenden Rhythmus‘ der gegen das Ende hin wie ein Echo nach und nach verhallenden Anapäste, wegen der sanft ausklingenden weiblichen Reime und wegen des allmählichen Eintretens milderer Vokale und Konsonanten ein nachahmenswertes Meisterstück des Versbaus von charakteristischer Schönheit.
Und da, scheint mir, liegt er nun völlig richtig!
Bild & Wort (158)
Erzählverse: Der Hexameter (125)
Man kann den Hexameter nicht nur mit dem Pentameter wechseln lassen, wie im Distichon, sondern auch mit vielen anderen Versen. Jens Baggesen hat in seinem „An die Furien“ diesen kürzeren Vers gewählt:
X x x / X x x / X
Ein kurzer Auschnitt, ziemlich vom Anfang:
Greuel, wie nie noch ersannen Caligule, stinkende Greuel,
Denen verglichen der Rauch,
Welcher vom grausen Gelage der Anthropophagen gen Himmel
Wirbelt, Ambrosia dampft,
Rufen euch, Schwestern der Rache: Was schnarchet ihr? Reget die Flügel!
Schüttelt die Schlangen! Erwacht!
Das ist einmal ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel dieser beiden Verse; es ist aber auch (heute!) ein erheiterndes Stück Dichtung durch die Überdrehtheit, die viele von Baggesens Gedichten kennzeichnet. „Was schnarchet ihr?“ – Ich mag’s, aber eigentlich kann man Baggesen heute nicht mehr lesen. Seine „Parthenais“ ist da keine Ausnahme, aber einzelne Stellen haben wirklich Kraft und Schönheit – auf sie komme ich noch zurück!
Go: Die alten Meister (35)
Die alten Meister denken
Sehr viel, doch nie daran,
Ihr Denken einzuschränken!
Erzählverse: Der Blankvers (71)
Wilhelm Hauffs „Der Schwester Traum“ erzählt von einer Schlafenden, die in der letzten Nacht des Jahres Besuch von den Seelen der Toten erhält. Ein Ausschnitt:
Sie schlummert; und es nahen die Verlornen,
Die schönen Toten, ihrem stillen Lager,
Die Schwestern ihrer Jugend stehen auf
Von einer Welt, wo keine Blüte stirbt.
Erkennst du sie? Du siehst sie nimmer wieder
Als blühende, als irdische Gestalten;
Nicht wie sie Blumen pflückten, Kränze banden,
Nicht wie sie um den trauten Winterherd
Die schaurig-schönen Märchen dir erzählten,
Nicht wie du ihnen unter Lust und Scherz
Zum Maienfest die schönen Haare flochtest –
Dies alles blieb in ihrem frühen Grab.
Sie nahen dir mit geisterhaftem Schimmer,
Umstrahlt von heil’gem, überird’schem Glanz.
Doch, sind die Blütenkränze abgestreift,
Ist ihrer Jugend Schmuck im Sarg zerfallen,
Sie bringen doch die alte Liebe mit,
Und sanfter als in ihrer Erdenschöne,
Und weich und zärtlich wie der Lampe Licht,
Das deine milden Züge still umschwebt,
Sind sie genaht, und deinem geist’gen Blick
Begegnen grüßend ihre lichten Augen,
Von Strahlen der Unsterblichkeit gefüllt.
Mir scheint, hier finden Satz und Vers sehr schön zusammen – die Erzählung enfaltet sich angenehm unaufgeregt und doch so abwechslungsreich, dass die Aufmerksamkeit des Lesers nie verloren zu gehen droht?!
Ohne Worte
In jedem Menschen steckt
Ein Widerspruch,
Der sagt, wird er geweckt:
Es ist genug.
Erzählverse: Der Hexameter (124)
Die Ilias-Übersetzung von Johann Heinrich Voß ist mir noch immer die liebste. Nicht durchgängig, und nicht an allen Stellen; aber über den gesamten Text gesehen ganz sicher. Im fünften Gesang, 855-863, begegnet Diomedes dem Gott Ares, kann ihn aber mit gleichfalls göttlicher Hilfe von Athene verwunden – Ares wirft die Lanze, Athene wehrt sie ab, Diomedes wirft im Gegenzug, Athene lenkt die Lanze ins Ziel:
Jetzo erhub sich auch jener, der Rufer im Streit Diomedes,
Mit erzblinkender Lanz, und es drängte sie Pallas Athene
Gegen die Weiche des Bauchs, wo die eherne Binde sich anschloss;
Dorthin traf und zerriss ihm die schöne Haut Diomedes,
Zog dann die Lanze zurück. Da brüllte der eherne Ares,
Wie wenn zugleich neuntausend daherschrien, ja zehntausend
Rüstige Männer im Streit, zu schrecklichem Kampf sich begegnend.
Rings nun erbebte das Volk der Troer umher und Achaier,
Voll von Angst; so brüllte der rastlos wütende Ares.
Rudolf Alexander Schröder hat viel später 859-861 so übersetzt (zu finden in der Suhrkamp-Ausgabe von 1952, Seite 133):
Gleich aber zog er ihn wieder heraus. – Der eherne Ares
Schrie, Neuntausenden gleich, Zehntausenden, wenn sie mit Schlachtruf
Gegeneinander zum Streit aufstehn, vom Ares befeuert.
„Ihn“ – Schröder hat „Speer“, nicht „Lanze“ wie Voß. Nun weiß ich nicht wirklich, welche Fassung im Sinne einer gelungenen Homer-Übersetzung die bessere ist; Aber das „Schrie“ in den neuen Vers zu ziehen, hat einige Wirkung (das ein Wortfuß aus einer Einzellänge hier sehr auffällt, wusste aber auch Voß schon!), und die beiden — — ◡ ◡, sprich: die beiden „Ioniker a maiore“ „Neuntausenden“, der noch ein wenig verundeutlicht durch das „gleich“, und, reinen Klangs: „Zehntausenden“ klingen sehr beeindruckend!
An dieser Stelle also: Vorteil Schröder! Für den gesamten Ausschnitt gilt aber, was für die ganze Ilias gilt: Voß macht es besser.