Die Bedeutung der Quantität für den Vers
aus: Jacob Minor, Neuhochdeutsche Metrik, Straßburg 1902 (leicht gekürzt).
Wenn nun aber Taktdauer und Akzent überhaupt die Stützen des Rhythmus sind, so liegt es in der Natur der Sache, dass dort, wo die eine von diesen beiden Stützen schwächer wird, die andere um so mehr Bedeutung gewinnt. Wechseln betonte und unbetonte Silben gleichmäßig miteinander ab, so ruht der Rhythmus sicher auf dem Akzent; die Quantität tritt dagegen zurück. Ist der Wechsel aber kein regelmäßiger, so wird nur dann der Rhythmus aufrechterhalten bleiben, wenn die betonten Silben wenigstens in annährend gleichen Zwischenräumen wiederkehren; hier kommt also die Taktdauer zu ihrem Recht.
Bei den Versarten mit regelmäßigem Wechsel von Hebung und Senkung (also bei den rein trochäischen, jambischen, daktylischen und anapästischen Versen) kommt die Taktdauer als solche nicht weiter in Betracht. Eine größere Differenz kann sich ohnedies nicht ergeben, weil die gleiche Silbenzahl jede auffallende Verletzung fernhält. Die Unterschiede zwischen zwei langen Silben und zwischen einer Länge und Kürze fallen hier nicht ins Gewicht, selbst die Griechen mischen Spondeen unter Trochäen und Jamben. Kein neuerer Dichter nimmt im Prinzip Anstoß daran, Spondeen oder Pyrrhichien in Jamben oder Trochäen zu mischen. In dem Vers der Jahr|hundert|e ge|sehen steht der dritte Takt an Dauer hinter den übrigen gewiss bedeutend zurück und doch fühlen wir keine Störung des Rhythmus und kein vortragender Künstler wird sich veranlasst sehen, den Takt zu dehnen, um ihn den übrigen gleich zu machen.
Wo dagegen regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung fehlt, also beim Wechsel zweisilbiger und dreisilbiger Füße, beim Zusammentreffen zweier Hebungen in den antiken Strophen, im altdeutschen Vers, in Knittelversen, in den sogenannten freien Rhythmen, da kommt die Taktdauer mehr in Betracht und die Taktgleichheit wird wenigstens annährend angestrebt. Hier können ja vier- und mehrsilbige Takte, zum Beispiel ein Takt Ruh mit einem andern Holzklotzpflock wechseln, eine Verletzung der Taktdauer, die auch dem stumpfsten Ohr auffallen müsste; hier wäre der Rhythmus ohne Berücksichtigung der Quantität einfach dem Verfall preisgegeben. Darum haben nicht bloß die Verskünstler, sondern auch unsere großen Dichter im Hexameter die Silbendauer mehr oder weniger immer in Acht genommen, die sie in iambischen Versen ungescheut vernachlässigten. Völlige Taktgleichheit im objektiven Sinn zu erreichen war nicht ihre Pflicht; wenn nur unsere subjektive Empfindlichkeit für die Taktdauer nicht zu sehr verletzt, das Zuviel hindangehalten wird.
Auch der Vortrag strebt bei solchen Versen deutlich dahin, der Taktgleichheit näher zu kommen: wir sprechen in dem Vers habe nun, | ach, | Philoso|phie die dreisilbigen Takte so rasch und wir halten die einsilbigen mit ihren Pausen so genau ein, dass fast Taktgleichheit entsteht. Unser Gefühl verlangt auch beim Hexameter ein genaueres Einhalten der Taktdauer, und während wir bei trochäischen oder jambischen Versen gar kein Bedürfnis fühlen, nachzuhelfen, suchen wir den Unterschied zwischen den Trochäen und Daktylen im Hexameter unwillkürlich auszugleichen; wir dehen das rötlich im ersten Vers des Spaziergangs und wir lesen in dem Hexameter Goethes Silber|grau be|zeichnet dir | heute der | Schnee nun den | Gipfel die ersten beiden Takte nicht bloß nachdrücklich, sondern auch langsam und machen nach -grau eine kleine Pause, welche die Taktdauer fast genau herstellt.
Damit sind nun wohl die Anforderungen, die der Vers in Bezug auf die Taktdauer an den Dichter stellt, aber nicht die Bedeutung der natürlichen Prosodie für den Vers erschöpft. Denn diese ist wohl in der Theorie, aber nicht in der Natur von dem Akzent zu trennen und es besteht zwischen beiden eine Art von Wechselverhältnis. Einerseits ist die Quantität im Neuhochdeutschen eine Wirkung des Akzents, durch den die Stammsilben zu Längen wurden; andererseits ist aber auch der Akzent von der Quantität abhängig. Der Akzent ist seiner Natur nach relativ; und er tritt um so deutlicher heraus, je mehr die betonte Silbe ihren Nachbarsilben an Lautgehalt überlegen ist. Ein langer Vokal oder eine starke Konsonantenhäufung in der Nähe einer betonten Silbe erfordert zu ihrer Aussprache eine größere Kraft als eine ganz kurze Silbe; und sie entziehen daher dem Akzent der betonten Silbe an Kraft. Eine langsilbige oder mit Konsonanten belastete Senkung schädigt also den Rhythmus nicht bloß direkt, weil sie die Taktdauer verlängert, sondern auch indirekt, weil sie die Kraft der Hebung abschwächt. Heben ist, ganz abgesehen von der Quantität, ein rhythmisch brauchbareres Wort als furchtbar; Holzklotzpflock ist allerdings zunächst der Quantität wegen im Hexameter unmöglich, aber es ist auch sonst ein wenig rhythmisches Wort, weil der Akzent unter dem Druck der schweren nachfolgenden Silben auf der ersten zu wenig heraustritt. Die Quantität hat also nicht nur für die Taktdauer eine Bedeutung, sondern auch für das Verhältnis von Hebung und Senkung zueinander. Von dieser Seite spielt sie, indirekt, auch in den Versmaßen mit gleichmäßig wechselnder Hebung und Senkung eine Rolle: massenhafte Spondeen in jambischen Versen werden zwar nicht von Seite der Taktdauer schaden, aber sie werden den Gang des Verses schwer und träge machen, weil der Akzent weit weniger entschieden ist und nur mit einer gewissen Schwerfälligkeit heraustritt.
Nicht für alle, aber für die Mehrzahl der Fälle kann man darum die folgende praktische Regel bei Untersuchungen und beim Versemachen im Auge behalten. In der Hebung kommt es hauptsächlich auf die Betonung oder den Akzent an; denn mit dem Akzent ist die Länge in den meisten Fällen gegeben. Bei der Senkung dagegen kommt in den Versarten, wo kein regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung herrscht, auch die Quantität für den Rhythmus in Betracht.